Musik öffnet (im besten Fall neue) Klangräume, gewährt uns einen Zufluchtsort vor unserem Alltagschaos, an dem wir die Gedanken ordnen und Pläne (oder gar Utopien) entwerfen können.
Richard Chartier
“On Leaving”
(Touch)
Musik öffnet (im besten Fall neue) Klangräume, gewährt uns einen Zufluchtsort vor unserem Alltagschaos, an dem wir die Gedanken ordnen und Pläne (oder gar Utopien) entwerfen können. Eine simple Aussage, die man sich aber immer wieder bewusst machen muss, gerade angesichts eines Mainstreams der Musikproduktionen, der optimiert und dynamisiert immer weiter rennen zu müssen scheint, zugleich Abbild und Taktgeber unsere Existenzen im Spätkapitalismus.
Das neue Album des Klangkünstlers und Komponisten Richard Chartier, der in der Vergangenheit u.a. mit William Basinski, Taylor Deupree, AGF, Asmus Tietchens, und Cosey Fanni Tutti zusammengearbeitet hat, erscheint auf dem britischen Label Touch, Heimat vieler visionärer Musiker:innen. Chartier hat sich seit jeher freigemacht von den vorherrschenden Attributs- und Adjektiverwartungen an Musik, in dem er seine Musik nicht per se als Dialog mit der Außenwelt versteht (eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Popstars und Ambient-Musiker:innen übrigens), sondern als introspektives Hinterfragen, was es mit Klängen macht, wenn sie sich an sich selbst orientieren. Es sind minimalistische Kompositionen, deren Statik kaum vibriert und deren Klangfarben sich so langsam verändern wie die Töne bei John Cage´s legendären Stück „As SLow aS Possible“ wechseln (das bekanntlich auf 639 Jahre angelegt ist); wobei Chartier seine fünf Varianten auf 65 Minuten anlegt.
Chartier, der in der Vergangenheit auf für Klangforschung stehenden Labels wie wie Room40, Editions Mego und Raster-Noton veröffentlicht hat, untersucht in seinen Arbeiten die Wechselbeziehungen zwischen Stille und Klang, hinterfragt die Hörperspektivenunterschiede zwischen Produzent:in und Hörer:innen gleichermaßen wie Einflussfaktoren wie Distanz und Fokus.
“On Leaving” ist ein Album in fünf Akten, auf dem Chartier – kommend von einem intensiven Dialog mit seinem im Verlauf der Produktion an den Folgen einer Alzheimer Erkrankung verstorben Freund Steve Roden (dem das Album auch gewidmet ist) – sich intensiv mit Anwesenheit / Abwesenheit von Klangquellen und Sounds auseinandersetzt, unsere Aufmerksamkeit auf die unendliche Ebene der Mikroklangpartikel legt, inklusive (scheinbar) klangloser Stellen, die sich in der Tiefe seiner Musik verbergen. Einer Musik, die entgegen all dieser eher abstrakten Ausführungen, verführerisch warm und einladend klingt.
Thomas Venker
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Kamasi Washington
„Fearless Movement“
(Young)
Als Kamasi Washington 2015 sein Debütalbum „The Epic“ als Dreifach-LP vorlegte, war bereits das Format eine Sensation. Hatte es das zuvor überhaupt schon einmal gegeben, dass ein Newcomer seine Soundvision derart ausgebreitet vorstellen durfte? Wobei Washington natürlich genau genommen zu diesem Zeitpunkt schon kein Neuling mehr war, konnte er doch bereits so namhafte Kollaborationen wie mit Flying Lotus (auf „You’re Dead) und Kendrick Lamar (auf „To Pimp a Butterfly“) vorweisen.
Neun Jahre später ist Washington nun beim fünften Album angekommen, was man „Fearless Movement“ aber – positiv gesprochen – nicht anhört. Wo andere den vielen Möglichkeiten und damit verbundenen Noch-größere-Erfolge-Versprechen, die einem als Everybodys´ Darling so angeboten werden, erlägen wären, bleibt er sich und seinen Vorbildern Pharoah Sanders, Sun Ra, Eric Dolphy und John Coltrane treu und fusioniert noch immer so eindringlich wie verführerisch wie kein anderer seiner Zeitgenossen mäandernde Melodien, chorale Klangvisionen und daddelndes Gejazze. Neu sind die vermehrten Classic-Funk-Schlagseiten, beispielsweise mit Funk-Godfather George Clinton auf „Get Lit“, einem Stück, das mit seinem Flötenmotiv kongenial zu „Dream State“ hinführt, für das Washington mit dem neuen Flöten-Wizard Andre 3000 kollaboriert – Musik so frei, wie man sie nur spielen kann, wenn man die Welt und ihre Abgründe (zumindest temporär) auszublenden vermag. Selbiges gilt auch für „Together“, das zusammen mit Bj the Chicago Kid entstanden ist, einem Comicartigen Fiebertraum von einer klassenlosen Gesellschaft, der deutlich macht, dass Kamasi Washington natürlich nie den Bezug zur Realität verliert, sondern vor allen eins ist: ein lebensbejahender Träumer.
