Record of the Week

Tracey Thorn “Record”

Cover_Tracey-ThornTracey Thorn
“Record”
(Caroline / Universal)

Tracey Thorn hat genaue Vorstellungen davon, wie man ihr neues, maximal schlicht „Record“ betiteltes Album hören soll: Nicht allein zuhause, sondern unterwegs in der Stadt, mit Kopfhörern auf – und so kann es durchaus passieren, dass man in der Fußgängerzone laut „what year is it / same old shit“ vor sich hin singt, oder in der U-Bahn die gegenübersitzende Person mit den Worten konfrontiert, „we kissed and kissed and kissed / but you were just a catalyst“.

„Record“ ist eine echte Frauenplatte, fächert ein Frauenleben, Traceys Leben, in neun Songs quasi chronologisch auf – aber nicht bis zum bitteren Ende. Denn da sind wir noch längst nicht. Wir sind erst bei Track 9, und der heißt „Dancefloor“, dazu später mehr.

Tracey Thorns Soloveröffentlichungen (selbst das Weihnachtsalbum „Tinsel and Lights“)  sind ja allesamt höchst persönliche Angelegenheiten, erzählen von Geburten und Ehescheidungen – von Themen also, die im Popkontext nicht allzu häufig Erwähnung finden. „Record“ geht noch weiter, tiefer.

Als „nine feminist bangers“ bezeichnet Tracey ihre neuen Songs, die autobiographisch sind, aber jede Hörer_in direkt ansprechen. In „Babies“ geht es um Verhütungsmittel (die Frauen nehmen, weil es praktischer ist), in „Go“ ums Loslassen der später doch bekommenen Kinder. Und immer wieder geht es um Liebesbeziehungen, klar, und wie schwierig es doch bleibt, egal ob man fünfzehn Jahre alt ist oder 55.
„I liked the boys the boys the boys / but they liked the girly girly girls“, singt Tracey, und man fühlt mit dem Mädchen, das man selber war, das nicht wusste, wohin mit sich und das deswegen zuschaute, wie die anderen (scheinbar) alles richtig machten.
Im Erwachsenenalter wird das Herz allerdings nicht schlauer: „Face“ handelt davon, dass man nach einer Trennung besser nicht in sozialen Medien nachgucken sollte, was der/die Verflossene so treibt – und es in selbstquälerischer Besessenheit dennoch tut.

Kernstück des wieder mit Ewan Pearson aufgenommenen Albums ist das fast neun Minuten lange „Sister“, konsequenterweise ausschließlich von Frauen gesungen und gespielt. Die rhythm section kommt von Warpaint, die backing vocals übernimmt Corinne Bailey Rae, und besonders bei diesem Stück wird man laut mitsingen: „I fight like a girl“, yeah. Empowerment und Fatalismus gehen Hand in Hand.

„Record“ ist voller Disco-, Synthiepop- und Achtziger-Referenzen, schon beim Opener „Queen“ tanzt man durch den Supermarkt, aber keine Angst: die Beat-Lastigkeit geht nicht auf Kosten von Traceys unverwechselbarem, so traurigem wie tröstlichen Gesang.

Das Schönste an Tracey Thorns Songs, ob Ballade oder Disco – schon ganz früher bei den Marine Girls und natürlich mit ihrem Mann Ben Watt und Everything But the Girl – ist ja, dass sie vermitteln: Du kommst drüber weg. Ich bin drüber weg. Es war schlimm, oder es war erst schön und dann schlimm, und ich heule manchmal noch ein bisschen, aber es geht vorbei. Eine rundum melancholische Haltung, aber zur Melancholie gehört eben auch die Erinnerung an und die Hoffnung auf bessere Zeiten.

Tracey hatte in Teeniezeiten zum Glück ihre „Guitar“ (so ein Titel) und sie konnte singen, was sie bis heute staunend zur Kenntnis nimmt. „I hear someone singing / I realize it’s me“ heißt es in „Dancefloor“, dieser großartigen Hymne im allerbesten Sinn, dem hedonistischen Loblied aufs Ausgehen, auch im fortgeschrittenen Alter: „where I want to be / is on a dancefloor with some drinks inside of me“ – ja, ich auch, wir alle!

 

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