Die Mehrheit als Sekte X

“25 Jahre Neoliberalismus haben dafür gesorgt, dass das gesellschaftliche Unglück eine vollkommen abstrakte Größe ist.”

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Die Mehrheit als Sekte X

Die Ansprüche an den Bundestagswahlkampf sinken stündlich, Hoffnungen auf den »Tag danach« gibt es keine. In den Medien, die ihre Klientel bei Laune halten müssen, wird die Frage, ob Merkel mit der FDP oder mit den Grünen weiterregieren möchte, zur Schicksalsfrage der gesamten Republik stilisiert. Auf die Suche nach den Gründen für diese Ödnis, deren Komplementärstück die Beharrlichkeit des AfD-Rassismus ist, darf man sich nicht dort begeben, wo sich so lautstark wie wohlfeil darüber beklagt wird – im Politikbetrieb. In einer Serie, die noch bis zum »Tag danach« fortgeführt wird, analysiert Felix Klopotek stattdessen die grundlegenden Strukturen der »Politik der Mitte«, in der sich Aufstieg und Niedergang der politischen Moral exemplarisch verdichten.

Fighting first, solidarity second

Viele Linke, vor allem die, die parteipolitisch oder gewerkschaftlich organisiert sind, beklagen einen sich in diesen Wochen und Monaten stetig verschlimmernden Zustand der Entsolidarisierung: Gewerkschafter berichten von Kollegen, die zwar betriebspolitisch aktiv sind, auf die man im Fall eines Streikes also durchaus zählen darf, die aber gleichzeitig, wenn sie über die Grenzen des Betriebs hinausgucken, stramm auf AfD-Linie sind. Aktivisten berichten davon, dass sie dafür angegangen werden, wenn sie sich für »Minderheiten« »identitätspolitisch« einsetzen, wo es doch jetzt nur noch um die »Brot & Butter«-Frage gehen könne.

Das Spiel funktioniert auch umgekehrt: Wer zu sehr auf »Klassenpolitik« fixiert zu sein scheint, muss sich bisweilen schon mit Sexismus- und Rassismus-Vorwürfen auseinandersetzen. Erstaunlich: Der Autor dieser Zeilen hat vor zwei Jahren auf Demonstrationen der damals heftig und zäh streikenden Erzieherinnen Sprüche gegen »die Griechen« gehört, von denen man sich nichts mehr bieten lassen wollte. Vor zwei Jahren rebellierte ein Großteil der griechischen Bevölkerung gegen die nicht zuletzt von Wolfgang Schäuble diktierte europäische Sparpolitik und die aufoktroyierten neoliberalen Kahlschlagmaßnahmen.

Die hiesige Linke, die in solchen Situationen ihre Machtlosigkeit – und also auch Einflusslosigkeit – erfährt, leitet daraus ab, nun umso mehr für Solidarität zu streiten. Denn es stimmt ja, erst wenn die Erzieherinnen im Kampf der Griechen ihre ureigenen Interessen wiedererkennen, könnte überhaupt eine europäische Achse des gemeinsamen Widerstandes gegen Sparpolitik, gesellschaftliche Diskriminierung und Ödnis-Zonen der Armut und Gentrifizierung entstehen. Nur ein transeuropäischer, und in Konsequenz: globaler Widerstand könnte die Macht- und Ausbeutungsverhältnisse in der EU, im »Westen« und schließlich weltweit erschüttern.

Aber was heißt – für Solidarität zu streiten? Es heißt für genau das zu streiten, was die Leute – im Betrieb, in den ruinierten Wohnvierteln, in den Schulen und Universitäten – ablehnen. Und zwar ganz offensiv.
Denn jeder weiß, wie dramatisch die Zustände gerade auch in dieser sich im Wahlsommer so satt und selbstzufrieden gebenden Republik sind:

  • 21441497_10155826041109379_485926680_oDie Wohnsituation in den Städten eskaliert – im Land der Mieter ist der Wohnungsmarkt eben dieser Mieter in einen Hexenkessel verwandelt worden; übrigens ist eine Folge der baldigen Unbewohnbarkeit unserer Städte die Zunahme der Pendler, die Leute ziehen aufs Land und nehmen – ein Raub an Lebenszeit – immer weitere Wege zur Arbeit auf sich, was dann auch die Schadstoffbelastung in die Höhe treibt.
  • Und das wäre das nächste Stichwort: der Dieselskandal, der besonders die Fahrerinnen und Fahrer von älteren Dieselmodellen betrifft, also die Leute, die nicht das Geld haben, sich alle zwei, drei Jahre ein neues Auto anzuschaffen.
  • Die Belegschaften in den großen Betrieben – in der Automobilindustrie vorweg – sind gespalten in Stammbelegschaften und deutlich schlechter gestellte Leiharbeiter (ein enormer Entsolidarisierungsfaktor).
    Noch unter diesen Leiharbeitern steht das »Prekariat«, die Toilettenputzer, Paketschlepper, Lagerarbeiter, Wachleute, Sexarbeiterinnen, Putzfrauen und Brötchenaufbacker, schließlich die Illegalen, die im Prinzip alle von jeder sozialen Mobilität nach oben ausgeschlossen sein sollen.
  • Man sollte daran anschließend noch von den enormen Investitionslücken im Bildungsbereich sprechen und dann noch von der ruinierten Infrastruktur – zum Beispiel von der unzuverlässigen Bahn und ihren maroden Trassen (wer hat wohl darunter zu leiden?).

