Record of the Week

„Falscher Ort Falsche Zeit – Power Pop & Mod Sounds“

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Various Artists
„Falscher Ort Falsche Zeit – 
Power Pop & Mod Sounds from Germany, Austria & Switzerland 1980 – 1990“
(Tapete)

Schon ulkig, wenn die erste Besprechung im neuen Jahr von einer Compilation mit lauter ollem Zeug handelt – aber was für tollem, ollem Zeug! Normalerweise darf man sich getrost abwenden, wenn das Label damit wirbt, dass „nur Hits“ auf dem Album seien. Die Tapete-Leute haben den Mund mit dieser Formulierung jedoch nicht zu voll genommen, denn auf dem „Power Pop & Mod Sounds“-Sampler ist tatsächlich kein Hänger drauf – zusätzlich vorausgeschickt, dass es hier um Mod Sounds aus D-A-CH geht, nicht gerade Garanten für Coolness und scharfe Bügelfalten. Mein Erstkontakt mit sogenannter Mod-Music war dieses Stück hier, „Time For Action“ von Secret Affair aus dem Jahr 1979:

Der hibbelig-hektische Song befand sich auf meiner heißgeliebten Arcade-Langspielplatte, die den Titel von Secret Affair übernommen hatte – diese Compilation prägte mein späteres musikalisches Empfinden sehr (und mein Faible für Sampler allgemein) und wäre eine meiner drei Platten „für die Insel“, falls mich jemand sowas fragen würde. „Time For Action“ beeindruckte mich schon als junge Hörerin durch Tempo und Unbedingtheit – hier sollte was passieren und zwar SOFORT! Einen ähnlichen Eindruck vermittelte der Film „Quadrophenia“, in dem zwar Sting mitspielt, den ich aber trotzdem noch gern gucke. Mein Lieblingslied aus dem Film: „I Am the Sea“ von The Who. Klarer Fall: Alles, was mit Mods (Musik, Style, Drogen) zu tun hat, kommt aus England – dachte ich lange Zeit, bis die Mobylettes und Family Five an meinem Horizont auftauchten und später natürlich Superpunk.

Auf „Falscher Ort…“ sind die Mobylettes und Family Five auch drauf, dazu jede Menge Bands, die aufgrund von Kurzlebigkeit und/oder gesellschaftlicher Ignoranz in der Rumpelkammer der Popgeschichte landeten, bis Tapete sie dort wieder rausholte. Ob das Etikett „Mod“ für alle Bands taugt, sei mal dahingestellt – aber es steht ja auch „Power Pop“ auf dem Cover, was den Rahmen etwas erweitert. Der Zeitraum ist mit 1980 – 1990 angegeben, was in der Popmusik ja eine enorm lange Spanne ist. Was dennoch alle Songs eint, ist die entschiedene Unentschiedenheit, das herzliche, speed-getriebene fuck you! an alle Stilgrenzen. Spielen wir Punk, Beat, Soul, Ska, New Wave, Pop? Egal, Hauptsache schnell und mit Nachdruck. Besonders schnell und nachdrücklich: „Voran! Voran!“ von den S-Chords, mein Favorit. Es geht eh‘ um Wichtigeres als die eine, reine Lehre: Um Aufbruch, Liebe, Sommer, Klamotten, Frisuren, Ausgehen nämlich. Oder schlicht um ALLES, wie bei Der Böse Bub Eugen. Und um Werner Enke, der ein bedeutender Filmstar der Modszene sein muss, denn nicht nur Painting By Numbers (die wie Vorbilder für Lassie Singers und Die Heiterkeit klingen) singen bereits 1989 über ihn; Jahre später widmet auch Die Liga der Gewöhnlichen Gentlemen Werner Enke ein Lied.

Bei vielen Stücken kann man die Lieblingsbands der Musiker raushören: Orange Juice als Vorbild für Fenton Weills zum Beispiel, oder Dexys Midnight Runners für Dextrin (buchstäblich süß: Zucker statt Dextroamphetamin – schnell macht beides). Zunächst fand ich es ein bisschen schade, dass die Mobylettes nur mit ihrer Coverversion von „Da Doo Ron Ron“ vertreten sind, andererseits: Girlgroup-Sound und Blue-Eyed-Soul gehören ja schließlich in den Plattenkoffer jedes gut frisierten Mod-Connaisseurs. Toll auch The Venue, eine Mod-Band aus Wien, die nur auf englisch sang – bis auf „Wien ist anders“, wo sie klingen wie die Eltern von Ja, Panik.

