Berlinale Streifzug 2018 Teil 1: „Isle of Dogs“, „Damsel“, "Black 47", „Transit", "Eva"...

Psychotische Trips, faszinierende Ambivalenz und eine Hungersnot in England

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“Black 47”, Wettbewerb 2018, IRL/LUX 2018, von: Lance Daly, Foto: James Frecheville

Wenn man von Köln aus die Berlinale besucht, dann hat man entweder gerade den Irrsinn des Karnevals hinter sich, oder fährt darauf zu, je nach kalendarischer Konstellation. In jedem Fall ist der Februar ein Double Feature mit zwei gut einwöchigen Filmen, die nun gar nicht zusammen passen wollen.

Dass die Filme nicht unbedingt zusammenpassen, gilt für ein fast 400 Filme umfassendes Festival wie die Berlinale natürlich per se: Was man hier im extremen Fall im Zweistundentakt vor Augen hat, katapultiert einen durch Raum und Zeit und natürlich auch durch die unterschiedlichsten sozialen Schichten, durch alle möglichen Gattungen und Genres.

Traditionell verpasse ich den Eröffnungsfilm, der in diesem Jahr mit „Isle of Dogs“ (nach „Der phantastische Mr. Fox“ ein zweiter Puppenfilm des Ausstattungsfilmers Wes Anderson) beim Publikum deutlich besser ankommt als die Eröffnungsfilme der vergangenen Jahre. Und dank prominenter Stimmenvergabe an die Puppen kann Festival-Chef Dieter Kosslick gleich am ersten Abend eine exquisite Promientenschar von Bill Murray über Greta Gerwig zu Tilda Swinton begrüssen.

Am Freitag geht es dann Punkt 9 Uhr am Morgen mit der ersten Wettbewerbs-Pressevorführung los: „Las herederas“ erzählt die Geschichte zweier älterer Frauen. Die Leidenschaft und vielleicht auch die Liebe sind längst verflogen, Chela hat sogar jegliche Lebenslust begraben, das Haus verlässt sie kaum noch. Geldsorgen dominieren ihren Alltag. Sie muss alte Familienstücke verscherbeln, Chiquita wird sogar Betrug vorgeworfen, und muss deswegen in Untersuchungshaft. Das nötigt Chela dazu, wieder aktiv ins Leben einzutreten. Durch Zufall wird sie mit ihrem alten Benz mehr und mehr zum Taxiunternehmen und lernt neue Menschen kennen – darunter die jüngere, lebensfrohe Angy. Den in der abgehalfterten Oberschicht Paraguays angesiedelte Film hat Marcelo Martinessi sehr ruhig und intim inszeniert, die Kamera tastet behutsam die emotionalen Regungen der Protagonistinnen ab.

Mit „Damsel“ von David Zellner kehrt wieder Prominenz auf die Leinwand: Die Zellner Brothers, Regisseur und Darsteller David und der Drehbuchautor und Produzent Nathan waren mit „Kumiko, the Treasure Hunter“ und „Kid-Thing“ in den letzten Jahren schon mehrfach auf der Berlinale vertreten. Nun haben sie erstmals einen Film im Wettbewerb, und das könnte durchaus mit ihren prominenten Hauptdarstellern Robert Pattinson und Mia Wasikowska zusammenhängen. Leider können die Brüder gerade jetzt im Rampenlicht ihre Qualitäten nicht ganz ausspielen. Ihre Western-Komödie ist mit gegen den Strich gebürsteten Genderzuschreibungen zwar gutgemeint, aber über weite Strecken recht lahm – sowohl im Witz als auch insgesamt in der Inszenierung. Und gut gemeint ist bekanntlich noch lange nicht gut.

„Black 47“, der dritte Wettbewerbsbeitrag an diesem Tag (der allerdings außer Konkurrenz im Programm läuft), erzählt von einer Hungersnot im von England okkupierten Irland im 19. Jahrhundert und damit wahrscheinlich vom Keim des Nord-Irland-Konflikts. Zuweilen begeistert Lance Dalys Film mit seiner erbarmungslosen Schilderung der Armut unter der Landbevölkerung, gefilmt in fast entsättigten Farben. Dann wirkt der Film wieder wie standardisierte Fernsehunterhaltung, und schließlich läuft alles auf ein Rambo-mäßiges „Ex-Soldat wütet durch die britische Exekutive“-Gemetzel hinaus.

