RANDOM – Kommentierte Fotostrecke von Sebastian Mayer

“Ich glaube an die Nische” / “Wie gute Pop-Songs: kurz, prägnant und präzise.”

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Sebastian Mayer “Megumi Matsubara / Shibuya Center Gai”

Unberechenbarkeit und Spontanität prägen den Lebensweg von Sebastian Mayer. Wer sich in den 90er Jahren öfters in Berlin herumgetrieben hat, der dürfte früher oder später auch mal vor seine Kamera geraten und danach mit hoher Wahrscheinlichkeit mit ihm an der Theke einer der einschlägigen Bars und Clubs gelandet sein. Von 1991 bis 2004 lebte er in Berlin und war das, was man einen intensiv teilnehmenden Beobachter nennt. Die dabei entstandenen Fotos prägten maßgeblich die Seiten von Magazinen wie Intro und Spex in diesen Jahren, tauchten aber auch in Buchprojekten und Ausstellungen auf.

2004 verabschiedete sich Sebastian Mayer dann aus Berlin, ging zunächst mit der Band Ladytron als Bassist auf Tour und lebte zeitweilig in London, New York, Rio De Janeiro, Tokyo und Kyoto – bevor er 2014 wieder nach Berlin zurückkehrte. Für kaput hat er einige seiner Lieblingsmotive seines aktuellen Ausstellungsprojektes “RANDOM” kommentiert und zudem noch ein paar Fragen beantwortet.

Sebastian, was hat dich 2004 bewogen Berlin zu verlassen?
Um’s kurz und präzise zu sagen: ich wollte die Welt sehen.

Vor 2004 hast du sehr konstant in Berlin gelebt. Danach dominierte lange eine Art Nomadenleben, zunächst in extremster Form mit der Band Ladytron (wie kam es dazu überhaupt?), später im wieder gefundenen individualisierten Rhythmus der Existenz als freischaffender Fotograf.
Ich bin bei den Trons für die Europa-Tour als Bassist eingesprungen, weil sie keinen passenden Musiker für ihre Tour gefunden hatten. Wir waren schon seit Jahren befreundet und ich hatte in einigen Indie-Bands in Berlin gespielt. Reubentron hat mich Silvester 2005, 10 Minuten nach Mitternacht, gefragt ob ich nicht mitkommen wollte, das Management suchte eigentlich eine Bassistin. Wir haben erstmal darüber gelacht, aber irgendwann dachte ich: keine schlechte Idee, nochmal das Popstar-Leben mitnehmen. Kurz darauf war ich dann mit denen auf Tour für eine Saison. Nach Liverpool und der Tour bin ich dann nach Rio gezogen, und ab da habe ich dann wieder mit Fotografie weitergemacht.

Was haben diesen Jahre an neuen Erfahrungen gebracht und wie hat sich das in deiner Arbeit als Fotograf wiedergespiegelt?
Ich verstehe Fotografie als ein bildliches Dokument einer individuellen Sichtweise auf die Welt. Die Fotografie eines Menschen ändert sich mit dem Blick, mit seiner (oder ihrer) Sichtweise auf die Welt.
Im Vergleich zu damals, bevor ich Berlin verlassen hatte, sehe ich Fotografie heute weniger technisch und mehr als ein persönliches Dokument. Fotografie ist schließlich ein Medium das Erlebtes ausschnittshaft bildlich aufzeichnen kann. Meine Hauptarbeit besteht deswegen momentan darin, diese Momentaufnahmen, die ich auf dem Weg gemacht habe und auch immer noch mache, zu verarbeiten. Die Bilder, mit denen ich gerade arbeite, haben immer einen autobiografischen Zusammenhang, es gibt hinter jedem Bild eine Geschichte, das Bild zeigt einen kurzzeitigen Ausschnitt aus einer sehr großen Geschichte. Das was ich da mit Bildern versuche, ist vielleicht irgendwo zwischen dem was Burroughs, Kerrouac oder auch Nan Goldin versucht haben.Ich will mich nicht direkt mit ihnen vergleichen, aber denen fühle ich mich in der Arbeit besonders nahe … möglicherweise verstehe ich meine Fotografie sogar eher literarisch als „fotografisch“.

