Christian Mihatsch - Quo Vadis COP21?

Konsens durch Erschöpfung.

Christian Mihatsch publiziert als freier Autor unter anderem für die Badische Zeitung, Klimaretter.Info und die Taz, vornehmlich zu Umwelt-, Entwicklungs- und Welthandelsthemen. Seit der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 beobachtet er alle vier jährlichen Verhandlungswochen intensiv und gilt mittlerweile als Experte für die Vertragsverhandlungen und den diplomatischen Duktus sowie die Formulierungsfeinheiten.

Hallo Christian, ich freue mich sehr, dass du dir trotz der Klimakonferenzhektik Zeit für ein Gespräch mit mir nimmst. Was hast du mir denn da mitgebracht?
Das ist das Abkommen. Das ist die Entscheidung.
Du meinst: Das ist der aktuelle Verhandlungsstand.
Genau. Es wurde vor vier Jahren in Durban eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Ad Hoc Working Group on the Durban Platform for Enhanced Action (kurz ADP), die seitdem gearbeitet hat. Das ist das Resultat ihrer Arbeit. Am Samstag wurde diese Arbeitsgruppe um 12 Uhr geschlossen und das Resultat der Arbeit an die COP, die Konferenz der Parteien, das höchste Entscheidungsgremium innerhalb der UN-Klimarahmenkonvention, weitergereicht.

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US-Verhandler Daniel Reifsnyder

Das heißt, dass an dem Dokument weitergearbeitet wurde während die COP schon getagt hat?
Du musst das so sehen: Die Klimarahmenkonvention ist ein Verein, der eine Mitgliederversammlung unterhält, die COP, die Conference Of The Parties. Innerhalb des Vereins gibt es viele Sachen zu regeln: Neben Finanzfragen werden auch Leute gewählt und wieder abgewählt und so weiter. Aber das ist alles technisches Kleinklein, das keine Rolle spielt. Wichtig ist, dass der Verein eine Arbeitsgruppe eingesetzt, in der alle Vereinsmitglieder dabei sind: die ADP.
Natürlich hat die COP während der ersten Woche schon ein paar Mal getagt, aber da haben sie nur das Kleinklein abgehakt, die Buchhaltung vom letzten Jahr angenommen… Denn parallel dazu hat die Arbeitsgruppe noch gearbeitet – und das sind die eigentlichen Klimaverhandlungen. Mit der Übergabe des Berichts hat sich nun die Arbeitsgruppe selbst geschlossen: „Das ist unser Resultat, die Arbeitsgruppe ist zu.“ Nun diskutiert die Mitgliederversammlung des Vereins.
Wie habe ich mir die bisherige Arbeit denn vorzustellen?
Die erste Verhandlungswoche hat angefangen mit einem 54-Seiten-Text, und das hier sind aktuell noch 42 Seiten – es wurden bislang also 12 Seiten rausgestrichen.
Waren da denn schon elementare Punkte dabei?
Nee. Ursprünglich war das eine 80-seitige Ideensammlung, für die alle Länder gefragt wurden, was sie denn gerne hätten. Das fängt bei der Präambel an. Das eine Land möchte da gerne die Menschenrechte und die Frauenrechte und die Rechte der indigenen Völker verankert sehen. Das nächste Land möchte das aber in der Reihenfolge Rechte der indigenen Völker… und schon hat man zwei Optionen mit unterschiedlicher Reihenfolge.
Inhaltlich sind die aber gleich, so dass sich das leicht moderieren lässt.
Genau. Am Anfang hatte man also ein 80-Seiten-Werk, in das alles reingeschmissen wurde. Im nächsten Schritt wurde bei Fällen, wo de facto dasselbe gemeint ist, höflichst angefragt, ob jemand etwas dagegen hat, wenn man diese Optionen zusammenlegt.
Es geht darum, ein Dokument zu entwickeln, in dem die Minister die Kernfragen, die politischen Fragen klar sehen können. Man muss diese so genau herausarbeiten, dass bei allen strittigen Fragen möglichst nur noch zwei oder drei Optionen bestehen. Man kann einem Minister drei Optionen zumuten, aber keine 25, die sich nur marginal unterscheiden. In der ersten Woche wurde also auf Diplomatenebene der Text derart geschärft und die kritischen Stellen herausgearbeitet, dass nur noch wenige Optionen bestehen, die sich effektiv unterscheiden. Also nicht nur in Kommata und in der Reihenfolge der Wörter. Dann kann man zu den Ministern sagen: „Nun mach mal.“
Das heißt aber auch, dass in der ersten Woche noch kein relevanter Punkt aufgelöst wurde?
Auf Diplomatenebene können die politischen Fragen nicht entschieden werden– sie können sie nur für die Minister herausarbeiten. Die Minister können dann die Entscheidungen treffen.

