La Tourette

Alle Aufmerksamkeit für die schrägsten Figuren und Fantasien

La Tourette (Photo by Olga Baczynska)

La Tourette (Photo by Olga Baczynska)


“We are an high energetic acoustic live duo.”
(La Tourette über La Tourette)

Tonia Reeh und Rudi Fischerlehner kennt man von ihren früheren Inkarnationen: Die Berliner Pianistin und Sängerin Reeh machte als Monotekktoni einzigartig kunstvollen Krach, spielte davor bei Masonne und veröffentlichte unter ihrem echten Namen beeindruckende Alben wie „Boykiller“. Fischerlehner spielte schon in so vielen Formationen Schlagzeug, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten.

Seit ein paar Jahren treten die beiden zusammen als La Tourette auf, und wer sie mal gesehen hat, wird das nicht so schnell vergessen: Die auf ihr Klavier hämmernde und dabei umwerfend singende Tonia und den hochkonzentrierten Herrn Fischerlehner – „high energetic“ indeed. Jetzt gibt es ihr erstes gemeinsames Album “The Great Mickey Mouse Swindle” (solaris empire), das vor rasanten Tempowechseln und Stilbrüchen nur so strotzt: Rätselhafte Titel wie „Entblindung“ treffen auf ein wildes Konglomerat aus Rock’n’Roll, Jazz und Flamenco-Gitarren, manchmal alles in einem Stück. Manche finden La Tourette anstrengend, und ja, das sind sie: Fordernd, drängend, ungeduldig. Also dringend nötig im hiesigen Wischiwaschi-Wellness-Pop.

Erstmal Kompliment für das tolle Album – ich mag es sehr, vor allem den Song “Killer”!
Rudi: Danke für die Blumen, die gehen im speziellen Fall von „Killer“ auch an den Gastmusiker des Tracks Olaf Rupp, der die Flamenco-Gitarren-Hooks beigesteuert hat!

Warum “Mickey Mouse Swindle” – was repräsentiert diese Figur für euch?
Rudi: Die Idee kommt von Toni und ich bin in dem Fall auch nur Exeget. Die Oldschool-Mickey Mouse hat für mich so was einfaches, analoges, so wie wir auch mit unserem Klavier-Schlagzeug-Minimalismus.
Toni: Ein Idol der Nachkriegsgeneration. Mickey wurde erst bekannt, nachdem Walt Disney sein Image um 180 Grad drehte. Er hatte keinen Erfolg mit dem alten Mickey, also konvertierte er ihn vom Halunken zum Biedermann, mit dem sich die Bevölkerung besser identifizieren konnte, eben ganz so, wie es heutzutage auch oft ist: Wenn eine öffentliche Person zu ungreifbar und verschieden von Otto Normalverbraucher ist, wird es zu anstrengend für den Unterhaltungskonsumenten und er schaltet ab. Er darf aber auch nicht zu korrekt daherkommen, die kleinen Fehler und Charakterschwächen sind ganz wichtig, man selbst muss sich besser fühlen können, als der vorgeführte Protagonist. In diesem Fall handelt es sich zwar nur um eine Zeichentrickfigur, aber die berühmteste.
Genau das Gegenteil machen wir aber bei unserem Album: Wir verlangen alle Aufmerksamkeit auch für die schrägsten Figuren und Fantasien. Deshalb vielleicht der Schwindel. Und weil sowieso alles ein riesiger Schwindel ist und wir nur alle Zeichentrickfiguren unserer selbst.

Wofür steht La Tourette: Das Syndrom oder das Corbusier-Kloster? Oder beides?
Rudi: Die Hörer_in kann selbst entscheiden, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen oder die La Tourette-Ambivalenz unaufgelöst auszuhalten. Das Kloster war übrigens eine Zusammenarbeit von Le Corbusier und Iannis Xenakis, einem meiner Lieblingskomponisten, ein schöner Nebenfaden.
Toni: Beides birgt die Freiheit der Inhaftierung, des Geistes oder des Körpers: Die Geheimnisse des Gehirns, die Unsteuerbarkeit, das Verrücken unserer Wahrnehmung durch Krankheiten – und das Kloster als Heilmittel bei Verwirrung, früher nicht analysierte psychische Veränderungen, die keiner erklären kann. In diesem Falle La Tourette als das Kloster, das gleichzeitig als Bunker und Durchzug für Winde mit musikalischen Ambitionen gelten kann – das Kloster wurde ja so gebaut, dass viel Wind durch die Gänge pfeifen kann und allgemein ist bekannt, dass Wind eher aufrüttelnd wirkt statt beruhigend. Was passiert dann mit den Insassen, die Ruhe und Erbauung suchten? Sie müssen ihr Weltbild komplett umkrempeln – zumindest stelle ich mir das so vor.

