Linus Volkmann

Meine drei schlimmsten Lesungen (Plus die eine in Bamberg)

Was ist die Halbwertszeit von Scham? Sicherlich unterschiedlich je nach Typ, ich persönlich grusele mich sogar heute noch über Verfehlungen aus der Kindheit. Verfehlungen, von denen vermutlich niemand anderes außer mir noch etwas weiß. Bei meinem ersten Referat an der Uni damals versehentlich „Aufkleber“ statt „Aufklärer“ gesagt zu haben, Blumen an wen überreicht, die nicht angenommen worden, im Kindergarten in die Hose gemacht. Scham! Schande! Forever!
In diesem Sinne hier ein paar Erinnerungen an Lesungen von mir, die ich einfach nicht verdrängen und daher genauso gut auch aufschreiben kann…

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Foto: Felix Scharlau

Hafeneck, Mainz, irgendwann kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts
Die Story muss echt schon ewig her sein. Ich verzichte daher freizügig auf Anonymisierung der Protagonisten. Außer mir kommt ohnehin niemand schlecht weg. Also, es stand eine Lesung an im „Hafeneck“. Das ist in Mainz eine hiesige von einem Punk geführte Kneipe – zwischen Wirtshaus und Abschuss. Der Verlag, in dem ich Bücher veröffentliche, heißt Ventil sitzt ebenfalls in Mainz und weiß von Anbeginn der Zeit die unkomplizierte Art des Hafenecks zu schätzen, hier einfach immer mal Lese-Dates anzusetzen. Das Klientel des Ladens wiederum feiert durchaus handfeste Social Beat Poeten wie zum Beispiel die beliebte Urgewalt Jan Off oder auch den Spermbirds-Sänger Lee Hollis, der in dieser Story auch den Main-Act auf der Behelfs-Bühne darstellte. Seine Bücher, seine Vortragsweise, alles genagelt. Ich dagegen konnte mit meiner linkischen Performance und leicht debilen Texten wie „Super-Lupo verliert ein Bein“ die Crowd nicht wirklich überzeugen. Obwohl … überzeugt haben dürfte ich sie dereinst. Bloß wovon, das möchte ich auch im Nachhinein lieber nicht wissen. Zudem sitzt man bei Hafeneck-Lesungen mitten im Gastraum und es werden Essen und Getränke ausgeschenkt bei Veranstaltungen. Das heißt, wenn es nicht läuft, sitzt man nicht der stummen Starre des gelangweilten Publikums gegenüber sondern dem lärmenden Wirtshaus, das versucht das Mikrofon des Vortragenden durch eigene Gesprächs-Lautstärke zu übertönen oder zumindest nach der Bedienung zu rufen.
Nun, das war ein schlimmer Abend für mich, aber dennoch in der Form nicht der Rede wert. Bemerkenswert ist erst, was nun geschah…
[Tempus-Wechsel hin zum Präsenz, Stilmittel, das die Geschichte ab dem Punkt dringlicher erscheinen lässt] Als Unterbringung ist „privat“ veranschlagt für heute. Auch das noch! Wird man bei einer Veranstaltung gefeiert, mag diese Konstellation mitunter ganz geil sein, weil dann hat man länger was von seinem Fame, war es aber scheiße wie gerade, bedeutet das bloß, die Scham zieht sich in die Länge. Wenn zum Beispiel der Ladenbesitzer versucht, das Desaster zu abzumildern und sowas sagt wie „Naja, die Leute hatten immerhin ihren Spaß“ – und man weiß, er spart sich zu ergänzen: „Aber ganz sicher nicht wegen oder mit dir…“
Im Hafeneck jedenfalls wohnt der Betreiber über seiner Kneipe und dort darf ich auch schlafen. Wobei ich kurz noch etwas über jenen Betreiber sagen muss, denn „geschäftsführender Punk“ umschreibt seine Person nur mangelhaft, handelt es sich bei ihm doch um nicht weniger als einen der beiden Sänger der legendären Mainzer Fun-Punkband Die Frohlix. Als komisches Kind war ich von denen Riesenfan – und bin es streng genommen immer noch.

Okay, ich habe mich also nicht nur blamiert vor Leuten, die ich mir später noch mühsam als Banausen schönlügen werde, sondern auch vor meinem Jugendidol? Abfuck. Aber nicht mehr zu ändern. Ich gehe zeitig hoch in seine Wohnung, unten gibt es für mich eh nichts zu feiern. Die, die jetzt noch da sind und vorhin dabei waren, wirkten eh etwas peinlich berührt, als ich eben bei ihnen rumstand. Wenigstens sehe ich die Behausung eines echten Fun-Punkstars! Und toll, er ist also offensichtlich Messie (wobei ich gar nicht sicher bin, ob es diese Bezeichnung damals schon gab). In seinem Zimmer hängen aber auch getrocknete Rosen an der Wand, Pierrot-Masken und selbstverfasste Gedichte seiner Partnerin. Sehr heimelig, also wenn man es mag. Ich lege mich schlafen. Irgendwann mitten in der Nacht wache ich auf. Jemand drängt sich an meinen Rücken. Interessant. Wo bin ich noch mal? Ach so, in Mainz über dem Hafeneck. Ich riskiere einen Schulterblick. Aha, der Sänger der Frohlix löffelt mich. Ich meine, hey, ich bin ja Fan. Also, why not? Kurz darauf allerdings kommt die dazugehörige Freundin ins Zimmer, ziemlich aufgelöst und zieht den Rockstar an einem Bein von meiner Isomatte und aus dem Zimmer. Geschrei, dann ist alles still. Im Nachhinein erklärt sich alles ganz einfach. Der Frohlic hatte stark getrunken und wankte benebelt zum Klo. Dort allerdings vergaß er, dass er heute im Zimmer seiner Freundin (oder Frau?) nächtigt, weil er ja den Lesungsbesuch im eigenen untergebracht hat. Dorthin zogen ihn aber just dann Halbschlaf und Rausch nach dem Toilettengang. Wo er sich an mich kuschelte, im Glauben, ich sei seine Lebenspartnerin. Jene aber begann ihn zu suchen, als er nicht vom Klo zu ihr heimkehrte und fand ihn in misslicher Lage halb auf mir. Das machte sie traurig und sie zog ihn wieder zu sich ins Zimmer.
So hatte die schreckliche Lesung für alle irgendwie doch noch ein Happy End. Irgendwie.