War es denn leicht, sich in all diesen doch sehr unterschiedlichen Städten und Sozialsystemen ökonomisch aufzustellen?
Als freiberuflicher Fotograf kann man zwar überall arbeiten, aber andererseits ist es auch überall gleich schwierig an Jobs zu kommen. Ich hatte in Rio und auch in Tokyo aber großes Glück, weil ich durch gute Kontakte schnell an bezahlte Jobs rangekommen bin, also: Magazin-Fotografie und kommerzielle Jobs, die die Miete zahlen.
In vielerlei Hinsicht halte ich Berlin für wesentlich schwieriger als Tokyo, ökonomisch gesehen. Ich finde es schwieriger hier an Jobs zu kommen als anderswo, die Stadt ist ja übervoll an kreativem Potential, es gibt viel mehr Konkurrenz und wenig Markt. Ich konzentriere mich hier in Berlin aber sowieso eher auf meine eigene Arbeit, und das Leben hier ist noch eingermassen günstig, deswegen funktioniert das im Moment für mich hier ganz gut.

Am längsten hast du zuletzt in Japan gelebt und gearbeitet? Das Land gilt ja als sehr offen für temporäre Besucher_innen, aber als durchaus hartes Pflaster für längerfristig dort lebende Nichtjapaner_innen. Welche Erfahrungen hast du mit der japanischen Mentalität gemacht?
Die japanische Mentalität war mir von Beginn an sehr vertraut in ihrer Fremdheit. Das war wahrscheinlich auch ein Hauptgrund, warum ich so lange dort geblieben bin, sieben Jahre insgesamt. Ich empfand Japan deswegen nicht unbedingt als „hartes Pflaster“, vielleicht wäre aber „anderes Pflaster“ ein geeigneterer Ausdruck. Tatsächlich ticken die Japaner ganz anders als der Rest der Welt und man kann sehr lange darauf warten, von gebürtigen Japanern nicht als „Gaijin“ (=Fremder) wahrgenommen zu werden. In 99% der Fälle passiert das nie, man weiß von Anfang an, dass man niemals wirklich „Teil“ der Gesellschaft werden kann, selbst wenn man alles dafür tut um Teil davon zu werden. Selbst Koreaner in der zweiten Generation werden in Japan oft noch als „Fremdkörper“ wahrgenommen. Mir hat das aber ganz gut gepasst, ich fühlte mich in dieser Fremdheit sehr wohl.

