Die Osaka-Kyoto-Keihan-Connection feat. Koki Emura, Koshiro Hino, Yuko Kureyama, Rie Lambdoll, Yoshihisa Shiota, Toshio Kajiwara

Deutsch Japanische Freundschaft

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Alex Mayor, Unknown, Koshiro Hino, Yuko Kureyama, Koki Emura, Lena Willikens, Sarah Szczesny im Muraya, Kyoto (Photo: Thomas Venker) Muraya


Die Osaka-Kyoto-Keihan-Connection featuring Koki Emura, Koshiro Hino, Yuko Kureyama, Rie Lambdoll, Yoshihisa Shiota, Toshio Kajiwara sowie Sarah Szczesny, Lena Willikens, Georg Odijk und Stefan Schneider

Osaka-Kyoto_17„Das sind die Leute, die du unbedingt kennenlernen und interviewen musst“, eröffnen mir Sarah Szczesny und Lena Willikens mit glühender Euphorie. Ich bin gerade erst vor wenigen Stunden in Kyoto angekommen, um die beiden im Rahmen ihrer Artist Residency im Goethe-Institut zu besuchen. Der Jetlag rüttelt vehement an mir, doch der Sake weiß ihn wohl dosiert zu dämpfen.
Der Zettel, der mir von den beiden überreicht wird, liest sich vielversprechend: lauter mir unbekannte Namen japanischer Musiker_innen, wohl recherchiert mit Projektzuschreibungen und sonstigen weiterführenden Kommentaren. Der Masterplan für die kommenden Wochen steht also.

Es wird sich schnell zeigen, die beiden haben gute Vorarbeit geleistet und angetrieben von Neugierde und Lust, den repräsentativen Kern der lokalen Musikszene von Kansai aufgemischt, wie man die Region zwischen Kyoto und Osaka zusammenfassend bezeichnet. Man macht sich in diesem Teil von Japan wenig aus engen Genregrenzen und ästhetischen Berührungsängsten. Die Szene lebt von ihrem DIY-Selbstermächtigungs-Ethos. Allen ist klar, dass sie auf sich selbst gestellt sind in einem Land, in dem es wenig bis keine Förderungsstrukturen für Musiker_innen und Künstler_innen gibt, zumindest nicht in einem mit Europa vergleichbaren Umfang. Mit der Konsequenz, dass man zwar oft ein Murren und Stöhnen zu hören bekommt angesichts der Alltagsbelastungen, die das mit sich bringt, aber eben auch, dass der künstlerische Habitus noch viel mehr von Institutionsskepsis und einer sympathischen Enfant-Terrible-Haftigkeit bestimmt ist. Man hat sich noch nicht der Welt aus Anträgen und Sponsoring ergeben.

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Soto, Kyoto

I – Soto
Nicht zufällig gehört das am Nordhügel von Kyoto (unterhalb des Philosophenweg) in einem unscheinbaren Haus gelegene Soto zu den beliebtesten Venues der Stadt unter den Musiker_innen und Künstler_innen der Region. Hier lebt seit 2016 die Band Kukangendai den Traum vom eigenen Laden. In 2017 gastierten hier (und nächtigten in der angegliederten Künstlerwohnung) unter anderem Inga Copeland, Don´t DJ, Synth Sisters, Taco und Alexandra Atnif. Sarah Szczesny erzählt, dass Koki Emura von EM-Records sie in den Laden gebracht habe, um Lieven Martens Moana (aka Dolphins Into The Future) und 7FO zu sehen und schwärmt von Örtlichkeit und Auftritten gleichermaßen. Lena Willikens ergänzt, dass beim nächsten gemeinsamen Besuch Kukangendai ihnen eine Führung durch das Haus, das ihnen übrigens gehört, gewährt hätten. Ihnen sei sofort ins Auge gestochen, wie geschmackvoll alles designt sei, vom Layout der Plakate über die Büroeinrichtung bis hin zur Bar.

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Koki Emura, Osaka (Photo: Thomas Venker)

II – Koki Emura, EM Records „Ich veröffentliche Musik für gebildete Menschen

“Ich war ein schlechter Schüler.” Koki Emura, dessen Name eben bereits gefallen ist und der mir generell sehr oft bei meinen Exkursionen durch den kulturellen Dschungel von Osaka und Kyoto begegnet, empfängt mich überraschend auf deutsch in seinem Büro in der Innenstadt von Osaka. Allerdings gesteht er mir umgehend, dass er aber nicht viel mehr als diese Worte aus der Schule erinnert, und so wechseln wir lieber ins Englische, schließlich wollen wir für Einblicke sorgen und nicht dem Dadaismus frönen.
Von Außen deutet nichts darauf hin, dass im ersten Stockwerk des unscheinbaren Gebäudes in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Nagelstudio seit 1998 japanische Musikgeschichte geschrieben wird. Denn in diesem Jahr hat sich der heute 47jährige selbstständig gemacht und an seinem mittlerweile imponierenden Katalog aus mehr als 170 Wiederveröffentlichungen und Neuentdeckungen gearbeitet. Auf EM Records finden sich gleichermaßen contemporary Clubmusik wie thailändische Popmusik der 70er Jahre, obskure indische Musik, Klassische Musik, Blues, afrikanischer Fusion-Jazz, Post-Punk-Platten und John Cage-Veröffentlichungen. Ein Autorenlabel wie es im Buche steht.

