Thomas Venker

„In your fear of what we have become“

„In your fear of what we have become“ 

In der riesigen Menge an Erinnerungswürdigen Dokumenten aus dem Leben von David Bowie, die in den Tagen nach seinem Tod ausgegraben wurden, ist eines besonders bei mir hängengeblieben. In einer Folge des BBC Formats „Breaking Down“ (in dem ein Song in seine einzelnen Spuren zerlegt und betrachtet wird), die sich seinem großen Hit „Heroes“ widmete, erzählte der langjährige Bowie-Produzent und –Freund Tony Visconti davon, dass sie damals die Bänder nicht kopiert hätten, bevor sie mit Effekten experimentierten, sondern diese direkt auf die Aufnahme legten. Einerseits weil sie ohne Zweifel agierten. Aber auch da es in ihrem Verständnis des künstlerischen Prozesses keine Scheu vor Fehlern gab, da diese ja zunächst einmal nur Handlungsfolgen sind, die man so nicht im Blick hatte.

Man könnte vermuten, ich würde mich an dieser Stelle einmal mehr meiner anachronistischen Sehnsucht nach einem romantischen Künstlerbild hingeben – ich muss aktuell aber aus einem ganz anderen Grund an die Erinnerungen von Tony Visconti denken (und natürlich will ich auch gar nicht die Radikalität der einen finalen künstlerischen Entscheidung gegen jene Praxis der multiplen Versuchsreihen ausspielen): Die letzten 48 Stunden wurde ich viel mit Lebensrückblenden konfrontiert. Solche von der Art, wie sie ein jeder von uns in kleinem Maße aus seinen alltäglichen Begegnungen kennt; und an Fragen wie diese gekoppelt: Was wäre, wenn ich damals nicht „das“ sondern „jenes“ gemacht hätte?

Es waren aber auch solche dabei, die ein schon weiter fortgeschrittenes Leben mit sich bringt und deren einzelne Momente sich zu einer langen, aufeinanderaufbauenden Perlenkette der Entscheidungen verbinden lassen. Die Fragen, die an einer solchen Kette dranhängen, sie wiegen merklich schwerer auf der eigenen Geschichte: Wäre alles anders (besser?) verlaufen, wenn ich damals die Stadt gewechselt hätte?, den anderen Jungen geküsst hätte?, nicht meinen Berechnungen sondern meinen Gefühlen gefolgt wäre? … man kann das selbstzerstörerische Spiel unendlich weiterdrehen.

Die Schwere solcher Gedanken ist unerträglich. Sie machen alle Beteiligten verrückt. Zumal wir doch alle wissen, die Dinge, um die es hier geht, sie lassen sich nicht mehr ändern. Wie sangen Die Sterne auf „Irres Licht“ so treffend: „Wahr ist, was wahr ist, dass das was wahr nicht mehr da ist“ – einmal entschieden haben sich die Verhältnisse verändert und die Konsequezen ihre Geltigkeit. Und jedes Wiederaufsuchen ist nichts anderes als Selbstkastei.

Und doch können wir es nicht lassen. Ganz so, als ob wir die Zeit doch einmal biegen und die Parallelstränge unserer Existenz so in jene Stellung bringen könnten, die es uns ermöglichen würde, noch einmal an der gleichen bedeutsamen Weiche zu stehen?

Und dann? Wird alles wirklich leichter?
Wäre uns Menschen geholfen, wenn wir diesen Silver Surfer Trick einmal geschenken bekommen würden?
Könnten wir der Geschichte den entscheidend anderen Twist geben?

Es mag bezweifelt werden. Unsere Entscheidungswelten sind nicht dichotom und selbst wenn dem mal so wäre, so werden sie nicht einfacher, wenn wir sie zum zweiten Mal zu treffen haben. Nein, unsere Leben sind nicht so simpel.

Sollten wir also nicht statt mit dem vergangenen zu Hadern uns lieber im Hier und Jetzt für den gemeinsamen Blick nach Vorne entscheiden?

Als ich 2003 David Bowie in New York zum Interview treffen durfte, ging es vor allem um sein neues Album „Heathen“, das erste nach einer sehr langen Phase eher nicht so spannender Projekte.
„Heathen“ beginnt mit dem Song „Sunday“. Ich möchte hier zunächst Auszüge aus dem Text zitieren, bevor ich Bowie selbst die finalen Worte überlasse:

„Nothing remains / We could run / when the rain slows / Look for the cars or signs of life (…)

Everything has changed / For in truth, it´s the beginning of nothing / And nothing has changed / Everything has changed / For in truth, it´s the beginning of an end / And nothing has changed / And everything has changed / In your fear / Of what we have become“

David Bowie: „Die Texte sind gerade für meine Verhältnisse sehr direkt, sehr deutlich. Mit „Heathen“ ging es mir nicht darum, ein Alter ego zu kreieren. Dieser Protagonist, das bin ich. Ich behandele genau die drei, vier Fragen, die ich als älterer Mann noch habe. Wenn man jung ist, hat man viel mehr Fragen. Mit dem Alter werden es weniger, aber dafür stellt man sie immer öfter.“

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