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Article 3

Liegt dieser Text allen 154 Nationen denn in der englischen Version vor oder bekommt jede Delegation eine Übersetzung in ihre eigene Sprache? Meine Frage zielt auf etwaige unterschiedlichen Auslegungen hin – während das eine Verb für uns vielleicht völlig angemessen ist, legt es eine andere Nation als anmaßend und scharf aus.
Ein Diplomat hat es mal lustig gesagt: Die Verhandlungssprache ist nicht englisch, sondern broken English. Es gibt natürlich Diplomaten, die weniger gut englisch sprechen, französischsprachige Diplomaten zum Beispiel, die haben es ein bisschen schwerer. Der finale Vertrag wird dann in alle Muttersprachen übersetzt.
Mit dem Risiko, dass bei der Übersetzung andere sprachliche Wahrnehmungen offensichtlich werden.
Das sind ja nicht die einzigen internationalen Verhandlungen der UNO seit 1949, das haben die ganz gut im Griff. Zum Teil sind das ja auch immer wieder die gleichen Formeln. Der absolute Klassiker: … each party „shall“/„should“ – auf deutsch: soll/sollte. Die kennen also den Unterschied zwischen „shall“ und „should“, das steht ja fast überall, oft kommt noch „other“ dazu, also die Möglichkeit noch ein ganz anderes Verb zu benutzen Diejenigen, die einen Sachverhalt schärfer haben wollen, setzen sich für „shall“ ein, die, die es softer haben wollen für das „should“.
Aber das wird so vielleicht zu technisch. Lass uns mal den wohl wichtigsten Artikel in dem Paper anschauen: Artikel 3, Paragraph 1. Hier geht es um das longterm goal. Man hat sich ja im Rahmen der Klimaverhandlung darauf geeinigt, zu versuchen, die Klimaerwärmung auf 2-Grad zu begrenzen. Das ist ein Langfristziel, das nun operationalisiert werden soll, indem man definiert, wie das geschehen soll. Die Umweltorganisationen und die V-20, die Gruppe der besonders verletzlichen und verwundbaren Länder, wollen dass man da 100% erneuerbare Energien reinschreibt und zwar bis zum Jahr 2050. Das steht hier im Text aber nicht drin. Andere Länder wollen die vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft. Das Ziel wäre, dass die Weltwirtschaft ab dem Jahr X überhaupt gar kein CO2 mehr ausstößt.

Was so wohl kaum im endgültigen Abkommen drin sein wird…
… das ist klar. Länder wie Saudi Arabien und Indien und so, die stellen sich da quer.
Der Trick ist, dieser Paragraph soll den Akteuren außerhalb der Carbon-Bubble, in der wir hier leben, den Finanzmärkten und der Realwirtschaft, ein klares Signal geben: Die Welt hat sich entschieden, es geht in diese Richtung – und früher oder später wird es keine CO2-Emissionen mehr geben, stellt euch drauf ein. Und je stärker das Signal wird, umso besser.
Wenn das Abkommen durchkommt, wird es hier einen Paragraphen geben. Aber die Dekarbonisation wird es wohl nicht schaffen, und auch keine Jahreszahl, eher was weicheres: in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, gegen Ende des Jahrhunderts.Realistisch ist eine longterm low emissions transformation, das ist soft genug: keine Frist, keine Null sondern nur low.

