Ein grenzenloses Versuchslabor
Gestern Abend war ich nach einem diskussionsreichen Tag mit meinen Studierenden am Institut für Populäre Musik schon fast eingeschlafen, als sich in jener seltamen Zwischenphase der Zustände noch eine letzte Erinnerungssequenz in meine Gedanken schlich. Plötzlich befand ich mich im Jahre 1988 und an einer Straßenecke in Washington DC. Damals traf ich auf meinem ersten Trip durch die Usa zufällig einen Block vom White House entfernt auf einen Jungen, den ich von Hardcore- und Punktrock-Konzerten in Stuttgart und Umgebung kannte. Er schaute grimmig in Richtung jenes Hauses, in dem damals noch Ronald Reagan wohnte und hörte dem Moment und Standort angemessen auf seinem Walkman Minor Threat und andere Dischord Bands (nur Reagan Youth hätte noch besser gepasst). Zugegeben, eine sehr introvertierte Form des Protestes an den Verhältnissen – aber, wie man nicht zuletzt daran sehen kann, dass sie noch 29 Jahre später in mir nachhallt, nichtsdestrotzrotz eine nachhaltige.
Ich muss mich nicht groß bei Freud bedienen, um zu wissen, warum just jetzt diese Erinnerung plötzlich hervor steigt. Nichts ist dieser Tage präsenter in unserem Alltag als das politische Grundrauschen. Spätestens seit Brexit und der Wahl von Trump fühlen auch jene sich genötigt zu positionieren, die ihr kulturelles Engagement immer als getrennt von so etwas wie Alltagspolitik verstanden haben.
Womit wir auch schon beim Kern der Diskussionsstränge sind, die meine letzten Tage in Berlin und beim wie immer sehr inspirierenden CTM Festival geprägt haben. So sehr es nachvollziehbar und auch wünschenswert ist, dass sich viele derzeit mit Gedanken über aktives Einbringen in Parteien und Mitarbeit bei politischen Projekten beschäftigen und oft auch zu aktivem Handeln entscheiden, so sehr gilt es sich bewusst zu machen, wie sehr doch bereits die alltagskulturelle Arbeit Teil der Antwort auf die immer manifesteren Probleme unser Zeit sind.
Das soll bitte nicht im Sinne von Selbstberuhigung verstanden werden. Nein, es ist natürlich nichts gut, schließlich zieht sich die Schlinge der neoliberalistischen Gier und der immer unverhohlener gezeigten urrassistischen Triebe immer enger. Es ist eher als Motivationsschub zu verstehen. Denn je deutlicher es wird, dass wir alle zu Persona non Gratas im Verständnis jener geworden sind, die gerade (und hoffentlich nur für kurze Zeit) die demokratische Wahlmehrheit (wie diffus die Wahlrechte auch aussehen mögen) an sich gerissen haben, so sehr sind wir das eben genau weil wir Leben führen, die all das repräsentieren, was diese Menschen negieren: kulturelle Offenheit, Interesse an und Mitgefühl für die Mitmenschen und ein hohes Maß an Bereitschaft sich auch ohne ökonomisch vielversprechenden Rahmenbedingungen in Aktionen, Projekte oder gar Berufe einzubringen.
Es mag vielen nicht so vorkommen, aber dies sind starke Argumente, denen sich viele jener Menschen, die sich derzeit – warum auch immer – in die fatale (politische) Koalition mit dem Absurden und Bösen begeben haben, langfristig nicht entziehen können und die sie (hoffentlich) überzeugen werden ihre Positionen zu hinterfragen.
Ein Festival wie das CTM ist nichts anderes als ein grenzenloses Versuchslabor für eine Welt ohne Staatsangehörigkeiten und kleingeistige Perspektiven. Es bringt Künstler_innen und Besucher_innen aus aller Welt zusammen, ohne dass man –mit Ausnahme des in diesem Jahr natürlich sehr passenden Mexikoschwerpunkts (mit der empfehlenswerten „Critical Constellations of the Audio-Machine in Mexico“-Ausstellung, die noch bis 19. März im Bethanien läuft) – sich im steten Flow der Konzerte, Panels, Dj-Sets und Gespräche groß diese manigfaltigen Herkünfte bewusst macht.
Tut man es doch, wie ich jetzt im Rückblick , so stellt man erstaunt fest, wen man da während dieser Tage alles kennengelernt und wiedergetroffen hat, und wie man sofort in one tongue miteinander sprach. Zum Beispiel den finnischen Festivalbooker Lauri Soini mit seinem Faible für die deutsche Krimiserie „Ein Fall für Zwei“ und die Vierschanzentournee, der mit seiner Bookingausrichtung Woche für Woche an der Dekonstruktion von Geschlechtergrenzen arbeitet. Oder die Gang des rumänischen Magazins The Attic, mit denen ich im kaltestens Backstageraum aller Zeiten über die Anti-Korruptions-Demonstrationen in Bukarest sprach. Oder die Berliner Off-Kultur-Schaffenden, die untereinander angenehm Positionsreich über ihre Vision für den lokalen Kulturbetrieb diskutierten. Und nicht zuletzt die franko-kanadische Musikerin Marie Davidson, die seit ihrer Kindheit die Absurditäten eines regionalen (Sprach)konflikts erdulden muss.
Und auch all die Momente außerhalb des CTM: die wie immer stimulierende Flittchen Bar von Christiane Rösinger im Südblock; die Ausstellung der polnischen Künstlerin Anna Krenz in der Schaufenstergalerie, mit der sie gegen die ausgrenzende Politik der aktuellen polnischen Regierung protestierte; mein Gespräch mit Jason Williamson, der wegen Twitter-Obzönitäten und seltsamen Innenparteilichen Prozessen aus der Labour Party ausgeschlossen wurde; ein Besuch im Studio von Dirk Dresselhaus (aka Schneider TM), um dort mit Max Müller und ihm über die Aufnahme der neuen Mutter Lp zu sprechen; sowie die Ausstellung von Omer Fast im Martin-Gropius-Bau, der mit seinen Filmen das Politische aufs Schmerzlichste im Alltag der Menschen ankommen lässt.
Die kulturelle Vielseitigkeit und Offenheit ist unsere große Stärke. Wir sollten sie noch intensiver leben.