Record of the Week

The xx “I See You”

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“I See You”
(Young Turks)

Im vergangenen Frühjahr meinte ich auf Plakaten einer „Dior-Homme“-Kampagne einen Musiker wiederzuerkennen, kam aber nicht gleich drauf, wer es war – schließlich schmücken sich große Modehäuser seit Jahren gern mit Popstars (oder wie bei Burberry mit den Kindern von Leuten wie Bryan Ferry), da kann man schon mal den Überblick verlieren. Dass auf den Dior-Fotos Oliver Sim zu sehen war, bekommt jetzt, mit dem Erscheinen des dritten Albums von The XX einen neuen Twist.
„I See You“ heißt es, und klingt unverhofft extrovertiert, oder anders: leuchtend, kommunikativ, den Blick von den Schuhspitzen aufs Gegenüber richtend, „I See You“, ganz im Wortsinn. Damit war nicht zu rechnen, besonders nicht nach dem schwächlich-statischen Vorgänger „Coexist“, auf dem das Südlondoner Trio recht ratlos in den großen Spuren ihres Debüts von 2009 herumtaperte. Nach „Coexist“ machten Bassist Sim, Gitarristin Romy Madley Croft und Jamie „XX“ Smith eine Pause, beziehungsweise frönten verschiedenen Süchten (Sim), gingen in die USA (Croft), oder wurden beinah beiläufig zum Superstar wie Jamie XX mit dem Soloalbum „In Colour“ und seinen Produzententätigkeiten für Frank Ocean, Alicia Keys oder Drake. Im Grunde hatte man The XX schon ad acta gelegt, doch dann kam vor ein paar Monaten die Single „On Hold“ raus und es war klar, dass die Zeit ohne einander in den Dreien einiges in Gang gesetzt hatte.

„On Hold“ ist ein zwar melancholischer, aber glanzvoller, prächtiger Dancetrack mit viel Bass und klugen Samples, und vor allem einem selbstbewussten Crooner namens Oliver Sim. Doch nicht nur Sim, auch Romy Madley Croft entdeckt auf „I See You“ ihre Stimme neu, was besonders interessant ist, da Jamie Smith angeblich vorgehabt hatte, das neue Album komplett instrumental aufzunehmen. Damit wäre zwar dem volleren Sound und den deutlich variierten Melodien noch mehr Respekt gezollt worden, es wäre andererseits aber ein Riesenversäumnis gewesen: Das sinnliche „Lips“ würde ohne Romys Vocals nicht so sehr unter die Haut gehen, auch dem Duett „Say Something Loving“ würde die soulfulle Note fehlen.
Aber es ist falsch, über „I See You“ nur ex negativo zu sprechen, denn es ist ein so reiches, üppiges Album geworden, mit dem man, ich wiederhole mich, nicht wirklich rechnen konnte. Wobei The XX nach wie vor mit Leerstellen arbeiten: „A Violent Noise“ ist ein perfektes Beispiel dafür, dass man durch Weglassen eines zu erwartenden Clou oder Höhepunkts manchmal am meisten erreicht. Der Opener „Dangerous“, ebenfalls ein Dancetrack, setzt äußerst pointiert Trompeten-Samples ein und bringt in den Lyrics die Neujustierung bei gleichzeitiger Unsicherheit der Band zum Ausdruck: Sätze wie „I don’t care“ gehen vielen ja ganz leicht über die Lippen, für The XX ist das schon fast Punk. Mit „I See You“ finden Croft, Sim und Smith zur idealen Verschmelzung von R’n’B im Geiste Aaliyahs und dem Post-Wave der ebenfalls schlagzeuglosen Young Marble Giants, worüber die drei früher zwar oft sprachen, was aber nicht unbedingt zu hören war.

Bislang konnte ich mir nicht erklären, warum The XX auf ihrer kommenden Frühjahrstour nur in große Hallen gehen – mit ihrer intimen, zerbrechlichen Musik. Jetzt hab ich es begriffen.

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