Was sorgte letztlich dafür, dass du nach Berlin zurückgezogen bist? Und wie fühlt sich das Wiederankommen hier an?
Ich hatte ursprünglich nie vor, Berlin für immer zu verlassen. Dass ich dann fast 10 Jahre unterwegs gewesen bin, war einer Aneinanderreihung von unwahrscheinlichen Zufällen zu verdanken. Irgendwann musste der Kreis auch einfach geschlossen werden, deswegen musste ich zurück nach Berlin. Es war ein grosser Kreis, weil der ging einmal immer Richtung Westen um den Globus, aber irgendwie war mir immer klar, dass ich irgendwann wieder hierher kommen würde.
Das heißt für mich nicht, dass ich für immer hier bleibe, es ist auch nur ein Zwischenschritt. Alles ist immer in Änderung.
Das Wiederankommen in Berlin war zugegebenermassen schwierig. Der „Reverse Culture Shock“ war beim Zurückkommen in den eigenen Kulturkreis grösser als der Schock des Kennenlernens eines neuen Kulturkreises. In Japan musste ich mich nicht mit der umgebenden Kultur identifizieren. Ich konnte mich mit den positiven Aspekten der Kultur identifizieren, aber war frei, die negativen Aspekte zu ignorieren. Ich konnte einfacher und besser Beobachter bleiben, was mir als Fotograf ja sehr entgegenkommt. Fotograf sein bedeutet auch immer Außenseiter zu sein, weil man den Abstand von den Leuten und Situationen braucht, um ein Bild von ihnen zu machen. Das meine ich nicht nur rhetorisch, sondern auch praktisch: als Fotograf gehe ich oft einen Schritt zurück, damit alles, was ich fotografieren will, auch im Bild ist. Im Gegensatz zu dem Abstand, den ich in Japan hatte, bin ich in Deutschland dazu gezwungen mich mit der umgebenden Kultur auseinanderzusetzen. Es ist ja schliesslich meine Kultur, mein Kulturkreis. Ich bin hier in Deutschland „viel näher dran“ und mehr dazu gezwungen, mich mit negativen Aspekten der Gesellschaft auseinanderzusetzen, weil es da ein ganz anderes Identifikations-Moment gibt als in Japan.
Vieles an Deutschland hat mich in den ersten zwei Jahren irritiert und es fiel mir schwer, mich an bestimmte Aspekte wieder zu gewöhnen: die Japaner haben unglaublich hochentwickelte und stilisierte Umgangsformen, im Vergleich zu Japan ist dann Deutschland tatsächlich sehr aggressiv und laut, es ist eine recht grobe Kultur im Vergleich zur Japanischen. Deutschland’s Kultur ist eher Faust, japanische Kultur ist eher Schwert, wenn das Sinn macht.
Zudem muss man verstehen, dass Japan viel stärker auf einem Kollektivgedanken gebaut ist, während Deutschland eher vom Individualismus geprägt wurde. Deutschland ist viel mehr „jeder für sich und alle gegen alle“ als Japan, wo es immer eher darum geht, sich in eine Gruppenhierarchie einzuordnen und gemeinsam mit anderen für etwas zu kämpfen. Diesen positiven Gruppengedanken vermisse ich oft hier in Deutschland, während ich die negativen Auswüchse desselben japanischen Kollektivgedankens, nämlich das bedingungslose Einfügen in eine starre Hierarchie, nicht vermisse. Alles hat seine Vor- und Nachteile.

Hat Berlin 2017 noch etwas gemein mit dem Berlin der 90er- und frühen Nullerjahre? Was sind die zentralen Unterschiede und Gemeinsamkeiten?
Berlin in den 90ern war geprägt vom einer einzigartigen Aufruchsstimmung. Der Ostteil war unentdecktes Gebiet. Es gab Freiräume für jeden und bis 2000 hatte eigentlich jeder, den ich im Ostteil der Stadt traf, das Gefühl, an einer neuen glücklichen Utopie zu arbeiten, Teil von etwas Neuem und Großem zu sein. Das findet man heute nicht mehr so, aber vielleicht ist das auch der Geist der Zeit. Wir leben heute in abgeklärteren Zeiten, es ist weltweit restriktiver und kontrollierter geworden. Man kann aber immer noch Nischen finden, und ich glaube an die Nische.