Thomas Venker
Vian & Merzbow
„Inside Richard Serra Sculptures“
(Modern Obscure Music)
Der Titel „Inside Richard Serra Sculptures“ verweist darauf, dass der spanische Produzent und Modern Obscure Music Labelbetreiber Pedro Vian die dem Album zugrunde liegenden Field Recordings „Im Inneren“ (in Anführungszeichen gesetzt, da es sich ja um nach oben und zur Seite offene Arbeiten handelt) einer Installation von Serra in der DIA Bacon Foundation im US Bundesstaat New York aufgenommen hat. Und ja, man meint sofort die massiven Bleiwände als unnachgiebige Klangresonanzflächen zu spüren, aber noch mehr spürt man die Prätentiösität, die der Verweiskosmos aufmacht – und fragt sich, ob es wirklich so wesentlich ist, wo die Aufnahmen stattgefunden haben? Ob es nicht vielleicht sogar kontraproduktiv ist, diesen Kontext so strategisch auszuspielen?
Denn das, was man hört, wird dadurch sicherlich nicht per se besser. Womit nicht gesagt sein soll, dass das zweiteilige Industrial-Ambient-Noise-Soundscape, das Merzbow und Vian für ihre erste Zusammenarbeit kreiert haben, nicht genau das erfüllt, was man sich von diesen beiden Künstlern erhofft. Das Gegenteil ist der Fall, den beiden ist eine wunderbar outerwordly Arbeit gelungen, deren brutalistischer Duktus (die finale Abmischung hat Masami Akita aka Merzbow übernommen) Erinnerungen an Chu Ishikawa Soundtrack zu „Tetsuo: The Iron Man“ weckt. Insofern: nicht der Ort der Aufnahme, sondern die Art der Bearbeitung machen „Inside Richard Serra Sculptures“ so besonders eigenwillig und reizvoll.
Thomas Venker
Shackleton & Six Organs of Admittance
“Jinxed by Being”
(Drag City)
Die Omnipräsenz von Naturkatastrophen – aktuell laufen im Hintergrund beim Autor dieser Zeilen Bilder von den Überschwemmungen in seiner ehemaligen Heimat Süddeutschland – steigert in uns allen die Angst vor der Zukunft. Was, wenn es nun jedes Jahr nur noch Schlimmer wird? Leider muss man kein Pessimist zu sein, um zu entgegnen: besser wird es definitiv nicht mehr! Insofern bedarf es anderer Wege, um uns Hoffnung und zumindest ein bisschen Geborgenheit zu vermitteln. Musik bietet sich da natürlich bestens an. Zumal wenn sie so sehr auf die gemeinsame Versammlung der Hörenden angelegt ist wie das neue Album von Sam Shackleton und Ben Chasny, das in einen Ritualraum lädt. Man meint lockende Glocken zu hören, ein wärmendes Feuer zu spüren – und man hört auf jeden Fall geheimnisvoll aber trotzdem einladende Stimmen, die einen hinzu beten.
“Jinxed by Being“ – was soviel wie „von der Existenz verhext“ bedeutet – sensibilisiert für die eigene Körpererfahrung (der Opener trägt den Titel „The Voice and the Pulse“), rät zur Sozialisierung („Open Your Heart“) ohne die Gefahren zu Verschweigen, die das menschliche Fleisch so mit sich bringen. („The Grip of the Flesh“); überhaupt wird hier kein Happy End garantiert, dazu sind die „Stages of Capitulation“ zu präsent im„Electrical Storm“. Aber, so viel sei verraten, der Frühling wird zurück kommen („Spring Will Return / Oliver´s Letter“) – ob nur noch einmal oder kontinuierlich, das wissen die beiden natürlich auch nicht, aber ihr transzendales, atmosphärisch dichtes Weird-Rock-Electronica-Album ist ein guter Soundtrack für das Wartezimmer auf die Zukunft.
Thomas Venker
Hakushi Hasegawa/ 長谷川白紙
„Mahōgakkō“/ „魔法学校“
(Brainfeeder)
Japan galt bis in die Nullerjahre als Land der Zukunft. Ein Status, den das Land mittlerweile verspielt hat, zum einen da es selbst in eine anhaltende Wirtschaftsflaute geraten ist – während parallel der Nachbar Südkorea die ostasiatische Wirtschaftshoheit und auch die Popwelt (Stichwort: K-Pop ist der neue J-Pop) an sich gerissen hat –, aber auch da das Silicon Valley nun eben eher in den USA (und Süd-China) liegt und nicht mehr durch Tokyo verläuft.
Nicht dass Hakushi Hasegawa / 長谷川白紙 das alleine ändern könnte, aber das multimediale Erscheinungsbild des Projekts setzt mit der Kreation eines Anime-Avatars, den omnipräsenten Videospielreferenzen sowie der generellen totalen Reizüberflutung zumindest stimmig in einer Vergangenheit an, die sich nicht mit Statusverwaltung zufrieden geben wollte.
„Mahōgakkō“/ „魔法学校“, was auf deutsch soviel wie „Zauberschule“ bedeutet, ist eine quietschende Klanglawine, nach der man kaum mehr auf die Beine kommt, überfordert die Zuhörer:innen beglückend hochpotenziert. Wobei sich Hasegawa nicht mit einem Soundentwurf begnügt, das zwölf Tracks umfassende Album ist vielmehr ein Spektakel-Puzzle, wie man es lange nicht gehört hat: Im einen Moment brutal überdrehter Jungle/Breakcore („Departed“), im nächsten eklektisches Electronic-(Hardcore)Listening („Boy´s Texture“) oder eine eigenwillige Cut-Up-Pop-Collage („Mouth Flash (Kuchinohanabi)“).
Thomas Venker
Die Besprechungen sind originär für die Print-Ausgabe der Kölner Zeitschrift Stadtrevue produziert worden.
Der Autor dankt dem Magazin und dem Redakteur Felix Klopotek für die Erlaubnis zur digitalen Zweitausspielung auf kaput.