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Foto: Publikum aufgenommen nach einer Lesung in Oldenburg 2014.

Münster, Luna Bar, circa 2004
Nachdem ich meine selbstauferlegte Zeichenzahlvorgabe für diesen Text bereits mit dem ersten überzog wie ein Hund, mache ich es jetzt kürzer:
Zusammen mit Jens Friebe und einer berühmten Popliteratin versuchen wir das bis zur Langeweile gelassene Publikum in der Studentenstadt Münster zu erfreuen. Friebe hat seine erste Platte gerade oder gerade noch nicht draußen, es dürfte also ungefähr 2004 sein. Wir geben uns wie gesagt alle Mühe, aber so richtig geil läuft es nicht und die Zuschauerzahl: begrenzt. Doch irgendwann füllt sich der Laden mehr und mehr. Wir fühlen uns neu motiviert, doch die hinzugekommenen Gäste wirken noch unwilliger als die alten. Lösung: Man erwartet, dass um zehn Uhr ein Northern-Soul-DJ übernimmt. Davon wussten wir indes nichts, aber als die ersten sich lautstark in der Richtung äußern, kommt es dann doch an. Von einem zum anderen Moment ist der Besucherzulauf nicht mehr Segen sondern ein Elend. Was Arschlöcher, denke ich und falls ich wem damit Unrecht tue: Umso besser. Ihr sollt auch keine Freude haben. Bald werden wir von der Bühne komplementiert und die CD, die wir zum Abmarsch noch laufen lassen, fliegt nach zehn Sekunden aus dem Player. Und endlich erklingt … Northern Soul. Ja, ja, wir hauen ja schon ab. Viel Spaß, ihr Widerlinge!

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Crailsheim, 7180 Bar, 11.12.2010
Viele meiner besten Momente auf und neben der Bühne haben mit Jens Friebe zu tun, hier ist er aber noch mal beteiligt an etwas extrem Gegenteiligem. Crailshaim … wo bitte soll das noch mal sein? Bei solch rätselhaften Unorten hofft man als Vortragender natürlich immer, dass sich dort abseits der Urbanität eine potente Subkulturszene gebildet hat, die nur darauf wartet, dass endlich mal wer zu ihnen kommt und diesen dann mit Eifer, Textkenntnis und Party überrascht. Natürlich ist es in Wahrheit zu allermeist nicht so. Hallo Crailsheim im Norden von Ba-Wü. Kein prosperierendes JUZ erwartet uns sondern eine Art Rockkneipe… so diese provinzielle Persiflage einer verkitschten Hardrock-Café-Imagination, die irgendein Dorf-Checker mal zu einem realen Schreckens-Ort ausbaute. Hornbach sei Dank. Im Städtchen und dieser dazugehörigen Kneipe weiß man als Auswärtiger schnell, hier kann man auch mal aufs Maul kriegen. Weshalb? Zum Beispiel einfach dafür, dass man grelle Bücher schreibt und am Ende auch noch so aussieht. Doch bis auf ein paar Drohungen in der Richtung wird uns dieses Schicksal erspart bleiben. Die erhoffte, beseelte Dorfjugend ist zur Veranstaltung ohnehin (natürlich) komplett Zuhause geblieben, ein paar unhöfliche Mitt-Fünfziger Damen mit leeren Augen finden sich versehentlich ein und sagen einem später, wie wenig gut sie alles fanden. Vermutlich meinen sie damit aber auch allgemein das Leben in Crailsheim.
Natürlich mag es vermessen klingen, fehlenden Publikumszuspruch stets damit zu erklären, dass es die Stadt oder die Leute darin nicht drauf hätten. So sei das auch nicht gemeint. Denn ganz sicher gibt es sie auch – die Möglichkeit, big in Crailsheim zu sein. Das ist uns aber absolut nicht gelungen und das kann man auch niemand anders vorwerfen. Doch unser Trip an den verwunschenen Ort weckte zumindest nicht das Gefühl, es wäre wert, sein ganzes Tun daraufhin auszurichten, dass es beim nächsten mal anders würde. Eher hupten wir, als wir das durchgestrichene Ortsschild am Ende der Hauptstraße passierten. Nie wieder!

Bonus: Bamberg
Dieses malerische, abgehängte Städtchen rund um Szenegrößen im Exil (Peter Wittkamp) oder dort hängengebliebene Big-Styler-Autoren (Frank A. Schneider) hält eigentlich eine schöne Veranstaltung parat in einer Art schönem Gebäude. Jugendstil, Stuck, Wasserspeier, so ein Scheiß halt. Als ich den ersten Absatz des ersten Text‘ zu lesen beginne, merke ich allerdings, ich bin eigentlich jetzt bereits zu voll, um zu sprechen. Auweia. Das kann ja noch was geben…

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