Kyoto-Osaka_03Koki Emura zeigt sich zu Beginn unseres Gespräch zunächst sehr begeistert darüber, dass wir der gleichen Generation entstammen: „Alter ist ein wesentlicher Einflussfaktor für Musikgespräche“, betont er und berichtet mir, dass viele der Kunden seines Labels zwischen 30 und 40 Jahre alt seien. „Ich veröffentliche Musik für gebildete Menschen, die viel von Musik verstehen und keine Wahrnehmungsgrenzen kennen. Sie sind Major Listener.“

Sein eigener Weg zum Major Listener begann bereits in den frühen Teenagertagen, als Emura noch kein Geld zum Plattenkaufen hatte, sondern sie im 300-Yen-Store (das entspricht 2,50€) ausgeliehen und überspielt hat. Damals hauptsächlich noch amerikanische Top-40-Musik und immer in „ernsthafter Diskussion mit meinem Geldbeutel“, wie er es ausdrückt. So richtig heiß gelaufen sei er dann mit dem Aufkommen von HipHop und Acts wie Run DMC, Beastie Boys, Public Enemy, LL Cool J oder den Jungle Brothers. „Man kann schon sagen, dass ich nach HipHop verrückt war. Diese Energie, diese Wut – es ging um nicht weniger als die Revolution. Und es war eine Fashion-Kultur, in der Musik und das Visuelle zusammen kamen.“
Was er damals schon nicht mochte, waren die „Male Chauvinist Pigs“ unter den HipHoppern. Wir müssen beide erstmal lange über diese geniale Kreation von Google Translate lachen. „Damit meine ich Musiker wie Busta Rhymes oder Shabba Ranks, die habe ich als kritisch empfunden.“

Ich möchte vom Major Listener Koki Emura mehr über die Genese der lokalen Musikszene wissen. Nicht ohne einen gewissen traurigen Unterton in der Stimme – denn Emura ist, der späten Geburt geschuldet, erst 1990 aus Hiroshima nach Osaka gezogen – berichtet er, wie fruchtbar Punk in Osaka ankam und der Szene gleich zu Beginn der 80er Jahre wahre Heydays bescherte. Wesentlich in dieser Frühphase seien Hijokaidan gewesen, die von Jojo Hiroshige 1979 gegründete Noiseband – Hiroshige sollte später in der Band BiS Kaidan spielen und das Label Alchemy Records mitgründen. Danach googelt sich der Fan Koki Emura erstmal in Rage und zeigt mir immer wieder die Discogs-Seiten von Bands und Künstler_innen wie Hanatarash, Phew (Projekt von Hiromi Moritani, die in den frühen 80er Jahren zudem in der Band Aunt Sally war und unter anderem mit Ryuichi Sakamoto, Can, DAF, den Einstürzenden Neubauten, Bill Laswell und Conny Plank in ihrer Karriere zusammengearbeitet hat), Vanity, Noise Unit, Ultra Freak Out Or Die und Yamatsuka Eye. Womit er bei den Boredoms angekommen ist, jener Band, die von so großer Bedeutung für das Selbstbewusstsein der lokalen Künstler_innen in der Stadt sei. „Ihr internationaler Erfolg war ein Wendepunkt für die Szene in Osaka. Es gab zwar bereits wie berichtet erste Punk- und Post-Punk-Bands, die eine gewisse Beachtung erfuhren, aber es waren die Boredoms, die eine ganze Generation an Hardcore- und Punkbands begründeten in der Kansai Region.“

Osaka-Kyoto_04Bei aller Begeisterung für subkulturelle Strömungen und einen kultivierten DIY-Approach wird einem schnell klar, dass Koki Emura nicht nur viel über Musik weiß, sondern auch über das Geschäft mit dieser. Er erzählt, dass er von 1992 bis 1998 ganz klassisch bei Jellybean Records gelernt hat. Der Plattenladen bestellte und vertrieb damals gleichermaßen weltweit und und in Japan. Ein Netzwerk, von dem Emura bis heute profitiert. „Was nutzt es dir, wenn du dir sicher bist, viele potentielle Käufer zu haben, aber die Platten kommen nicht bei ihnen an?“, fragt er mich rhetorisch. Um sicherzustellen, dass seine Platten zwischen Nordamerika, Europa, Australien und Asien gut verfügbar sind, greift er deswegen auf ein Netzwerk aus so renommierten Institutionen wie Honest Jons, Morr Musik und a-musik zurück. Insofern ein guter Zeitpunkt, um mal für einen Moment nach Deutschland zu blicken.

III – a-musik / Stefan Schneider „Uns interessierte an Japan die Eklektik“

Wieder zurück in Köln schaue ich im Kölner a-musik Laden vorbei. Betreiber Georg Odijk erzählt mir, dass er das Label von Koki Emura sehr schätzt für “die gute Ästhetik und die Detailliebe, die in alles vom Cover bis zu den Begleittexten fließt”. Ihm gefällt, dass sich das Label nicht auf den einen Sound festschreiben lässt – dementsprechend finden sich die Platten über diverse Fächer im Laden verteilt: von Weltmusik und experimenteller elektronischer Musik bis hin zu Post-Punk. Odij selbst begeistern aus dem EM-Records-Katalog übrigens die Singende Sägen- und Thai-Pop-Veröffentlichungen am meisten. „EM ist insofern ein spezielles japanisches Label, da es gar nicht so viel japanische Musik veröffentlicht“, merkt er an. Aber das störe keineswegs. „Denn was uns von Anfang an bei Musik aus Japan interessiert hat, war diese Eklektik. Von Polka-Elektronik-Krach über Schlager bis zu dem, was da alles Pop sein kann. Es ist in Japan ja nicht so, dass sich die harten Krachjungs und die Popmusiker wie bei uns gegenüberstehen. Leute wie beispielsweise Haruomi Hosono produzieren mal in allen Bereichen etwas.“

