Record of the week

Visionist „Safe“

Cover_VisionistVisionist
„Safe“
(PAN)
“Das wird eine Konsensplatte”, sagt Thomas Venker, und ich persönlich wünsche mir sehr, dass er Ende des Jahres, wenn die notorischen Polls anstehen, Recht behalten wird.

Denn „Safe“, das Debütalbum des Südlondoner Produzentens Louis Carnell a.k.a. Visionist, kommt nicht mit Monsterbässen und Killerhooks daher. „Safe“ überwältigt nicht, es ist fragil und emotional heikel. „Safe“ ist ein Album über Ängste: Visionists eigene, aber auch ganz allgemein; es handelt von Einsamkeit, Verunsicherung, gesellschaftlicher Kälte, Konkurrenzkampf, Dysfunktionalität und dem Wunsch des Individuums (= lies: Menschen) nach Sicherheit, Geborgenheit, Erlösung. Große Themen, verarbeitet in gebrochenen Beats, fragmentarischen Melodiesplittern und gepitchten Vocals. Und einprägsamen Tracktiteln: „Tired Tears, Awake Fears“, „Sin-cere“, „Too Careful To Care“ – so (vermeintlich) kompliziert Visionist musikalisch vorgeht, so eindeutig ist er in der Sprache.

Visionists Verbindungen zu Fatma Al Qadiri und FKA twigs, die er auf ihrer letzten Tour supportete, sind hör- und spürbar, wobei Carnells Vision eines modernen, dekonstruierten R’n‘B von einer eigentümlichen Stimmungsmischung aus Melancholie und Zuversicht, trotzalledem, geprägt ist. Was besonders faszinierend ist: Die Tracks wirken einerseits „außerweltlich“, ghost-in-the-machine-like, teils zappelig-ADHS-mäßig, weil kein Melodiefaden durchgezogen wird, sich kein Refrain aufbaut, an dem man sich festhalten kann – und doch fühlt man sich in diesem Scherbenhaufen so wohlig und aufgehoben wie selten. Das liegt vielleicht an Visionists zarten, nein, zärtlichen Vocals, die yogihafte Mantren verbreiten wie „everything is fine, I’m okay, everything is fine…“, vielleicht aber auch am wobblenden Bass, der unterschwellig doch einen rhythmischen Flow vorgibt. „Safe“ ist wie die Fahrt mit einer S-Bahn in einer zunächst völlig unbekannten Stadt, mit beschlagenen Fenstern und kaputten Sitzen, es klappert und zieht – und nach einiger Zeit bemerkt man, dass die Bahn zum Hauptbahnhof fährt, dort, wo man sowieso hinwollte. Safe. Konsensplatte 2015? Von mir aus gern.
Christina Mohr

Der Opener „You Stayed“ mag gerade mal 1:14 Minuten lang sein, und doch gelingt Louis Carnell mit ihm ein verstörend nachhaltiger Einstieg in sein Album: die Sounds quitschen und zirpen, eine Stimme, wenn es denn eine ist, tänzelt in höchsten Lagen – und alles in diesem einnehmenden Entree erinnert an eine kleine Sonette von Wolfgang Amadeus Mozart und zugleich kommt einem das Bild einer langen Kamerafahrt durch eine einsame Gegend in einem Horrofilm.

Umgehend will man wissen, wer hier geblieben ist, und was dabei vorgefallen ist. Da kann das Album noch so final berühigend „Safe“ betitelt sein, sicher ist man sich hier gar nichts, Sicherheit ist vielmehr der so innig genährte Wunschzustand für einen selbst, der sich beim Hören sofort als Sehnsuchtsprojektion einstellt. Aber Carnell hat uns schnell zu verstehen gegeben, dass wir in diesem Mahnspiel der Realität, das er hier aufführt, das Opfer sind (das zweite Stück trägt sinnigerweise den Titel „Victim“) beziehungsweise an dessen Seite zu stehen haben.

Aber Opfer von was und wem?
Die Antwort, sie liegt in den zwölf Soundscapes des Albums, die von warmen Breakbeatgewittern über minimal-sakrale Soundinstallationen his hin zum Cut´n´Soul modernen Zuschnitts reichen, und mit denen der Visionist sich im Spannungsfeld von Holly Herndon, Autechre und Fatma Al Qadiri positioniert.
Was dem Victim fehlt, dringt dafür durch jeden Takt dieser Musik in uns, die reich an Lockstoffen sozialer Wärme ist, aber nur selten den unendlichen Hunger unseres Protagonisten mit realen Gesten zu stoppen gedenkt. „Safe“ ist eine begleitende Studie darüber, wie es sich anfühlt, wenn man keinen Ort der Geborgenheit findet.

In Zeiten, wo an den östlichen EU-Außengrenzen die Errungenschaften der offenen Grenzen und der innereuropäischen Solidarität sowie der Humanität an sich mit Zäunen und Degradierungsbürokratie dekonstruiert werden, kommt einem „Safe“ wie der nicht bestellte Soundtrack zur alltäglichen Horrorshow vor.
Und so wünscht man sich während des Hörens nichts mehr, als dass man das Album rein tonal als zeitgemäße Fortsetzung des „Bladerunner“-Soundtracks von Vangelis lesen könnte, aber diese musikimmanente Wahrnehmung wurde nachhaltig von den Geschehnissen ad acta gelegt. Stattdessen bäumt sich track by track zu einer sonorischen Anklagemauer auf.
Man kann das als Überinterpretation abkanzeln, man kann aber auch einfach die Songtitel der dramatisch die Stimmung zuspitzenden zweiten Albumhälfte für sich sprechen lassen:

„Let me In“
„Too Careful To Care“
„Tired Tears, Awake Fears“
„Constraint“
„Sleep Luxury“

Louis Carnell ist mit „Safe“ ein fantastisches Album gelungen, eine elektronische Oper über unsere Welt an der Schwelle zur entscheidenden Phase ihrer Neujustierung, eine Klangreise voller Unsicherheiten und Ängste, jedoch auch voller Hoffnung und Glauben an eine bessere Wirklichkeit.
Thomas Venker

 

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