Wie hat man sich denn die Vorgehensweise vorzustellen: Wird von vorne nach hinten diskutiert? Oder zuerst die heiklen Punkte, da sonst eh nichts zustande kommt? Oder erst die einfachen, damit man nach Außen ein motivierendes Bild signalisiert? Man muss ja eine Verhandlungsdramaturgie stricken.
In der ersten Woche wurden die Spin-Offs gegründet, die Untergruppen, davon gibt es vielleicht acht oder zehn. Beispielsweise eine bedeutende für den Artikel 3, der ist ja mit fünfeinhalb Seiten auch relativ lang.
Jetzt in der Woche, wo die Minister da sind, wird es so laufen, dass die COP-Präsidentschaft Aufträge erteilt. Es werden immer zwei Minister ausgewählt, einer aus einem Entwicklungsland und einer aus einem Industrieland, die einen gemeinsamen Auftrag bekommen. Zum Beispiel sich um den Artikel 3, Paragraph 1 zu kümmern. Sie sollen sondieren, wo unter den Kollegen ein Kompromiss sein könnte. Die touren dann rum und reden mit allen anderen Ministern und kommen am Abend wieder und berichten der französischen Präsidentschaft und der Versammlung, was dabei herausgekommen ist.
Das findet alles im Verhandlungstrakt statt?
Ja, das wird schon hier stattfinden in der Halle 6, wo die vielen Sitzungssäle sind – und in den Cafés und auf den Gängen.
Das stelle ich mir ganz schön chaotisch vor, der Minister muss ja nicht nur die anderen abgreifen, er wird ja selbst stetig abgegriffen…
Der Verein hat ja 195 Mitglieder, die Länder verhandeln da nicht einzeln, sondern in Verhandlungsgruppen, die EU-Länder beispielsweise als EU … – Man verhandelt mit der Afrikagruppe, mit den sogenannten LDC, den Least Developed Countries und den LMDC, der Like Minded Group of Developing Countries.
Um noch ein Beispiel zu geben: Irgendwo in dem Dokument gibt es auch einen Paragraphen zum Waldschutz. Wer hat Interesse am Wald? Deutschland, Norwegen und UK auf der Geberseite, die Geld geben, und dann gibt es die Länder mit Wald, Brasilien, Indonesien und Kongo. Da musst du nicht mit dem Spanier reden oder so.
Wie viel müssen die Minister denn nach oben absprechen? Sie können ja nicht alles verbindlich zusagen.
Es ist von Land zu Land unterschiedlich, wie viel Freiraum der Minister hat. Es gibt Länder, wo der Premierminister, der Regierungschef seinen Minister sehr eng führt, und der permanent in der Hauptstadt anrufen muss und fragen, ob er das und das darf.
Genau daraufhin ziele ich ab: wird denn auch viel Good Cop/Bad Cop gespielt? Finden derartige Pokerspiele statt?
Es gibt alles. Es gibt sicher Länder, die das so spielen: „Ich würde ja gerne, aber die Regierung hat beschlossen, das geht also leider nicht.“

Paris_VertragWie zufrieden bist du denn mit dem Dokument, das aktuell als Zwischenergebnis auf dem Tisch liegt?
A: Wir haben ein Ergebnis. Es hätte ja sein können, dass sie sich komplett zerstreiten und Länder abreisen.
B: Das Ergebnis ist pünktlich auf dem Tisch gewesen. Wie geplant: Samstag um 12. Perfekt.
Sicherlich gab es in der ersten Woche Streit und die wesentlichen Streitpunkte sind immer noch offen und ungeklärt – aber man hat sich nicht völlig zerkämpft. Es herrscht keine aggressive Stimmung. Wir haben ein ganz gutes Zwischenergebnis. Nun ist die französische Präsidentschaft am Zug und definiert, wie man weitermacht. Sie besitzt das Vertrauen von allen Parteien, da wurde noch nichts verspielt.

Dass der erste Schritt geklappt hat, war ja fast schon zu erwarten, da der weltweite Druck immens war und es sich niemand leisten konnte, diese Etappe schon zu verbocken. Heißt das für dich aber schon, dass es ein gutes Signal dafür ist, dass wir auch am Ende zu einem positiven Abschluss finden.
Die meisten Leute gehen davon aus, dass es einen Vertrag geben wird. Die Frage ist, wie gut dieser wird. Wobei es schon noch scheitern kann, das ist nicht ausgeschlossen. Wenn es scheitert, dann an der Differenzierung zwischen den Ländern. In der Klimakonvention, die 1992 verabschiedet wurde, gab es diesen Annex, in dem die Industrieländer aufgeführt werden – wer da nicht drin ist, gilt als Entwicklungsland. Eine absolut scharfe Zweiteilung. Die Industrieländer haben Pflichten, und die anderen nicht. Die Industrieländer sind zur Reduktion ihrer Emissionen und zu Finanzleistungen verpflichtet. Praktisch ist Griechenland dazu verpflichtet, den Saudis Geld zu geben.
Die duale Logik.
Die Industrieländer sind nicht bereit, diese sture Zweiteilung aus dem Jahre 1992 beizubehalten. Aber es gibt Länder, die wollen das unbedingt. Die andere Maximalposition ist es, alle Länder gleich zu behandeln – was auch nicht unbedingt sinnvoll wäre, es gibt ja arme Länder.
Das könnte der Knackpunkt sein?
Ja. Die LMDC, die Like Minded Group of Developing Countries, zu der unter anderem Indien und Saudi Arabien gehören, und die von Malaysia angeführt wird, die bestehen darauf, dass die Zweiteilung beibehalten wird.
Wer sind die Hardliner auf der anderen Seite?
Es gibt kein Industrieland, das ernsthaft die Nulldifferenzierung befürwortet. Zum Beispiel die LDCs, die Least Developed Countries, das die Ausnahmen kriegen, das ist Konsens. Damit hast du ja schon den ersten Schritt von Differenzierung.