Der Düsseldorfer Musiker Stefan Schneider (Kreidler, To Rococo Rot, TAL Records) verbrachte im März 2017 einen zweiwöchigen Arbeitsaufenthalt in Osaka, um sich in die dortige Noise- und Elektronikszene einzuarbeiten. Auch er berichtet mir von den großen Einfluss der Punkbewegung auf die japanische Musikszene. “Der Buchautor David Hopkins, der seit 1980 bei Kobe lebt, hat mit dem Blick des Zugezogenen in seinem Buch “Dokkiri” die japanische Undergroundszenen und auch die politischen und sozialen Bedingungen, die die jeweiligen Szenen hatten oder hervorgebracht haben, sehr gut beschrieben”, führt er aus. “Ich selbst habe während meiner Zeit in Osaka sehr viel Konzerte gesehen und auch selbst einige gespielt. In Japan treten mindestens drei oder vier Bands an einem Abend auf – das Spektrum reicht dabei von A capella-Duos, Gitarren-Noise, fragilen Percussion- Kompositionen bis hin zu wilden Elektronik-Sets – nur mit “Ableton Live” habe ich niemanden spielen sehen. Alle hatten sehr erfindungsreiche, technische Set-ups.”


Osaka-Kyoto_03IV – Koki Emura, EM Records „Ich bin großer Fan von Musik“

Aber zurück nach Osaka und in das Büro von Koki Emura.
So wichtig das Geschäft im Alltag auch ist, letztlich ist es nur ein notwendiges Übel, denn im Grunde geht es bei einem Label wie EM Records immer um die Leidenschaft für die Musik. Koki Emura nickt bejahend: „Ich bin zunächst einmal ein großer Fan von Musik! Ich bin geradezu verrückt nach Musik. Ich gebe fast mein gesamtes Geld für Platten, Tapes, CDs und Musikbücher aus – und das seit 25 Jahren.“

Keine leeren Worte wie ein Blick durch das EM Records-Büro zeigt, in dem Emura, seit er kürzlich privat umgezogen ist, den Großteil seiner privaten Sammlung lagert. Die Platten reichen bis an die Decke, und man sieht an der Art, wie sie im Regal stehen, dass er sie regelmäßig herauszieht und anhört. Hier verstaubt das Archiv nicht, sondern ist tägliche Inspiration für die Labelarbeit. „Ich bin stets auf der Suche nach Musik, die ich noch nicht gehört habe“, fährt er fort. „Von Beginn an habe ich mich nicht für Genres interessiert. Jazz und Rock höre ich genauso gerne wie HipHop oder jamaikanische Musik, Reggae und Rocksteady.“

Die wichtigsten Fixsterne für seine Arbeit seien John Cage, dessen Musik und Philosophie ihn von früh an geprägt habe, sowie Yoshi Wada, merkt er an. Wada, der in den Vereinigten Staaten lebt, hat Emura vor sechs Jahren in Osaka besucht und für ein paar Tage sogar bei ihm gewohnt. Eine Begegnung, die von nachhaltiger Bedeutung war. „Wir haben viel über das Leben und die Musik gesprochen. Es war eine fantastische Erfahrung für mich. Ich kann nicht en detail verraten, was Yoshi Wada mir erzählt hat, aber es beeinflusste mich sehr.“

Osaka-Kyoto_16„Manche Leute sagen, dass das, was ich veröffentliche, Nischenmusik sei“, kommentiert Koki Emura die Außenwahrnehmung seines Labels. Andere wiederum sprechen davon, dass wir ein Insider-Label seien, womit gemeint ist, dass viele Musiker_innen und Künstler_innen EM Records-Platten mögen – das macht mich glücklich.“

Wie viele andere Labels, die sich Wiederveröffentlichungen widmen (wobei an dieser Stelle nochmals betont werden soll, dass EM Records schon seit 2000 kein puristisches Reissue-Label mehr ist), kann auch Koki Emura etliche Geschichten von langen Recherchen nach Künstler_innen und den Erweckungsmomenten erzählen, die seine Anfragen für diese bedeuteten. Am liebsten ist ihm die Geschichte von Peter Blackman, dem Bandleader der Pan-Afrikan-Band Steel ‘n’ Skin. Blackman, der vor fünf Jahren leider an Krebs verstorben ist, hatte sich schon lange von der Musik zurückgezogen, um sich als sozialistischer Aktivist in England zu engagieren, wofür er unter Anderem von der Queen zum Sir ernannt wurde. Doch nachdem Emura ihm einen Brief geschickt hatte, rief er ihn zurück und die beiden starteten einen intensiven Dialog. Die Wiederveröffentlichung, die am Ende dieses zustande kam, sollte zu einem der größten Erfolge von EM Records werden und der Band ein regelrechtes Comeback besorgen – und das ohne Auftritte wohlgemerkt. “Peter Blackman hat daraufhin die Band versammelt und ein Gruppenbild für mich aufnehmen lassen”, berichtet Emura sichtlich gerührt.

Zum Abschluss frage ich Koki Emura, welche jüngeren Künstler_innen aus Osaka und Umgebung es ihm angetan haben. „YPY“, kommt unmittelbar die Antwort. „Ich habe ihn im Newtone Records Plattenladen kennengelernt, wo er gerade selbstgebrannte CDRs mit seiner Musik vorbeigebracht hat.“ Emura erwarb eine davon, entdeckte „ein großes Talent“ und veröffentlichte 2016 das Album „Zurhyrethm“ von Koshiro Hino, wie der Künstler hinter dem Projektnamen YPY heißt.