In einer Rezension wurde euer Album wegen der verschiedenen Stile und Arrangements als “anstrengend” beschrieben – ist das eine Auszeichnung für euch oder ärgerlich?
Rudi: Es würde mich auf alle Fälle verunsichern, wenn nicht manche Stimme meine Alben weiterhin anstrengend finden würde. Ich mag es, wenn Musik vielschichtig ist, Fragen aufwirft und auch was riskiert. Besonders Popmusik soll heutzutage ja oft „nicht stören“, sondern eine angenehme Stimmung schaffen. Das interessiert mich persönlich nicht, ich will Musik machen, mit der man sich beschäftigen kann, die als Ausgang dazu dient, Sachen zu hinterfragen.
Toni: Für mich ärgerlich! Ich wollte endlich mal ‚ne aalglatte Popplatte aufnehmen! Ich werde das mal ohne Rudi probieren (Augenzwinkern an Rudi). “Leute, seht es doch als Kompilation, dann ist es gar nicht mehr anstrengend!” Ich finde ja Max Giesinger und Helene Fischer etc. sehr anstrengend, ich kriege da das Kotzen. Hätte ich die Wahl, mich mit Musik von denen oder Freezazz von Cecil Taylor oder Aki Takase einsperren zu lassen, würde ich letztere wählen.

Ihr arbeitet schon länger als Duo zusammen – ist das: anstrengend, inspirierend, oder?
Rudi: In den letzten Jahren hatte ich viele Duos, zum Beispiel Xenofox mit Olaf Rupp. Es ist schon irgendwie eine andere Sache, wenn es nur eine Achse gibt in der Band, musikalisch und unterwegs. Man kann sehr schnell und intuitiv arbeiten, muss allerdings auch Dinge ziemlich offen klären, weil Abstimmungen sind im Konfliktfall ja immer 1:1.
Toni: Inspirierend aspirierend.

Wer hat das “letzte Wort”?
Rudi: Bei musikalischen Fragen und im Mix wurde rumprobiert, bis wir beide zufrieden waren. Das hat auch schon mal gedauert. Ich denke, wir hatten schon vor den Aufnahmen eine grundsätzliche Übereinstimmung, wie die Band klingen soll und was wir wollen. Beim Album kam dann manchmal die Frage auf, bildet man das Live-Duo ab, als wär es ein Konzert, oder produziert man eine Platte mit mehr Farben, als live möglich sind. Im Endeffekt ist es so eine Mischung aus den beiden Zugängen geworden, wir haben Piano und Drums gemeinsam „live“ eingespielt, und von da ausgehend noch mit Overdubs und Gästen gearbeitet. Die Trackauswahl war eine längeres Herumschieben, bis man eine Abfolge mit einer gewissen inneren Logik und Spannung gefunden hatte. Irgendwann war dann die Setliste da, wo man sah, ja das funktioniert…
Toni: Beide, aber ich ein bisschen mehr.

Live oder Studio – wo fühlt ihr euch wohler?
Rudi: Das natürliche Biotop für die Musik, die wir machen, ist für mein Gefühl das Konzert. Im Studio versucht man dann natürlich, von den Songs die perfekte Version aufzunehmen, das macht auf alle Fälle auch Spaß und bringt einen als Band immer weiter, weil man Dinge im Detail betrachtet.

