Record of the Week

Sofia Härdig “And the Street Light Leads to the Sea”

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“And the Street Light Leads to the Sea”
(Solaris Empire)

Am Jahresanfang ist man ja häufig noch mit altem Kram beschäftigt. Falls man also nicht in St. Moritz weilt, fängt man nach den Feiertagen das Ausmisten an und nimmt endlich die Steuererklärung (für 2015!) in Angriff, oder muss auf Arbeit den vor Weihnachten liegengelassenen sogenannten „Jahresabschluss“ für die Buchhaltung fertig machen. Alles unerfreulich, lästig und nutzlos, und von draußen kommt noch keine neue Musik, weil KW 1 – siehe St. Moritz – eine ziemlich undankbare Woche für Veröffentlichungen ist. In KW 2 und 3 sieht die Welt schon etwas anders aus, die ersten Promos trudeln ein, und nach all den toten Popstars ist man sowas von bereit für Neues… oder für mit kleiner Verzögerung auch hierzulande erscheinenden Herbst-Novitäten wie zum Beispiel Sofia Härdigs Album „And the Street Light Leads to the Sea“, das im Oktober 2016 weltweit herauskam und ab jetzt via Solaris Empire auch in Deutschland erhältlich ist.

Vor vier Jahren erschien Härdigs letzte Platte „The Norm of the Locked Room“, das der Schwedin jede Menge Vergleiche einbrachte: Sie klänge wie die Schwester von PJ Harvey oder die Tochter von Patti Smith, wie eine feminine Mischung aus Nick Cave und den Violent Femmes, etc.pp. Wenn man es freundlich drehen will, sind solche Vergleiche natürlich als Kompliment und Einordnungshilfe gedacht, verhindern aber auch das vorbehaltlose Einlassen auf die Musik. Multiinstrumentalistin Härdig ist nämlich eine echte Tausendsassin (gibt es eine weibliche Form von „Tausendsassa“?), sie hat unter anderem mit Free Kitten, den Hellacopters oder David Sylvian gespielt und stand mit Lydia Lunch und ihrem Projekt Medusa’s Bed auf der Bühne. Einen Hang zum Dunklen darf man Sofia Härdig also durchaus unterstellen; aus ihrer Kindheit ist überliefert, dass sie gern zum Sound des Staubsaugers Musik machte, ihre ersten Lieblingsbands waren Suicide und Birthday Party. Das prägt natürlich, und auch Härdigs neue Songs sind im Grundton anthrazit bis nachtschwarz gehalten, ihre dunkle, volumige Stimme tut ein Übriges zur Atmosphäre hinzu.

Aber: Sofia Härdig ist keine fragile darke Gothic-Sister, sie liebt Rock* und modelt ihn sich nach ihren Vorstellungen zurecht: Ihre letzten Platten nahm sie noch komplett alleine auf; für „And the Street Light…“ hat sie eine Band zusammengestellt, die den Sound mit wummernden Basslinien und Gitarren noch mehr verdichtet und variiert, von High-Energy-Punkrock bis Ballade. Suggestiv, und ja, hypnotisch (in Rezensionen eigentlich verbotenes Wort, erste Ausnahme 2017) klingt der Opener „Streets“, viel Hall und Reverb drauf, am Ende reduziert, beinah sanft. Lauernd und tastend beginnt „Swim“, um sich knackig-sexy-funky zu steigern und ins Hirn zu fräsen, wie überhaupt alle Songs dieses Albums die geneigte Hörer_in fest in den Griff nehmen: Nebenbei Mails checken oder Qwirkle spielen geht bei „And the Street Light…“ nicht. Sofia Härdig will euch, und sie will euch ganz, ihr sollt schwitzen und tanzen oder vor Kummer zergehen, ganz wie es die Gebieterin befiehlt. „Keep Dreamin’, Baby“ singt, schreit, dröhnt sie in „The Norm“ in kaputtes Prä-Punk-Rauschen hinein, und es ist total klar, dass sie für Träumereien nicht allzu viel übrig hat. Also, streicht die Smith- und Harvey-Vergleiche und feiert Sofia Härdig ordentlich ab.
Christina Mohr

* aside: ist es nicht erstaunlich, wie viele junge Frauen derzeit ROCK neu definieren? Deap Vally, Josefin Öhrn, LP, Coathangers… wäre einen eigenen Artikel wert, nicht wahr?

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