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Koshiro Hino, Yoshihisa Shiota and Yuko Kureyama im Meditations, Kyoto (Photo: Thomas Venker)

V – Koshiro Hino „Die Regeln sind so geheim, dass selbst wir sie nicht kennen“

Koshiro Hino gehört derzeit in der Tat zu den spannendsten und mit 50 bis 60 Shows im Jahr auch aktivsten Musikern aus Osaka. Er ist zudem einer der wenigen, der auch regelmäßig für ein bis zwei Tourneen pro Jahr nach Europa kommt, mal mit seiner Band Goat, mal solo; und auch die Ostküste der USA hat er bereits betourt.

Wir lernen uns dort kennen, wo man Musiker_innen abseits von Clubs am besten kennenlernt. Im Plattenladen. Hino ist mit seiner Freundin, der Musikerin Yuko Kureyama mit der Keihan-Bahn aus Osaka nach Kyoto gekommen, um im Meditations Plattenladen die neusten Tapes seines Labels birdFriend auf Kommissionsbasis abzugeben. Wir nutzen die Gelegenheit, um ein bisschen mit dem Betreiber des Ladens, Yoshiihisa Shiotas, über die lokale Musikszene zu sprechen, danach gehen wir in ein nahegelegenes Restaurant.

Als YPY ist Koshiro Hino ein echter Tape-Magier. Seine Liveshows bestreitet er mit zwei 4-Spur-Tape-Recordern, auf denen er vorbereitete Sounds abspielt und neu collagiert. „Ich habe so mehr Freiheiten als ein DJ, da ich acht verschiedene Spuren zur Verfügung habe. Auf den Tapes sind zwar auch teilweise fertige Songs, aber ich versuche selbst diese jedes Mal zu verändern, indem ich Effekte drüber lege oder eben andere Stücke hinzu füge“, erklärt er mir sein Set-Up.
Während ihm die Collage der Soundtapes für YPY leicht fällt, verlangt das klassischere Songwriting, das für die Band gefragt ist, Koshiro Hino merklich mehr Autorendisziplin ab. „Manchmal brauche ich drei bis vier Monate für einen Song“, gibt er zu. „Die Arbeit an YPY Tracks nutze ich dann, um den Kopf wieder frei zubekommen.“

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HINOSCH (Photo: Schiko)

Trotz der vielen Auftritte kann selbst Koshiro Hino noch nicht von der Musik leben. Erst im Vorfeld der drei Auftritte, die er mit Stefan Schneider und dem gemeinsamen Projekt HINOSCH in Deutschland im Dezember letzten Jahres absolvierte, gab er zumindest einen seiner zwei Nebenjobs auf. „Ich arbeite jetzt nur noch in einem Plattenladen“, erzählt er sichtlich zufrieden mit der Entwicklung.

Kennengelernt haben sich Schneider und Hino im Februar 2016 in Kobe, als sie beide im Guggenheim House gebucht wurden. Stefan Schneider erinnert sich: „Hino hatte alle Sounds für das Set auf sorgfältig beschrifteten Tapes, die sortiert auf einem kleinen Tisch lagen. Er hat die Tapes sehr schnell gewechselt und die Laufgeschwindigkeiten der Rekorder manuell hoch- und runter gefahren. Ich hatte so etwas nie zuvor gehört. Alle Klänge, die er mit seinen Rhythmusmaschinen aufgenommen hatte, waren rhythmisch völlig unabhängig voneinander und haben, einem eigenem Leben folgend, eine einzigartige Schönheit entfaltet. Auch der visuell nachvollziehbare, technisch einfache Prozess, hat mich begeistert.”

Osaka-Kyoto_19Als Koshiro Hino ein halbes Jahr später im Winter 2016 für Auftritte mit seiner Band Goat nach Deutschland kommt, nutzten Stefan Schneider und er den Aufenthalt in Düsseldorf (wo er zudem im Salon des Amateurs eine Soloshow spielte) für eine gemeinsame Jam-Session, die derart produktiv ausartete, dass sie kurzerhand nicht nur HINOSCH ins Leben riefen, sondern auch gleich mit „HINOSCH“ eine EP auf Schneiders Label TAL veröffentlichten (ein Album ist für den Herbst 2018 in Planung).
Ein konkretes Konzept für das Projekt gibt es nicht, merkt Hino an. „Zumindest haben wir nie über ein solches gesprochen. Wir improvisieren lediglich auf Basis meiner vorbereiteten Tapes – wobei es wohl schon gewisse Regeln der Zusammenarbeit gibt, aber die sind so geheim, dass selbst wir sie nicht kennen.“ Schneider ergänzt: „Er sitzt an einer Rhythmusmaschine und ich an einem analogen Tapeloop. Ein sehr übersichtliches Set-up. Jeder ein Instrument. Später käme noch ein Sinuston-Generator und ein analog Synthesizer dazu.”

Die Initialeinladung für die Kurztour im vergangenen Dezember ging von Markus Acher von The Notwist aus, der Koshiro Hino und Stefan Schneider gerne bei dem von ihm an den Münchner Kammerspielen kuratierten Alien Disko Festival dabei haben wollte, aus. Hinzu kamen noch Auftritte im Hamburger Westwerk und in Düsseldorf im Postpost. Stefan Schneider betont bei unserem Treffen in Köln, dass es ihnen nicht darum gegangen sei, nur auf der Bühne zu improvisieren. “Wir wollten eine gemeinsame und eigenständige Spielidee entwickeln. Meist dauert so etwas recht lange und braucht viele Konzerte. Wir aber haben in nur zwei Probetagen eine gültige Form hinbekommen. Ich denke, dass wir als HINOSCH eine Musik machen, die wir mit keinem anderen Partner machen könnten.”
Eine weitere Hinosch-Tournee ist für den Herbst 2018 angedacht, rund um einen geplanten Auftritt beim Meakusma Festival. Und wenn es nach Koshiro Hino geht, wäre das auch ein guter Anlass, Osaka für eine Zeit zu verlassen und in Europa sesshaft zu werden, um neue Erfahrungen zu sammeln.