Christian, könntest du über das aktuellen Dokument mit den Optionen gehen und mit sicherer Hand Prognose abgeben, welche sich jeweils durchsetzt?
Viel kommt ja auf das Endgame an. Jetzt kommen die Minister und verhandeln eine Woche, die werden viele Fragen lösen können. Aber zum Schluss wird man vier, fünf echte Knackpunkte haben und die gehen dann ins Endgame, bei dem vom Samstag auf den Sonntag, oder gar vom Sonntag auf den Montag, nochmals so richtig durchverhandelt wird. Wie das Endgame genau ausgeht, das kann man nicht voraussagen.
Aber hier habe ich ein Paper von der Liz Gallagher (Programme Leader beim Think Tank E3G), in dem die Formulierungen mal auf „stark“ und „schwach“ abgeklopft werden. Da gibt es drei Szenarien:

Welche Sprache bringt welches Szenario mit sich? Wenn in der Vereinbarung am Ende steht „prepare and communicate“ – die Länder sollen einen Klimaplan erstellen und kommunizieren -, dann ist dies die schwächstmögliche Option, „Le Zombie“. Bei „Comme ci, Comme ça“ würden die Länder die Pläne kommunizieren und versuchen zu implementieren. Im bestmöglichen Szenario, „Va Va Voom“, würden sie sie kommunizieren und tatsächlich auch implementieren. Das hat Liz Gallagher durchdekliniert für die verschiedenen Themen, von Emissionsreduktion über Anpassung an den Klimawandel, bis hin zur Finanzierungsfrage und so weiter.
Auf eine Art, die du nachvollziehen kannst?
Ja. Die Frage ist immer, in welchem Szenario befinden wir uns. Die Chance, dass wir ein Abkommen bekommen, ist relativ gut. Die Frage ist nur: Wie gut ist das Abkommen? Ist es super schwach, dann sind wir im Zombieszenario, wo die Klimapläne bloß kommuniziert werden. Wenn das Abkommen „so-so“ ist, dann werden die Klimapläne kommuniziert und die Länder versuchen sie zum implementieren. Und wenn es richtig gut ist, dann werden sie kommuniziert und implementiert. Ich kann nicht voraussagen, auf welchem der drei Level wir uns am Ende befinden werden.

Wo du gerade das Endgame angesprochen hast. Das kann ich mir also schon wie ein Pokergame vorstellen, wo jeder mit dem letzten Bloßlegen der Karten so lange wie möglich wartet, oder? Da steckt ja Spieltheorie mit drin, also ein permanentes Abgleichen der Strategiemöglichkeiten.
Ja, klar. Hier in dem Dokument stehen Sachen drin, wo alle wissen, dass die rausfliegen. Aber irgendwer will das drin behalten, damit er Verhandlungsmasse hat. Da kannst du dann großmütig sagen: „Na gut, dann verzichten wir eben darauf.“ Dabei hast du das von Anfang an nur deswegen darein gestellt, um später großmütig darauf verzichten zu können. Jeder versucht das.
Immer im Endgame ist die Finanzfrage. Loss and Damage wird sicherlich auch noch drin sein – wobei das kommen wird.
Vielleicht können wir da noch kurz drüber sprechen, das ist ja in der Tat eines der Themen, das jeden hier bewegt.
Ich kann dir das mal kurz im Dokument zeigen:

Option 1: Der folgende Text soll als Artikel 5 zu Loss and Damage aufgeführt werden. So wie im Entwurf.
Option 2: Der folgende Text soll im Artikel 4 aufgeführt werden, neben den Approbation Commissions. Das würde bedeuten, es gebe keinen extra Artikel dafür. Loss and Damage wäre dann nur ein Teil von etwas anderen und somit weniger prominent, lediglich ein paar weitere Paragraphen neben den jetzigen 14 des Artikels 4. Es dürfte klar sein, wer was will. Die Entwicklungsländer wollen Option 1, wo Loss and Damage prominent als eigener Artikel auftaucht, den Industriestaaten wäre es lieber, wenn es keinen eigenen Artikel geben würde, sondern das unter den anderen sublimiert wird.

