Martin Knepper

Faszination Wahl-O-Mat? “Hasch, Nutztiere und die Verhandelbarkeit der Holocausterinnerung”

4. September 2017,

Seit letzter Woche ist der Wahl-O-Mat wieder online, und die Netzgemeinde wird darob von einer hysterischen Begeisterung durchglüht, wie man sie vom Start einer neuen Staffel irgendwelcher pornös-infantiler Drachenmärchen erwarten würde. Und ich gebe zu, auch ich habe der Eröffnung des müllwagenfarbenen Digitalorakels entgegengefiebert und wurde prompt wie Millionen andere mit einem überlasteten Server konfrontiert; Tagesschau, Spiegel, Bild, alle erdenklichen Info-Simulacra trommeln zur selben Zeit für das Gerät, da kann es in der Pipeline schon mal eng werden.

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Sittlich gefestigte Erzdemokraten
Woher rührt diese Faszination für den Wahl-O-Maten, der sich anmaßt, mit 38 krausen Fragen nach Haschfreigabe, Kindergeld nur für Deutsche und der Verhandelbarkeit der Holocausterinnerung jedem Menschen eine taugliche Wahlempfehlung zu vermitteln? Bei manchem mag ein echter Wunsch nach Entscheidungshilfe stehen. In meinem Bekanntenkreis, der sich überwiegend aus Spaßparteiwählern und sittlich gefestigten Erzdemokraten mit mutmaßlich fossiliertem Weltbild zusammensetzt, spielt das aber vermutlich die kleinere Rolle. Und wählte ich, so fände ich den Gedanken fast ein wenig unbehaglich, die Entscheidung einer Maschine zu verdanken, von der ich nicht einmal weiß, wer sie zu welchem Behufe zusammengefügt hat.

Welcher Vogel war ich vorherigen Leben
Nein, ich sehe da einen gewichtigeren Grund, eine Art von Beichtgier, welche die Menschen erfasst. Wir wissen ja, dass die gewählten Parteien neben dem Nettoeinkommen und dem privaten Sexualverhalten zu den größten gesellschaftlichen Tabus in der Kommunikation zählt. Mit dem Wahl-O-Mat, bzw. den geoffenbarten Ergebnissen (die meist ähnlich wie die vergleichbaren ‘Nametests’ – welcher Vogel war ich im vorherigen Leben – mit einer Prise Ironie und Zweifel präsentiert werden, “hier guck mal, was das Ding meint, was zu mir passt”) wird es jedem möglich, unauffällig einen Einblick in sein politisches Seelenkämmerchen zu geben, ohne sich verbindlich festzulegen, ob er der Empfehlung Folge leisten will. Kurz vor der Wahl, deren Relevanz uns in der seelischen Entwicklung fast zeitgleich mit dem Gottesglauben eingeimpft wurde, kann jeder von uns Fahne zeigen – nicht opak gefärbt, sondern in den transparenten Wasserfarben des ‘als ob’.

Wahl-O-Mat-Fanboys
Natürlich spielt auch noch anderes hinein, das Ding ist eben Daddelautomat, Polithoroskop, Persönlichkeitstest, Bürgermanifest und ein Brauch, der zu den meist wenig spannenden Wahlen zählt wie Dinner for One zu den meist wenig spannenden Silvesterabenden (Spoiler: Die FDP wird n i c h t über das Tigerfell stolpern). Mir bleibt allerdings die unbehagliche cui bono-Frage: Dass Portale wie Nametest und Quizfeed neben aller Irrelevanz und Spinnrockendümmlichkeit auch zutiefst evil sind, weil sie Mailadressen und Interessen der Nutzer ausschnüffeln, das wissen wir. Was aber geschieht eigentlich genau mit den Millionen Datensätzen der Wahl-O-Mat-Fanboys und -girls? Schlussendlich kommt da ja eine ziemlich relevante Anzahl von Befragten heraus, die man dann mit dem Einstiegsportal verschalten und so doch ein recht präzises Stimmungsbild schaffen kann. Wenn ich früher diese Verbraucherumfragen mitgemacht hatte, bei denen man den Geschmack zweier Erdbeermarmeladen oder die Etiketten zweier Weichspüler vergleichen musste, bekam man immer zum Schluss eine Packung Kekse. Frau Merkel, wo ist mein Keks?

Text: Martin Knepper

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