Apropos Eltern: Einige Bands auf dem Sampler sind die Vorstufe zu etwas Künftigem: Die Antwort zum Beispiel mit dem jungen Bernd Begemann, Huah! von und mit Knarf Rellöm, Family Five als Peter Heins Herzensprojekt nach und während Fehlfarben. Blick nach vorn und Schwelgen in Nostalgie zugleich: Es lebe das Zwischenstadium, denn es setzt so viel Energie frei!

Krass ist auch so manche Story hinter den Bands: Jakob „Jake“ Keusen, Schlagzeuger der Düsseldorfer Band Die Profis (they should have been bigger than the Toten Hosen, steht zu Recht im Presseinfo) wurde 1989 beim Proben von einem Nachbarn erstochen. Keusen war wahrhaftig zur falschen Zeit am falschen Ort, Tapete ist es mit diesem Sampler definitiv nicht.
Christina Mohr

 

Carsten Friedrichs, ehemals Superpunk, heute aktiv bei Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, hat diesen Sampler zusammengestellt und dabei einen hervorragenden Job gemacht. Die Platte lässt sich mit großer Begeisterung durchhören, ohne dass es irgendwelche Ausfälle gäbe. Das mag daran liegen, dass sich der Sampler – untypisch für die Gattung – durch eine große Homogenität auszeichnet, die aber natürlich bereits im Titel angelegt ist. Musikalisch lassen sich immer wieder The Jam als große Vorbilder ausmachen, an die vor allem die S-Chords mit ihrem enorm druckvoll gespielten „Voran! Voran!“ heranreichen. Eine Vielzahl der Songtexte hier repräsentiert einen Blickwinkel auf die Realität, der klar im Zeichen eines erfrischend spätadoleszenten Schwellenzustands steht. Man wartet darauf, dass das Leben endlich losgeht, hat aber auf die vorgegebenen Spielregeln keine rechte Lust. Die Stücke skizzieren unverstellte Mikrobeobachtungen, die sich um zwischenmenschliche Schwärmereien, Tanzengehen oder die Freude am Sommer drehen. Ergänzt wird dieser Ansatz durch Lieder, die sich an klassischen Protestsongtugenden orientieren, wobei es glücklicherweise nie darum geht, die große Message zu vermitteln. Hier sind es zwei Stücke, die besonders herausragen.

Zum einen handelt es sich um „Wien ist anders“ von The Venue. Man fragt sich, woher die Band im Jahr 1990 die Chuzpe nahm, ein Modrevival vom Zaun zu brechen, ohne sich auf ein gegenwärtiges Modell oder musikalische Zeitgenossen berufen zu können. Was beim Text auffällt, ist die Begabung, modespezifische Insignien der Neunziger („Chevignon“) als Ausdruck des Versuchs zu lesen, dem Milieu zu entkommen, in das man hineingeboren wurde. So gesehen, war der betreffende Song im Jahr 1990 durchaus zeitgemäß.

Der andere Hit ist „Lied für Werner Enke“ von Painting By Numbers – eine Großtat von maßlos motziger Eloquenz, die ihresgleichen sucht. Das liegt nicht zuletzt an der genussvoll ausgekosteten Nonchalance, mit der der Stück vorgetragen wird. Kann man immer wieder hören, mit wachsender Faszination.

Im Grunde sollte man wahrscheinlich keine Stücke gesondert hervorheben, denn, wie gesagt, hält diese Zusammenstellung durchgängig ein hohes Niveau. Wer alt genug ist, zumindest einige Jahre aktiv miterlebt zu haben, die diese Compilation umfasst, freut sich außerdem darüber, dass hier fast Vergessenes wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wird (ich erinnere mich an ein Konzert von Stunde X in der Wilhelmshavener Kellerdisco Tanzpalast im Jahr 1986, das doch sehr prägend war). Das ist umso schöner, als die hier versammelten Bands schon zu ihren Lebzeiten kaum über einen marginalen Bekanntheitsgrad hinauskamen. Ein Artikel in der Spex unter „Schnell & Vergänglich“ bildete für viele der Beteiligten das Höchstmaß dessen, was in puncto Ruhm und Ehre erreichbar war. Dieser Umstand steht auch damit im Zusammenhang, dass gerade die mittleren Achtziger noch stark unter den Nachwehen der Neuen Deutschen Welle litten. Man war über Jahre hinweg übersättigt, was deutschsprachige Musik angeht (außerdem blockierten die Dinosaurier Grönemeyer, Maffay, Westernhagen und Lindenberg die breitere Wahrnehmung von Abseitigerem). Dabei zeigt diese Compilation eindrucksvoll, dass eine große Anzahl von Bands dazu in der Lage war, die zwischen Untergangsstimmung und exaltierter Albernheit changierenden NDW-Klischees gewinnbringend hinter sich zu lassen zugunsten einer individuellen, jugendlich liminalen Perspektive auf das Leben zwischen 1980 und 1990.
Mario Lasar

 

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