Eine Frage noch zur Kommunikation in den Verhandlungen: Es gibt ja viele, die hier sehr förmlich auftreten und die diplomatische Etikette hochhalten und sich erstmal ausführlich bei dem Gastgeberland Frankreich bedanken, andere wiederum werden auch mal ruppig in der Sprache und gehen andere an.
Der limitierende Faktor ist: Alle, die hier rumlaufen, wissen genau, man sieht sich spätestens nächsten März in Bonn wieder bei den Verhandlungen. Die kennen sich seit Jahren, da sie seit Jahren mit dem Klimazirkus um die Welt ziehen. Da geht keiner ans Limit. Das Holzen hat eine Grenze. Jeder weiß, man muss dem anderen drei Monate später wieder in die Augen blicken können.

Spielt die Sprache beim Verschleppen der Verhandlungen hin zum Endgame eine Rolle? Man könnte das bei Redebeiträgen, die überformell sich bei jedem und für alles bedanken ja durchaus denken. Ich muss da an den Filibuster denken, die im UU-Kongress beliebte Variante, die Beschlussfassung durch eine Marathonrede zu verhindern – er kommt ja passenderweise vom französischen Wort Flibustier, dem Freibeuter.
Diese langen, sehr formellen Ansprachen, die sind eher kulturell bedingt, manche Kulturen sind eben formeller. Zum Teil spielen die auch für das Heimpublikum, da sie wissen, das wird Zuhause gezeigt.
Die Klimakonvention will am liebsten eh, dass die Leute das, was sie wollen, gar nicht mehr im Plenum sagen, sondern schriftlich einreichen. Diese hyperformellen Wortmeldungen sind Zeitverschleiß. Aber wenn jemand den Fortschritt der Verhandlungen verschleppen will, dann macht er das nicht über die ewig langen Wortmeldungen, da kann man in der Sache oder durch Prozedurtricks Tage rausschlagen, nicht Minuten oder eine halbe Stunde. Da kann man richtig verschleppen. In der ersten Woche haben wir keine übermäßigen Tricks gesehen, wo man dachte, die versuchen Zeit zu schinden.

Ich habe in den letzten Tagen einige kritische Stimmen zum Timing gehört. Du bist aber der Meinung, dass es bis dato gut aussieht, nicht wahr?
Ja. Rückblickend ist die erste Woche gut gelaufen. Aber am Dienstag, Mittwoch gab es schon noch die Sorge, dass es zu langsam läuft, so dass man Druck aufbauen musste.

Christian, wie hältst du dich eigentlich immer auf dem Laufenden über die Verhandlungen?
Es gibt drei Level an Verhandlungen: Jene, wo nur die Verhandler Zutritt haben. Die semi-offenen, wo die NGOs rein kommen, aber die Presse nicht. Und dann gibt es noch die ganz offene, wo auch die Journalisten rein dürfen, und die auch im Internet übertragen wird.
Der Trick: man braucht ein Netz aus Informanten, vor allem aus dem NGO-Bereich, die ja mit tausenden von Leuten hier vertreten sind, und sehr gut organisiert und sehr professionell sind.
Was jetzt noch nichts darüber verrät, wie du an Informationen von der Hauptebene kommst.
Da muss man die Informationen von den Diplomaten bekommen, die da dabei sind. Da ist es natürlich etwas schwieriger. Die sagen einem zum Teil schon, was läuft, aber eben als Hintergrundgespräch, so dass man sie nicht zitieren darf. Aber dann weiß man immerhin, was läuft und kann indirekt zitieren: „Ein Diplomat aus einem größeren europäischen Land hat gesagt, dass…“ – das kann dann ein Franzose, Engländer oder Deutscher sein.

Ist es eigentlich eine Legende, oder wird am Ende wirklich Tag und Nacht durchverhandelt?
Am Schluss wird Tag und Nacht durchverhandelt.
Die Ministerinnen und Minister sind dann tatsächlich durchgehend anwesend?
Die machen Power-Naps. Am Schluss geht es knallhart zu, da werden Sitzungen für 4 Uhr morgens angesetzt, das geht dann nonstop durch.
Ist es Teil der Kalkulation für das Endgame, dass man die eigene gute Konstitution mit einberechnet? „Ich bin der Marathonmann, ab Kilometer 38, wenn alle anderen schlapp sind, dann punkten wir!“
Absolut. Es gibt sogar einen Begriff dafür: Konsens durch Erschöpfung. Zum Teil läuft es darauf raus. Irgendein Diplomat hat mal gemeint, es müsse doch einen besseren Weg geben, um einen Planeten zu organisieren.
Aber es ist noch keinem einer eingefallen.
Bis jetzt noch nicht.

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