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Turtle Yama (Yuko Kureyma und Kamei) im Conpass, Osaka

VI – Yuko Kureyama „Ich dachte mir: das kannst du doch auch“

Das Leid, nicht von der eigenen Musik leben zu können, das teilt Yuko Kureyama mit ihrem Freund Koshiro Hino. Sie arbeitet nebenher als Servicekraft in einem Café und als Verkäuferin in einem Chanel Kosmetikladen. Und das, obwohl sie aktuell gleich drei zeitintensive Projekte unterhält: Kopy, Turtle Yama und The Creams. “Bei The Creams bin ich aber nur ein einfaches Bandmitglied, die Songs schreibt die Sängerin alleine”, relativiert sie bescheiden ihre Rolle. “Bei meinem Soloprojekt Kopy hingegen produzierte ich mit Drum Machines, vorbereiteten Tapes und einem Noise-Osziliator die Musik alleine.”
Bei Turtle Yama, dem dritten Projekt im Roster von Kureyama, das sie gemeinsam mit ihrer Freundin Kamei unterhält, handelt es sich um eine erweiterte Version von Kopy, da sich der Part von Kamei darauf beschränkt, auf der Bühne über die Sounds von Kureyama zu improvisieren.
Was das genau bedeutet, davon konnte ich mir bei einem Konzert im Conpass in Osaka ein Bild machen. Die beiden schichten und verschieben ihre Sounds furchtlos frei über die Pattern des jeweiligen Tracks – und das bis an die Grenzen der Synchronität. Die Musik von Turtle Yama (und ebenso von Kureyamas Soloprojekt Kopy) kümmert sich wenig um Erwartungshaltungen und Kontinuitäten, gerade das Gegenteil ist der Fall, sich klanglich abrupt allen normativen Erwartungen und Zuschreibungen zu entziehen, das übt einen großen Reiz aus.

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Ami Okamoto, Sarah Szczesny, Yuko Kureyama und Brutal Fruits im Sokrates, Kyoto

Einige Wochen nach unserem gemeinsamen Abendessen mit Koshiro Hino sitzt Yuko Kureyama dann gemeinsam mit Sarah Szczesny, Lena Willikens und Koki Emura im Goethe-Institut in Kyoto, um unter der Moderation von Tetsuya Ozaki der Frage nach der Bedeutung von DIY für das eigene Schaffen nachzugehen. Sie erzählt, dass sie quasi durch Selbstermächtigung in bester Punk-Tradition zur Musikerin geworden ist: “Ich habe damals in einem Musikvenue gearbeitet und jeden Abend die Bands spielen sehen. Irgendwann dachte ich mir: Das kannst du doch auch. Also habe ich mit anderen Mitarbeitern des Ladens die Band Water Fai gestartet”. Die Band wurde derart erfolgreich, dass sie umgehend zum SXSW-Festival nach Austin eingeladen wurde und im Anschluss eine USA-Tour absolvierte. Nach einer kurzen Pause ergänzt Kureyama: “Im Gegensatz zur elektronischen Musik, wo man wirklich nicht die Instrumentenanleitung lesen muss, um produzieren zu können – das würde nur schaden, man erhofft sich ja geradezu den unkorrekten Sound –, muss man das Gitarrespielen aber schon etwas üben.”

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Conpass, Osaka

Interessanterweise eilt Kureyama in der lokalen Szene der Ruf voraus, sehr exzentrisch zu sein. Eine Zuschreibung, die man wohl nur als Japaner teilen kann. Sie neigt dazu, die Dinge klar auszusprechen – und wer in Japan derart seine Meinung vertritt, der polarisiert und eckt an. Da ist es scheinbar das Leichteste, in eine Schublade gesteckt zu werden. Doch das ist Blödsinn. Denn was Kureyama sagt, zeugt von einem klaren und selbstbewussten analytischen Blick auf die Geschehnisse. Jeglichen Versuch, in die Tatsache, dass The Creams nur aus Frauen bestehen, eine besondere Wichtigkeit hineinzulesen, wehrt sie beispielsweise entschieden ab. Das spiele keine Rolle. Denn in ihrer Szene müsse man das nicht zum Thema machen, die Frauen wären glücklicherweise angemessen repräsentiert. Besonders einflussreich seien aktuell OOIOO, die Zweitband von Yoshimi Yokota, der Schlagzeugerin der Boredoms, berichtet sie, die zugleich auch noch an der Seite von Kim Gordon Mitglied der Band Free Kitten sei.
Als ich bei unserem Interview nochmals auf den Do It Yourself-Background zurückkomme, liefert sie auch hier die schönstdenkbare Antwort: “DIY ist etwas sehr Natürliches für mich. Man sieht Dinge und eignet sie sich an. Ich habe da nie darüber nachgedacht.”