Sebastian, wer deine Postings auf Facebook verfolgt, dem ist deine RANDOM-Serie bekannt, für die du immer zwei Motive kombinierst. Wie kam es dazu?
Genau, das grundlegende Prinzip der RANDOM-Serie ist die Zusammenstellung von Diptychen, also: Doppel-Bildern. Ich benutze dafür hauptsächlich Fotos, die ich auf meinen Reisen gemacht habe. Der Fokus liegt dabei auf den Jahren 2005 bis 2013, aber es gibt Ausnahmen. Die Bilder aus der RANDOM-Serie sind nicht fiktiv oder gestellt, sondern sind alle autobiographisch geprägt und hängen mit meiner eigenen Geschichte zusammen. Durch die Kombination von Bildern versuche ich kurze visuelle Geschichten zu erzählen, die Erlebtes und Gefühltes ausdrücken. Man kann diese Doppelungen wie gute Pop-Songs verstehen: kurz, prägnant und präzise.
Der Titel RANDOM (Zufall) ist ein Paradox , weil die Bilder in der Zusammenstellung alles andere als “zufällig” sind. Die Bilder sollen “wie zufällig zusammengestellt” wirken, aber bei genauerer Betrachtung stellt man schnell fest, dass sie alles mögliche sind, aber nicht “zufällig”. Ich versuche Kombinationen aus meinem Archiv zu finden, die eine größtmögliche Spannung zwischen den Einzelbildern erzeugen. Das können, aber müssen nicht unbedingt Bilder sein, die direkt etwas miteinander zu tun haben. Im Idealfall öffnet sich durch die Doppelung für den Betrachter eine Interpretationsmöglichkeit für die Bilder, die über den Inhalt der Einzelbilder hinausgeht. Es ist, als würde sich eine Tür öffnen zwischen den Bildern, die oftmals nichts mehr mit der ursprünglichen Bedeutung der Einzelbilder zu tun hat, sondern eine andere, neue Geschichte erzählt. Viele dieser Kombinationen regen dazu an, sich seine eigene Geschichte dazu auszudenken.

Nun hast du zuletzt die RANDOM-Serie aus ihrer Social-Media-Existenz in die reale Galerienwelt gebracht. Gibt es dabei für dich Unterschiede in der Art und Weise, wie du mit den Bildern arbeitest?
Auf Ausstellungen versuche ich ein Narrativ mit diesen Doppelbildern zu erstellen, indem ich viele Doppelungen verknüpfe, sodass diese zusammen eine große Geschichte ergeben. Um beim Pop-Vergleich zu bleiben: Es ist ungefähr so, als würde ich viele verschiedene Songs für ein Konzeptalbum zusammenstellen. In das Narrativ fließen immer wieder Einzelbilder ein, denen die Rolle von Schlüsselbildern zukommt. Diese Bilder funktionieren wie Ankerpunkte, die die große Story zusammenhalten.

 

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ARRIVAL 20061025

Ich fange nicht mit einer Kombination an, sondern mit einem der zentralen Bilder meines Lebens.
Ich bin durch Zufall eingeladen worden, nach Japan zu kommen, um dort meine Bilder auf einer Design-Ausstellung zu zeigen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits zwei Jahre mit nur einem Seesack, einer Kamera und einem Laptop unterwegs gewesen. Zuerst in Liverpool, von wo ich mit der Band Ladytron als Tour-Bassist auf Festivaltour ging. Nach der Tour lebte ich in London, wo ich mich sehr schnell in komplizierte Liebschaften verstrickt habe, die irgendwann so gefährlich wurden, dass ich Europa fluchtartig verlassen musste. Ich landete daraufhin in Rio de Janeiro, wo ich bei einem Freund untergekommen bin, der dort ein Haus besass. Irgendwann ging das Geld aus, das ich mit den Konzerten mit Ladytron verdient hatte, und genau in dem Moment erhielt ich einen Anruf aus Deutschland von Rafael Horzon. Ich hatte ein paar Jahre zuvor an einem seiner Projekte namens “Redesign Deutschland” mitgewirkt und eine Porträt-Serie namens “Standardporträt” entwickelt, das Rafi’s Erachtens nach das allerbeste standardisierte Porträt der Welt ist.

Rafi sagte: “Sebastian! Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Dich! Die schlechte zuerst: wir haben Deine Standardportraets ausgestellt, ohne Dir Bescheid zu geben. Tut uns leid!” – “Okay, verziehen. Was ist denn die gute Nachricht?” – “Du hast mit den Bildern einen Preis gewonnen und Du sollst Deine Bilder auf der Design Week in Tokyo ausstellen. Das Goethe Institut bezahlt die Flüge und das Hotel!”

Es ist bislang der einzige Preis, den ich in meinem Leben gewonnen habe, und ich hoffe ich bekomme keine weiteren. Ich mag keine Wettbewerbe und Preise und all sowas, mir ist diese kompetitive Art und Weise, wie Wettbewerbe aller Art funktionieren, zutiefst suspekt.