Das sind keine Neuigkeiten. Es ist auch kein Alarmismus, darauf hinzuweisen. Sie sind allgemein bekannt, die Leute ignorieren diese Probleme auch nicht. Vielmehr ist es so, dass sie sie nicht auf sich, auf ihr soziales Dasein beziehen, das Unglück trifft immer andere, und wenn es einen doch mal selber ereilt, hofft man, dass man schnell eine Lösung findet, eine individuelle natürlich.

25 Jahre Neoliberalismus haben dafür gesorgt, dass das gesellschaftliche Unglück eine vollkommen abstrakte Größe ist, irgendwie immer anwesend, aber unbeherrschbar, nur konsequent, dass der einzig sinnvolle Umgang mit diesem Unglück nur ein individueller sein kann. Wird sich die Welt nicht mehr ändern, kann zumindest ich mich ändern.

Unsolidarisch – das war schon immer der Normalzustand des Kapitalismus, die Geschichte aller Klassenkämpfe fängt damit an, dass die Schwachen, die Abgehängten und Ausgepowerten sich untereinander prügeln und, wenn’s möglich ist, noch mal nach unten treten. Was im Neoliberalismus aber noch hinzukommt, ist die radikale Individualisierung unserer Schicksale, oder sagen wir besser: der Schein der Individualisierung, denn letztlich gleichen sich die Schicksale auf beklemmende Weise.

Ganz ohne gesellschaftlichen Resonanzraum kommt diese Elendsindividualisierung nicht aus, daran wurde jeder erinnert, der das Kanzlerkandidatenduell vom 3. September mit halbwegs offenen Augen verfolgte (ich weiß, das was schwer): Es drehte sich ja nur fast nur um Abschiebungen, Flüchtlinge und Integration***. In ihrer Rhetorik der Abgrenzung ging es Merkel und Schulz übrigens nicht unbedingt um Anbiederung an AfD-Themen beziehungsweise um ihre Sorge, Themen an die AfD zu verlieren, ihre Rhetorik war durchaus authentisch. Auch wenn es nie eine AfD-Gründung gegeben hätte, hätten Merkel und Schulz nicht wesentlich anders geredet. Warum? Weil der Flüchtling, die Einwanderin, die Fremden zu den Anderen schlechthin gestempelt werden, die am ehesten dafür herhalten müssen, das abstrakte gesellschaftliche Unglück zu verkörpern.
Das Fazit dieses Abgrenzungs- und Entmündigungsdiskurses lautet: Wenn ihr nicht so werden wollt wie »die« – heimatlos, der Sprache entfremdet, in den dritten oder vierten Arbeitsmarkt abgedrängt, misstrauisch bis paranoid beäugt, was die religiöse oder weltanschauliche Gesinnung angeht –, dann müsst ihr euch eben gegen »die« zusammenschließen. Beziehungsweise Merkel oder Schulz das Mandat geben.
So konstituiert sich das System des Rassismus, das aufs engste mit dem System der Arbeit unter neoliberal-kapitalistischen Bedingungen verknüpft ist.

Wie kommt man da heraus?
Der erste Schritt für die Linke bestände darin, eben nicht die Solidarität als Ausgangspunkt des Handelns zu begreifen, sondern ihr Gegenteil. Das ist nicht nur ein intellektuelles Spiel um die treffende Erkenntnis. Solidarität stellt sich erst in und nach sozialen Kämpfen her, sie ist immer prekär. Es ist abzusehen, dass in naher Zukunft auch Deutschland von heftigen Klassenkämpfen erschüttert werden wird oder präziser: von Klassenkämpfen, die das Potenzial dazu haben, die Gesellschaft als ganze zu betreffen. (Eine abwegige Spekulation? Vor zwei Jahren streikten Erzieherinnen und unabhängig davon, aber im gleichen Zeitraum, Brief- und Paketzusteller, das war durchaus heftig, auch wenn die Ereignisse längst schon wieder aus dem gesellschaftlichen und auch linken Bewusstsein verschwunden sind. Streiks und Klassenkämpfe sind soziale Tatsachen, die auch hierzulande nichts ungewöhnliches sind).
Es ist abzusehen, dass die Streikenden auf sich alleine gestellt sein werden, Politik und Medien werden gegen sie stehen, die Gewerkschaften, ihrerseits Organe der Entmündigung, werden bis zur Selbstaufgabe auf Mäßigung drängen, Unterstützung von anderen Segmenten der Arbeiterklasse wird zunächst kaum zu erwarten sein. Gerade in so einer Situation müssen die Streikenden auf Radikalisierung setzen – und die Linke müsste sie darin bestärken –, denn diese Flucht nach vorne ist die einzige Chance, den eigenen Forderungen dermaßen Nachdruck zu verleihen, dass sie als prinzipiell nicht verhandelbar dastehen. Sie widerstehen somit dem Druck des Neoliberalismus und könnten Vorbildcharakter für weitere Kampfaktionen haben. In diesem Härtungsprozess entsteht Solidarität.
Eine Garantieformel für den Erfolg ist das nicht. Die Linke sucht immer gerne nach solchen Garantien, meistens weicht sie auf geschichtsphilosophische Spekulationen aus. Garantiert waren aber bislang immer nur Enttäuschungen, mit ihnen hat sich die Linke schon seit Jahrzehnten abgefunden. Eine romantische Haltung. Die Rückkehr zu einem nüchternen Realismus, wäre der erste Schritt.

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