Die einstündige Straßenkreuzungs-Meditation „Interchange“ bietet danach vor allem Gelegenheit, den müden Augen einmal etwas Ruhe zu gönnen, bevor der Tag mit dem marokkanischen Drama „Apatride“ von Narjiss Nejjar (Forum) schließt. Henias Familie wurde im Zuge des Westsahara-Konflikts im Jahr 1975 von Algerien nach Marokko zwangsausgewiesen. Eine wenig erzählte Geschichte, in der rund 350.000 Algerier vertrieben wurden. Ihre Mutter hat Henia nie wieder gesehen, ihr Vater ist längst vor Gram gestorben. Nun versucht sie endlich, ihre Heimat – sprich: ihre Mutter – wiederzufinden, und ist dabei bloß Spielball der Bürokratie und vor allem der Männer in dieser Gesellschaft. Die lichtdurchfluteten, von Unschärfe geprägten Bilder sind fast zu schön für das Thema.

Am Samstag ist mit „Transit“ von Christian Petzold der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag zu sehen: Die an Anna Sehgers gleichnamigen Roman angelehnte Erzählung spielt im Marseille des zweiten Weltkriegs, von wo aus zahlreiche deutsche Flüchtlinge versuchen, in die USA oder nach Mexiko zu gelangen. Während sich die Story tatsächlich auf die Ereignisse in den vierziger Jahren bezieht, ist das Marseille im Film jener der Gegenwart – mit Autos, Kleidung und Architektur der Gegenwart – nur die Hauptfiguren und ihre direkte Umgebung scheinen auf die Vergangenheit zu verweisen. Durch diese faszinierende Ambivalenz ist das Thema der Flucht, des Wartens, des Verlassens auch durch alle Zeitebenen offen und verweist natürlich auch auf die Gegenwart. Der notorisch präsente Franz Rogowski zeigt wieder alle seine Fähigkeiten, durch wenig Mittel viel Ausdruck zu erreichen. Auf die Frage an Petzold, ob seine zweite Hauptdarstellerin Paula Beer seine neue Nina Hoss sei, antwortete er jüngst: Franz Rogowski sei seine neue Nina Hoss!

 

Isabelle Huppert spielt in dem nächsten Wettbewerbsbeitrag „Eva“ von Benoit Jacquot einmal mehr die kühle, dominante Dame, und man fühlt sich nicht nur einmal an ihren jüngsten Film „Elle“ von Paul Verhoeven erinnert. Doch dieses zunehmend düstere Boulevardspiel um einen Mann, dessen Begierde ihn langsam aber sicher in den Abgrund reißt, hat wenig mehr zu bieten als den gerade getippten Oneliner.

„Mariphasa“ von Sandro Aguilar (Forum) ist ein dunkles, kaltes, feuchtes Etwas von Film, das Männer zeigt, die irgendwie gewalttätig oder vereist oder beides sind (sie demolieren Autos in windigen Lagerhallen oder misshandeln Hunde), das irgendwie an russische Filme der 70er und 80er Jahre erinnert, aber so wenig narrative Anhaltspunkte gibt, dass man kaum mehr sagen kann, als dass dieses beklemmende Szenario wahrscheinlich auch wieder mit dem wirtschaftlichen Niedergang Portugals zusammenhängt.

Große Hoffnungen konnte mit dem neuen Film von Josephine Decker verbinden. Vor vier Jahren hatte sie hier zeitgleich ihre beiden Debütfilme „Thou wast mild and lovely“ und „Butter and the latch“ gezeigt. Auch mit ihrem dritten Film ist sie wieder hier: „Madeleine‘s Madeleine“ zeigt ein 16-jähriges Mädchen mit psychischen Störungen, das versucht, sich vom Einfluss ihrer Mutter zu lösen und in einem Improvisationstheater auflebt. Sowohl die Bild- als auch die Tonebene sind so vielschichtig und von Überlagerungen und Verzerrungen durchzogen, dass der Film wie ein langer psychotischer Trip wirkt. Die Künstlerin und Regisseurin Miranda July spielt Madeleines Mutter, aber vor allem die junge Hauptdarstellerin Helena Howard überstrahlt den Film.

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