Ein paar Wochen nach diesem Anruf bin ich dann nach New York, wo ich ein paar Wochen bei Andy-No-Andy von den Thieves Like Us in einem fensterlosen Zimmer in der Lower East Side übernachtete, mir einen neuen Haarschnitt habe verpassen lassen, Foto-Equipment kaufte und schließlich von dort aus nach Tokyo abgeflogen bin.Das Foto zeigt den Moment kurz vor dem Touchdown auf dem Flughafen Narita. Das war am 25. Oktober 2006, zwei Tage vor meinem 33sten Geburtstag.
Ich wollte eigentlich nur zwei Wochen bleiben, und ich ahnte in diesem Moment nicht, dass es dann sieben Jahre in Tokyo und Kyoto werden würden.

RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_012∞, In Watermelon Sugar

Das obere Bild zeigt die Reflektion einer Lampe in einem Fenster. Ich habe das Bild in einem französischen Restaurant namens Huit in meiner Nachbarschaft in Nakameguro, Tokyo, gemacht. Ich bin dort immer hingegangen, wenn ich Zeit zum Nachdenken brauchte. Es gab guten französischen Landwein, kleine Schälchen mit schwarzen Oliven und leckeres Baguette mit gesalzener Butter. Wenn man für lange Zeit sehr weit weg ist, dann braucht man manchmal das Gefühl der Vertrautheit und das Huit war so ein Ort für mich. Ich brauchte das Gefühl in Europa zu sein, auch wenn es nur eine Illusion war.

Das untere Bild zeigt eine Freundin von mir, ihr Name ist Elle. Sie war aus San Francisco und auf Reisen durch Asien. Ich könnte einen kleinen Roman füllen nur mit den Geschichten, die mit Elle und diesem einen Bild zusammenhängen. Das Bild wurde auf dem Speicher eines sogenannten Gaijin-Hauses (= ein Gemeinschaftshaus, das nur an Ausländer vermietet wird) aufgenommen, in dem ich meine ersten zwei Jahre in Tokyo verbracht hatte. Mein Zimmer in diesem Haus war nur siebeneinhalb Quadratmeter groß, was sich nicht nur klein anhört sondern auch wirklich sehr klein ist. Man gewöhnt sich aber dran.
Elle hatte eine zeitlang im Haus im Gemeinschaftsraum gewohnt. Sie schlief dort  auf dem Sofa, wenn sie keinen anderen Ort zum Schlafen gefunden hat  – manchmal hat sie auch bei Freunden übernachtet. Irgendwann ist sie dann aber spurlos verschwunden, sie war einfach weg, von einem Tag zum nächsten. Nach ein paar Wochen habe ich die Suche nach ihr aufgegeben, aber eines Abends habe ich sie dann zufällig oben unter dem Giebel des Hauses in einer kleinen Kammer gefunden. Sie hatte sich dort einquartiert wie eine Maus, unentdeckt von allen anderen Bewohnern des Hauses. Die Kammer war so klein, dass man sich dort nur gebückt auf allen Vieren bewegen konnte, und sie war nur erreichbar durch ein Loch in der Decke des darunterlegenden Abstellraums. Um dort hochzukommen musste man drei Meter über wacklige Holzregale klettern, und sich dann durch dieses kleine Einstiegsloch in der Decke ziehen. Das Bild zeigt die Situation so, wie ich Elle gefunden habe, fotografiert vom Einstiegs-Loch aus, auf den wackelnden Regalen im Geschoss darunter stehend. Der Bildtitel „In Watermelon Sugar“ wurde vom gleichnamigen Roman von Richard Brautigan übernommen, weil mich Elle immer an eine der Hauptfiguren in diesem surrealen Roman erinnert hat. Es ist ein irgendwie melancholisches Bild, aber auch ein sehr magisches Foto, dessen Wirkung in der Kombination mit der unwirklich schwebenden Lampe darüber nochmals verstärkt wird.

RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_029Satyr, O-Mikuji Machine

Der Satyr ist die Verzierung eines Brunnens, den ich auf einem Hinterhof in Regensburg gefunden habe. Ich bin in der Nähe von Regensburg aufgewachsen, das Bild habe ich bei einem Heimatbesuch gemacht.

Das untere Bild zeigt eine O-Mikuji Machine (Wahrsager-Maschine). Die habe ich in einer Einkaufspassage in Osaka gefunden, morgens nach einer durchgefeierten Nacht voller rosafarbenen Japanischem Champagner, der nach Himbeeren geschmeckt hat (ja, sowas gibt’s wirklich). Die Maschine ist aus Plastik und man kann seine Hand in den geöffneten Mund stecken, dann erhält man nach Einwurf einer 100-Yen-Münze (circa 80 Cent) einen ausgedruckten Zettel, auf dem ein kleines, persönliches Horoskop gedruckt ist.

Ich liebe solche kulturellen Remixe: die O-Mikuji Machine ist ja nach dem “Bocca della Verità” modelliert, einer Marmor-Plastik, die in Rom steht und ungefähr 2000 Jahre alt ist.
In der Zusammenstellung hat mich die Spannung interessiert, die durch die formale Ähnlichkeit der Skulpturen entsteht. Der Brunnen in Regensburg sieht ja alt aus, bezieht sich aber auf noch viel ältere Sagengestalten der griechischen Mythologie; noch dazu ist er wahrscheinlich gar nicht so alt, wie er aussieht, sondern eine Kopie aus der Jugendstil-Zeit. Die Wahrsager-Maschine in Osaka ist ebenfalls eine Kopie, ein kulturelles Zitat. Mythen verändern sich mit der Zeit, werden je nach Kultur andersartig weiter interpretiert, vermischen sich auch mit lokaler Kultur, bis sie wieder etwas neues darstellen, das mit dem Alten, dem Originalen, nicht mehr so viel zu tun haben. Diese Entwicklungen interessieren mich, und auf den Bildern sieht man zwei verschiedene Interpretationen von unterschiedlichen alten Mythen, die aber komischerweise dann wieder eine Ähnlichkeit haben, die ich spannend finde. Wie zwei Straßen, die sich zufällig überkreuzen.

RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_046Tokyo Decadance, Koi

Tokyo Decadance (sic!) war eine LGBTQ- und Fetisch-Party in Tokyo’s legendärem Trump-Room in Shibuya, einem der Zentren der kontemporären Jugendkultur in Japan. Die Partys waren immer sehr lustig, da sind nicht nur Freaks reingelaufen sondern auch ganz normale Menschen, die zusammen mit den Freaks feiern wollten. Es war alles total bunt und wild durchgemischt, und jeder war so, wie er oder sie wollte. Ich habe das Foto gemacht, als sie gerade das beste Kostüm des Abends prämiert haben. Das Mädchen unten rechts ist mir erst später auf dem Foto aufgefallen und ich habe keine Ahnung, wer das ist oder was sie dort macht. Sie hat ein so schönes naives Lächeln, das in krassem Gegensatz steht zu den schrill kostümierten Menschen um sie herum. Über die Jahre habe ich angefangen den Mann mit dem roten Plastik-Penis „Peter“ zu nennen, und das Mädchen nenne ich „Heidi“.

Das untere Bild habe ich von einer kleinen Brücke in einem japanischen Garten in Tokyo’s Akasaka-Bezirk aufgenommen. Es zeigt eine Menge Koi-Fische, die darauf warten, dass ich Futter zu ihnen herunterwerfe. Koi-Karpfen sind ja intelligente Tiere, die einzelne Menschen aus dem Wasser heraus an den Gesichtszügen erkennen und unterscheiden können. Diese hier waren einfach nur sehr hungrig. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich wiedererkennen würden.