Tonia wird häufig mit Amanda Palmer oder PJ Harvey verglichen – nerven Vergleiche oder fühlst du dich geschmeichelt/richtig oder falsch verstanden?
Rudi: Hmmm, verschieden. Die Leute wollen einen halt irgendwie einordnen und vergleichen. Bis zu einem gewissen Grad finde ich das okay. Man sagt ja auch „Du erinnerst mich total an meinen Onkel“.
Toni: Wenn man mich mit Amanda Palmer vergleicht, dann hat man mich falsch verstanden. PJ hingegen schmeichelt mir. Alle brauchen Vergleiche, weil sich Musik und vor allem Stimmen nicht so gut mit Worten beschreiben lassen. Wann kommen die Vergleiche für Rudi? Da ich mir leider überhaupt nichts gut merken kann, fällt mir hier nur Ringo Starr ein.

Welche Bands und Musiker_innen mögt ihr selbst? Gibt es Vorbilder für euch?
Rudi: Klar gibt´s das, in sehr viele Richtungen. Was La Tourette betrifft, also Songs und experimentierfreudige Pop-Produktionen, fallen mir als persönliche Referenzen ein:
– Jad Fair and Kramer: “Roll out the Barrel”
– A&E: “Oi!”
– Sonny Sharrock: “Black Woman”
– Phillip Boa and the Voodooclub: “Helios”
– The Sisters Of Mercy: “First and Last and Always”.

Toni: Nein, Vorbilder gibt es nicht. Ich mag Fiona Apple, Fela Kuti, La Caita, PJ Harvey, Nick Cave, Neneh Cherry, Cecil Taylor. Und ich mag die Musik in allen Filmen von Tony Gatliff, der sich vor allem der Musik der Roma und Sinti verbunden gefühlt hat.

Wie politisch kann, darf, ja muss (Pop)-Musik sein?
Rudi: Das ist ein vielschichtiges Thema und schwer kurz zu beantworten. Kunst sollte nicht auf eine politische Aussage eingeengt werden, weil sie spricht so viele andere Bereiche anspricht. Aber es ist für mich grundlegend ein wichtiges Signal, das zu tun, was man für richtig hält, woran man glaubt, Eigenständigkeit zu suchen und nicht ständig auf die Vermarktung zu schielen. Ich bewundere Leute, die sich diesen Ansatz durch ihre Karriere bewahren. Das ist etwas, was Kunst und Musik tun können, ein Selbstvertrauen in die Richtung auszustrahlen. Kapitalismus hin oder her, wir haben in vielen Bereichen die Wahl, wie weit wir mitspielen, und wir können uns unsere Freiräume erhalten und schaffen, in der Phantasie und in der realen Welt. Texte sind natürlich ein Mittel, politische Themen zu formulieren, mindestens so wirksam ist es, sich nicht den Hörgewohnheiten zu beugen und neue eigene Musik zu suchen.
Toni: Es gibt kein „gerade heutzutage“! Die politische Situation war immer ähnlich beschissen für arme und benachteiligte Minderheiten, also muss man sich für sie als Künstler einsetzen. Es fällt nur jetzt mehr auf, da die Mittel, sich zu wehren andere geworden sind und wir auch ständig darauf aufmerksam gemacht werden, insofern können wir nicht mehr denken, dass wir ja keine Schuld daran hätten, dass alles immer extremer wird und Grundrechte nur noch für Personen gelten, die in der ersten Welt geboren sind.
In einem alten Video von mir (zu „Dynamite“) fahre ich mit einem Puppenwagen mit einer Bombe drin in die Deutsche Bank – mein Anliegen ist immer noch dasselbe! Heute wäre ich dafür eventuell jetzt im Knast, aber ich muss sagen, das wäre es mir wert.
Die Frage ist doch: Auf welcher Seite steht man?
Menschen, die in einem Kriegsgebiet bleiben müssen und miterleben, wie das ist, wenn die Freunde, der Vater oder die Mutter ins Ungewisse abzureisen – ich habe versucht, mich in diese Menschen hineinzuversetzen.  Zu „Waterboard“ hat mich ein Traum inspiriert, in dem mich eine in weiß gekleidete Frau auf einer endlos langen Straße in ein schwarzes Wasser führt, in dem ich dann nach langem Kampf ertrinke. Gefangen im endlosen Wasser habe ich mir vorgestellt, wie sich all diese Foltermethoden anfühlen, die sich die Menschen ausgedacht haben.

a_coverWichtigster Song des Albums für euch und warum?
Rudi: Das kann ich dir sagen, wenn ich die Platte in einem Jahr mal wieder höre.
Toni: Ist nicht auf dem Album.

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