CREAMS #kyoto #sokrates @yukokure @brutalfruits ✊✊

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VII – Rie Lambdoll „Ich wünschte sehr, ich könnte den ganzen Tag nur Musik produzieren und Bilder malen” Gleich nach dem Auftritt von Turtle Yama ritt Rie Lambdoll im Conpass aus. Sie ist die eine Hälfte der Band Synth Sisters, mit denen sie 2016 auf 17853, dem Label von Chee Shimizu, die vielbeachtete und Mentor Akifumi Nakajim gewidmete Maxi “Aube” veröffentlicht haben. Nachdem es um die Sisters eine Zeitlang still war, soll nun in 2018 ein neues Album auf EM Records erscheinen. Während die Musik der Synth Sisters in der Tradition von Ambient-Bands wie Tangerine Dream steht, ist das Soloprojekt Rie Lambdoll deutlich dancelastiger ausgelegt und flirtet gleichermaßen mit den dunklen Seiten von Disco und Techno. Diese gewisse Düsternis wundert nicht, schließlich nennt Rie Lambdoll auch Scorn, das Industrial-Noise-Projekt von Mick Harris aus den späten 80er Jahren als großen Einfluss während ihrer Sozialisation. “Ich wollte solche Musik wie er produzieren und kaufte mir dafür mit 19 einen Synthesizer und einen Roland SP808-Sampler.”

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Rie Lambdoll, Conpass, Osaka

Neben den Synth Sisters und Rie Lambdoll produziert sie aktuell noch unter den Imprints LA Meru Mu (gemeinsam mit ihrer Tochter, der erst 6jährigen Lil Meru, der es aber laut der Mama ein bisschen an der Motivation fehlt) und Crossbread (ebenfalls mit ihrer Synth Sisters Partnerin Mayuko) Musik. Die Grenzen zwischen den Projekten seien fließend, gibt sie zu verstehen. “Genaugenommen produziere ich immer Beats, spiele Synthesizer und singe. Nur dass Crossbread etwas noisiger und nicht so meditativ wie die Synth Sisters ausfällt.” Obwohl sie zusätzlich zu den bereits erwähnten Veröffentlichungsplänen auch noch an einer Solo- Platte für Effective96 Records arbeitet, ist auch Rie Lambdoll weit davon entfernt, von ihrer Musik leben zu können. “Ich wünschte sehr, ich könnte den ganzen Tag nur Musik produzieren und Bilder malen, aber ich muss leider einem Job in der Internetbranche nachgehen, um meine Tochter zu ernähren.”

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Yoshihisa Shiot, Meditations, Kyoto

VIII – Yoshihisa Shiota, Meditations „Warum hören wir Musik? Es ist eine große Frage. Eine wichtige Frage.“ Einige Tage nach dem Besuch mit Yuko Kureyama und Koshiro Hino gehe ich nochmals zu Meditatons Recods, um mit dem Betreiber Yoshihisa Shiota zu sprechen. Er erzählt, dass er vor 16 Jahren von Tokyo über den Umweg Osaka, wo seine Eltern leben, nach Kyoto gekommen sei. Damals sei er 27 Jahre alt gewesen und Tokyo ihm schlichtweg zu groß und schnell vorgekommen. Er sehnte sich nach mehr Zeit und Muse zum intensiven und sorgfältigen Musikhören. „Kyoto ist still und langsam, das schätze ich sehr, da es mir andere Möglichkeiten der Beschäftigung mit Musik gibt.“ Zunächst lebte und arbeite Shiota deswegen auch in einem alten, traditionell japanischen Haus im nördlichen Teil der Stadt. Doch nach einigen Jahren der Randexistenz ist er mit dem Laden schließlich doch näher ans Zentrum gezogen, einfach da er neben dem Mailordergeschäft auch mehr aktives Laufpublikum brauchte. Das Sortiment von Meditations spiegelt den sorgfältigen Auswahlprozess des Betreibers wieder. Weniger ist mehr ist die Devise von Yoshihisa Shiota. Neben den aktuell auch in Kyoto sehr gefragten Platten von Labels wie RVNG Intl und Music from Memory führt er eine ausgewählte Sektion an Drone, Noise, Ambient, New Age und Jazz und pflegt einen Indien-Schwerpunkt, der sich neben Platten auch in Räucherstäbchen und Meditationsratgebern bemerkbar macht. Osaka-Kyoto_11Auf meine Frage, was ihn an Musik interessiere, erwidert mir Yoshihisa Shiota, dass ihn Genre nicht interessieren würden – die Fächer mit ihnen versehen zu müssen, das sei ein notwendiger Kompromiss mit seiner Kundschaft. Zu weiteren Kompromissen sei er aber nicht bereit, weshalb die Platten im Laden beispielsweise nicht mit Preis ausgezeichnet sind: „Die Kunden sollen die Platten auswählen, ohne dabei an den Preis zu denken. Es geht erst um die Inspiration und dann das Geld.“ Aber zurück zu meiner Frage. „Ja, das ist die Frage: Warum hören wir Musik? Es ist eine große Frage. Eine wichtige Frage. Die Auswahl der Musik hier im Laden hat viel damit zu tun. Warum spricht uns Musik an? Nun, wir suchen uns selbst in der Musik. Wir suchen Glück. Wir wollen mit der Musik eine Beziehung zur Natur aufbauen. Musik führt uns durch das Leben. Aber wir werden all das nicht auf einer Platte oder CD finden, auch nicht in der Musik selbst – es liegt in uns begraben. Die Musik ist nur ein Mittel, uns dahin zu führen.“ „Musik und Spiritualität gehören für mich zusammen“, führt Yoshihisa Shiota weiter aus. „Ich denke, dass all die Musik, die ich bei Meditations führe, zur indischen Kultur und Philosophie der Meditation passt. Die Hörer können in der Musik dasselbe Glück finden wie beim Meditieren. Ob er persönlich denn happy sei, will ich zum Schluss unseres Gespräches wissen. „Ja, ich bin happy.“