 

 

 

RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_056Fuji Rock, Zionskirche

Das Bild mit den Zelten habe ich bei Fuji-Rock aufgenommen, dem größten Musik-Festival in Japan mit zehntausenden Besuchern, nördlich von Tokyo in den Bergen. Der Zeltplatz war so groß wie eine Stadt. Die in der absoluten Mehrzahl japanischen Besucher waren alle mit der perfekten Ausstattung gekommen, um so ein Festival auch bei Regen durchzustehen: abgesehen von den fast identischen fabrikneuen Zelten, die auf dem Bild zu sehen sind, auch mit der passenden Regenkleidung. Der Perfektionismus der Japaner ist im Alltag in Tokyo schon beeindruckend, aber denselben Professionalismus selbst beim Festivalbesuch praktiziert zu sehen, das war schon fast beängstigend.

Das untere Bild habe ich erst dieses Jahr hier in Berlin aufgenommen, in der Zionskirche. Ich fotografiere schon immer viel Architektur, und in den letzten Jahren auch oftmals in Kirchen und Tempeln. Ich bin nicht religiös, aber ich finde religiöse Bauten oftmals sehr beeindruckend und besuche sie gerne. Normalerweise sind meine Bilder sehr klar nach dem rechten Winkel ausgerichtet, aber in der letzten Zeit habe ich angefangen, manche Bilder komplett perspektivisch verdreht aufzunehmen, aus der Hand heraus. Das hat eine ganz andere Dynamik und Leichtigkeit und es sieht so zufällig aus. Die Zionskirche, in ihrer Rolle als Treffpunkt der Oppositionsbewegung im Ostberlin der untergehenden DDR, hat ja ausserdem eine sehr interessante politische Geschichte, was nochmal eine weitere Bedeutungsebene öffnet.

In der Kombination reizt mich zum einen die architektonische Ähnlichkeit beider Bilder: unser visuell denkendes Gehirn verbindet normalerweise sofort das gelbe Deckengewölbe auf dem unteren Bild mit dem gelben Zelt vorne rechts im oberen Bild. Das passiert automatisch, unterbewusst. Unser Gehirn interpretiert normalerweise das untere Bild als eine Innenansicht des oben gezeigten Zeltes. Das ist so eine Art absurder visueller Witz, weil das Zelt natürlich viel zu klein für so ein riesiges Deckengewölbe ist. Aber genau aus diesem Gegensatz funktioniert die Kombi: unser Kopf sagt gleichzeitig „Das gehört zusammen!“ und „Nein, das kann ja gar nicht sein!“ und dadurch entsteht dieser Witz.

Dazu kommt dann noch, dass man sagen könnte, dass die Bilder falsch herum angeordnet sind. Ein Deckengewölbe sollte man oben erwarten, wahrend man das Zelt in der Aufsicht eher nach unten einordnen würde, aber durch diese gezielte Fehlanordnung entsteht nochmal so ein komischer Kontrast, den ich interessant finde.

Neben diesen formalen Spannungen gibt es aber auch eine Interpretationsmöglichkeit auf der Bedeutungsebene: oben wird ein popkulturelles Phänomen gezeigt, unten ein religiöser und auch politischer Ort. Man kann da glaube ich noch viel reininterpretieren und jeder kann da etwas anderes drin sehen. Das finde ich spannend.

RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_053Daidō Moriyama / Drifter

Daidō Moriyama ist ein legendärer japanischer Fotograf, der hauptsächlich mit grobkörnigen Schwarz-Weiss-Aufnahmen bekannt geworden ist. Ich habe einen großen Respekt vor seiner Arbeit, er hat unglaublich viele Bücher veröffentlicht und die japanische Fotografie der Nachkriegszeit geprägt wie kein anderer.

Das untere Bild zeigt meine eigenen Füsse, irgendwo in Shibuya, Tokyo.

Durch die Anordnung der Bilder entsteht der Eindruck, als wuerde ich Daidō Moriyama gegenübersitzen, so ähnlich wie ein Schüler dem Lehrer gegenübersitzt.

