Ein Kommentar zum ESC 2016

Dieser Moment wird Folgen haben.

Pop sei immer politisch, lernte ich in jungen Jahren. Als irgendwann niemand mehr die Charts hören wollte, war es eben der Pop der coolen kleinen Bands und die Politik der Uni Seminare über Pop – und die Wirksamkeit des Politischen war dessen Behauptung, ein schlechtes Gewissen bei diesen oder jenen Lebensentscheidungen, Hood Politics oder einfach eine verblassende Hoffnung.

Gestern war Pop so politisch, dass mir der Atem stockte. Wollen wir die abgezockte Show des Nichts oder wollen wir reden? Wollen wir erinnern? Vielleicht war es gar kein Zufall, dass sich ein risikoreiches, lebendiges Stück voll interessanter Klänge und mit der Sensation einer Opernsängerin mit wirklicher Soulstimme gegen die Hoffnung durchsetzte, ein paar optische Tricks würden schon über die kalte Einfallslosigkeit einer standardisierten Erfolgsproduktion hinwegtäuschen. Offenbaren – vielleicht kann das Pop doch.

Die Rede ist von “1944”, einem Lied über die Vertreibung und Ermordung der Krim Tataren im Jahre 1944. Ihre Deportation wurde unter Stalin mit dem verkürzenden, ja nicht selten komplett unzutreffenden Verweis, die Tartaren wären überzeugte Nazi-Kollaborateure gewesen, gerechtfertigt (tatsächlich wurde den Krim Tataren zuvor noch im Dienste der Roten Armee höchste Auszeichnungen verliehen). Die Perspektive war persönlich, erzählt wurde das Leiden der Großmutter – und dies war wohl das Hauptargument, den Song im als unpolitisch deklarierten Wettbewerb zuzulassen.

Der Grand Prix aka Eurovision Song Contest hatte allerdings immer schon Momente des Risikos, der Konfrontation und Befreiung. Etwa bei ABBA, Dana International, Conchita Wurst und einigen mehr. Natürlich war Nicoles „Ein bisschen Frieden“ politisch und verwies auf die tatsächliche europaweite Bedeutung der Friedensbewegung hin. Toto Cutugno forderte 1990 gar „Unite Europe“ – was damals nach einem Satz aus einer Sonntagsrede klang, wäre heute längst wieder brisantes Statement. Da, wo neue Möglichkeiten eingefordert (oder wie im Falle von ABBA einfach manifestiert) wurden, ist Pop stets politisch.

Doch diese Dramatik gestern verstörte, wie Pop es nur in seinen besten Momenten kann. Indem am Ende just noch die beiden Beiträge aus der Ukraine und Russland auf das Zuschauervoting warteten, kam es zu einer Zuspitzung, der nichts unterhaltendes mehr anhaftete. Plötzlich ging es um Reden oder Schweigen. Wie war das mit der Freiheit in der Kunst?

Als Jamala am Ende nochmals auf die Bühne kam, um ihr Lied zu singen, nun weniger verzweifelt, als bei ihrem ersten Vortrag, sondern für einen Moment wirklich befreit, hätte nichts anderes außer der Musik diesen Zustand fassen können.

Dieser Moment wird Folgen haben.

 

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