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Toshio Kajiwara, Hitozoku, Kyoto (Photo: Thomas Venker)

IX – Toshio Kajiwara, Hitozoku Record, Antibodies „Ich bin an der ganzen Geschichte interessiert“ Als nächstes steht eine Visite bei Hitozoku Record an. Sarah Szczesny und Lena Willikens hatten ihn mir nachdrücklich empfohlen, nicht zuletzt, da er der Betreiber Toshio Kajiwara so unglaublich nett sei – ihnen habe er beispielsweise nach nur wenigen Minuten Bekanntschaft einen Plattenspieler für den Dauer ihres Aufenthaltes ausgeliehen und sehr hilfreiche Tipps für Risographen-drucke in Kyoto gegeben. Hitozoku Record liegt nur ungefähr einen Kilometer von Meditations entfernt, doch die Atmosphären könnte nicht unterschiedlicher sein. Es liegt eine gewisse Anspannung über den Laden, jetzt nicht negativ gemeint, sondern im Sinne künstlerischer Nervosität. Man spürt sofort, dass Kajiwara nicht so in sich ruht wie Yoshihisa Shiota. Mit sympathischen, aber auch leicht traurigen Augen blickt er mich tief an. Unser Gesprächseinstieg ist sehr unmittelbar und von einer Offenheit, wie man sie selten in Japan erlebt. Toshio Kajiwara berichtet mir, dass er mit seiner Frau, der Tänzerin Yoko Higashino nach 3/11 (dem Erdbeben, das für den grauenhaften Störfall in Fukushima gesorgt hat) wie so viele andere Künstler_innen von Tokyo nach Kyoto gezogen sei. „Tokyo lag zu nahe an Fukushima. Es war eine Zeit größter Verunsicherung. Sechs Monate lang wussten niemand, was wirklich vor sich geht. Die Anlage hätte ja jede Minute in die Luft fliegen können. So verloren viele ihr Vertrauen und Glauben an die Autoritäten. Viele Familien zerbrachen damals, da die meisten Mütter der Kinder wegen wegziehen, die Männer aber ihre Jobs nicht verlieren wollten. Es war eine existenzielle Krise, die eigentlich bis heute anhält, da man die Radioaktivität nicht wirklich richtig erfassen kann. Und so vermeiden wir noch immer gewisse Fischarten aus dieser Region. Ich persönlich gehe soweit, gar nichts von dort zu essen. Aber in Tokyo kommst du da gar nicht drum herum. Die meisten Nahrungsmittel in der Stadt kommen aus dem Norden.“ Zum Abschluss seiner Ausführungen nimmt er für die Wanderbewegung, die von Tokyo nach Kyoto stattgefunden hat, gar das Wort „Exodus“ in den Mund. Für eine Sekunde spricht keiner von uns beiden. Wir blicken verloren durch den Raum und versuchen, einen Ansatzpunkt zu finden. Der naheliegende ist erstmal ein in der Ecke am Boden positionierter Fernseher, auf dem eine verwackelte und verrauschte Live-Performance zu sehen ist. Ich frage nach, ob es sich dabei um einen Auftritt von Masonna aka The Violent Geisha handelt – und ernte ein überrascht-anerkennendes Nicken von Kajiwara. Ich erzähle, wie ich ihn, Melt Banana, Keiji Haino und weitere im Rahmen der Red Bull Music Academy vor einigen Jahren in Tokyo interviewen und live sehen durfte. Von diesem Kontext ist es nicht all zu weit zu John Zorn, dessen Platte „Spillane“ ich beim kurzen Stöbern vor unserem Gespräch bereits aus dem Fach gezogen habe. Toshio Kajiwara berichtet, dass er früher in New York gelebt, zum Gründungsteam des Plattenladens A1 gehört und lange im Tonic gearbeitet habe, einem frühen Epizentrum der Avantgarde-Jazz-Bewegung um John Zorn, für den er bis heute den größten Respekt hat. Mit plötzlich hell scheinenden Augen erzählt Toshio Kajiwara von seinen 20 Jahren in der Stadt und seinem musikalischen Projekt DJ Trio mit Christian Marclay und DJ Olive. „New York war in den 90ern eine ganz andere Stadt. Schlichtweg atemberaubend. Alles war so spontan und verrückt. So viele spannende Menschen lebten dort oder kamen vorbei – ich habe praktisch jeden kennengelernt, der damals Musik produziert hat, und war in die Soundlab-Parties involviert.“ 9/11 bedeutete für New York und ihn das abrupte Ende dieses Lebensstils. „Danach ging alles ganz schnell. Die USA zogen in den Irakkrieg – und plötzlich fühlte sich für mich alles falsch an. Wie konnte ich weiter teilhaben an einer Welt des Sichbetrinkens und Koksziehens?, wo all diese armen Kerle in den Krieg ziehen mussten. Ich wollte nicht mehr Teil der Ablenkungsmaschine sein.“ Und so verließ er die Stadt gen Tokyo, um dort ein neues Leben mit den in New York gemachten Kontakten aufzubauen. Osaka-Kyoto_06Mittlerweile verstehe ich den Blick in den Augen von Toshio Kajiwara. Kein leichtes Unterfangen, nach zwei existenziellen Krisen weiterhin den Blick optimistisch nach vorne zu richten. Und doch ist es Kajiwara gelungen, in Kyoto seit 3/11 viel zu bewegen. Neben dem Plattenladen, der ihm als ökonomische und soziale Basis dient, investiert er die meiste Energie in Anitbodies, ein Contemporary Dance Collective, das er aus Mitglieder einer ähnlicher Gruppe, die er in Tokyo geführt hat, hier neu aufgebaut hat. Stand in Tokyo die Kunst allein im Vordergrund, so spielt mittlerweile die soziale Positionierung eine ebenso große Rolle. „3/11 war wie gesagt ein sehr massiver Einschnitt für uns alle, persönlich, aber auch künstlerisch. Mit Antibodies wollen wir der Gesellschaft zuarbeiten. Es geht natürlich um Dance Performances, aber eben auch um Aufklärungsarbeit und Workshops. Wenn du in Japan aufs Land hinaus fährst, dann sieht du viele leere Dörfer, in denen nur noch alte Leute leben. Die Jungen ziehen alle in die Städte. Wir versuchen jenen, die zurückbleiben, Informationen zu vermitteln, so dass der Abstand nicht noch größer wird.“ Am Vorabend unseres Gesprächs konnte ich mir einen Eindruck von der Arbeit von Antibodies bilden bei der Aufführung ihrer Performance „Dislocation Dance“ im „Kyoto Art Center“. Die Handlung in aller notwendigen Verkürzung: Auf einer Mondstation ist eine Bombe explodiert. Bei dem Unglück wurde ein Teil der Station zerstört, und viele Bewohner starben. „Die Personen, die dir im Eingangsbereich begegnet sind, waren alles Geister. Sie erzählten über ihre Beziehung zu dem Ort – aber das konntest du natürlich nicht verstehen, da es auf Japanisch war.“