 

 

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Slayer / Decay

Das obere Bild habe ich 2005 beim Exit-Festival im Fotograben vor der Hauptbühne aufgenommen. Slayer waren Opener fuer Ladytron, mit denen ich damals als Bassist auf Tour war. Es hat seit Tagen schon geregnet, aber die wahren Fans hat das nicht gestört.

Das untere Bild zeigt einen halb-verwesten Vogel, den ich in Liverpool im selben Jahr aufgenommen habe.

Die Kombination ist für mich so eine Art “Memento Mori”. Auch wenn wir in der Ekstase leben, können wir der eigenen Vergänglichkeit nicht entkommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_04Roppongi / Carsten Nicolai

Oben sieht man einen automatisierten Stauanzeiger im Ausgehviertel Roppongi, Tokyo. Die Konstruktion ist schon etwas älter, es sieht futuristisch aber auch leicht angeschrammelt aus, so ein bisschen wie in Blade Runner. Die Anzeigetafel erinnert mich außerdem an Blutbahnen. Tokyo als Stadtgebilde ist wie ein gigantischer Organismus, deswegen finde ich den Blutbahnen-Vergleich sehr aussagekräftig.

Unten sieht man den Kuenstler und Musiker Carsten Nicolai (aka Alva Noto) bei einem Konzert im Club Unit in Tokyo. Ich habe damals die Raster-Noton-Tour durch Japan begleitet und habe tausende Fotos gemacht, aber dieses Bild sticht aus der großen Menge an Material hervor: Nicolai wirkt unwirklich, wie eine Figur aus einem Science Fiction-Film. Die Handhaltung und die Monitore, die Reflektionen in seinem Gesicht, das alles fügt sich zusammen zu einem unglaublich guten Bild. Ich glaube es ist immer noch eines der besten Porträts, die ich gemacht habe. Es sollte im MoMA hängen.

 

 

 

 

 

 

 

 

RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_015Pan / ic!

Vicente war in Tokyo einer meiner besten Freunde und obwohl er mittlerweile wieder in Washington DC lebt sind wir es immer noch. Mich interessieren an diesem Bild am meisten die Komposition und Farben: der grüne Pullover, die rote Decke, die er sich umgehangen hat. Links sieht man das Poster eines buddhistischen Mönchs aus Thailand, rechts eine kleine Postkarte, auf der “PANIC!” draufsteht. Das war irgendeine Einladung zu einem Clubabend in Liverpool. Vicente wirkt zwischen diesen beiden Bildelementen wie ein Buddha, der konzentriert versucht eine Panik-Attacke zu vermeiden, er sieht also genau so aus wie eine Mischung aus den beiden anderen Bildelementen links und rechts von ihm.

Darüber ist ein Bild aus Yoyogi, Tokyo. Das Logo erkennt man normalerweise sofort, auch wenn nur die ersten drei Buchstaben zu erkennen sind. Beide Bilder passen für mich inhaltlich zusammen: PAN / PANIC! – und auch farblich.

 

 

 

 

 

 

 

RandomDrifter_EditionDec2017_ShopView_037Spotlights / Beinhaus (Ossuary)

Das obere Motiv habe ich bei einem Konzert in Tokyo aufgenommen. Ich fand die Deckenkonstruktion interessanter als das Konzert.

Bei dem Bild darunter werde ich oft gefragt, ob ich das in Kambodia oder Vietnam aufgenommen haette, weil es so nach Massengrab aussieht. Dabei ist es einfach nur ein altes Beinhaus in der Naehe von Cham in Sueddeutschland, wo ich aufgewachsen bin.

Die Kombination ist wieder so ein Memento Mori. Man kann da viel drin sehen. Wenn man die Bilder als Print anschaut, dann findet man noch viele weitere Details, die man auf dem Computer nicht sehen kann. Umso länger man draufschaut, um so mehr findet man.

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