Toshio Kajiwara, der nicht nur die Stücke schreibt, sondern sich auch um die Finanzierung kümmert und die Musik beisteuert (manchmal mit Unterstützung von Koshiro Hino) erklärt, dass es sich dabei um eine Art kleinen Testlauf für eine sehr viel größere Perfomance handelt, die sie im Spätherbst 2018 auf einer Insel in Südjapan namens Enigma aufführen werden. „Wir planen, die gesamte Insel, die einen Radius von 6 Kilometern hat, einzubeziehen. Wir werden die Besucher von dem Moment an, in dem sie das Boot verlassen, über die Insel leiten – am Ende mündet alles in einer großen Performance. Drumherum wird es Workshops geben, mit denen wir das Thema für die Anwohner aufarbeiten.“ Das Sortiment von Hitozoku Record umfasst Second Hand-Platten und Bücher. Man spürt, dass Toshio Kajiwara trotz aller Niederschläge, die er miterleben musste, noch immer ein suchender Künstler ist, den Genregrenzen nicht die Spur interessieren. „Ich bin an der ganzen Geschichte interessiert“, merkt er an. Eine schöne Formulierung, die so nonchalant ein Universum öffnet, in dem Weltmusik und Techno sich ebenso die Hand reichen wie Jazz, Noise und Soulmusik. Es sind Klänge der Imagination, die hier schwingen. Sie sind die Basis für die Texturen, die Toshio Kajiwara als DJ Bing für die Performances aber auch für seine sonstigen Sets zu weben weiß. Dank des Multi-Kanal-Soundsystems können viele verschiedene Sounds zugleich stattfinden, ohne dass der Raum überstrapaziert wird. „Es geht nicht nur um Rhythmus, sondern um so viel mehr. Im Idealfall können die Besucher herumlaufen und den Sound in vielen verschiedenen Orten erfahren.“

kyoto at night #djbing #antibodiescollective #toshiokajiwara

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Kyoto-Osaka_11

Yoshi Saito, Lena Willikens, Sugai Ken im Marco Nostalgy, Osaka

X – Forever Records / Newtone Records

Es gäbe noch so viele weitere Orte und Personen zu nennen. Zum Beispiel den Osakaner Plattenladen Forever Records, dessen Betreiber Satoru Higashiseto Stefan Schneider auf das ursprünglich 1982 erschienen Album von NON BAND aufmerksam gemacht, das nun ich im April 2018 auf dessen TAL Label wiederveröffentlicht wird.
Oder auch Newtone Records, der von Koki Emura als “der Plattenladen für elektronische und Dance-Musik” empfohlen wurde, dessen Sortierung aber auch in allen anderen bekannten und unbekannten Genres kribbelig war. Lena Willikens berichtet, dass sie hier die 7-Inch-Single „Ao“/“Midori“ („Blau“/“Grün“) von Mari Sekine gefunden habe. Als sie Koki Emura von dem Fund berichtet, sei dieser sofort losgerannt, um sich auch noch ein Exemplar zu sichern.

Kyoto-Osaka_10Umso schader, dass ich Yoshi Saito, den Betreiber von Newtone Records, nicht zu fassen bekommen habe. Unsere einzige Begegnung findet bei einem von ihm veranstalteten Konzert-Happening mit YPY, dem Phantom Kino Ballett von Sarah Szczesny und Lena Willikens sowie den RVNG Intl. Künstlern Visible Cloaks, Matt Werth, Sugai Ken und 7FO statt, bei dem er schlichtweg zu viel zu organisieren hat. Das Event, das am frühen Nachmittag beginnt und bis in die Nacht andauert, sorgt aber nochmal für ein nachhaltigen finalen Eindruck der lokalen Szene in Osaka. Die Location Marco Nostalgy liegt am Ende einer langen mit Bars und Second Hand-Läden gefüllten Passage unter einer Bahnbrücke. Die Atmosphäre ist super entspannt. Es gibt selbstgekochte Suppe, Reisbällchen, günstige Drinks und einen endlosen Strom spannender Musik. Kurzum genau das Musikvenue, das man sich immer für seine eigene Stadt herbeisehnt.

YPY

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Kyoto-Osaka_08

Antibodies Installation im Muraya, Kyoto

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