Record of the Week

Dntel „The Seas Trees See”


Dntel
„The Seas Trees See”
(Morr/Indigo)

Der Folksong „The Lilac and the Apple” aus dem Jahr 1977 klingt hier zu Beginn gleichzeitig gar nicht mehr und total nach Kate Wolfs Original. Als seien Folk und Country durch die retrofuturistische Maschine gejagt worden. Tempo verlangsam, Stimme aus der Steckdose und dann wieder eingespielt, Vocoder inklusive. Jimmy Tamborello aka James Figurine hat irgendwie immer schon nur scheinbar niedliche Musik gemacht, die durchaus spooky wird, wenn genauer hingehört wird. Transformierende Gegensätze verschieben sich. Später im Jahr soll mit „Away“ zeitnah gewissermaßen ein Gegenstück-Album erscheinen. Tamborello hat als Dntel, Figurine und auch mit der kleinen und doch ganz großen Indie-Supergroup The Postal Service (mit nur einem Album in 20 Jahren) so etwas wie die lächelnde Seite von popmusikalischer Hauntology entwickelt, die angeblich auf „Away“ wieder stärker betont werden wird.
Auch besagter Eingangssong seines sechsten oder siebten Dntel-Albums (je nach Betrachtungsweise) kokettiert mit früher Computer-Popmusik à la Kraftwerk, dreht das Ganze aber durch den ironischen Indietronics-Fleischwolf und landet irgendwo zwischen Experimenten, Electronica, Notwist und allen seinen bisherigen Projekten.

Die neuen Songtracks oder Tracksongs fließen, sind ambient und erinnern an elektronische Musik mit New Age-Anklängen der 1970er wie etwa von Tangerine Dream oder Pauline Anna Strom. Nicht umsonst heißt eines der Lieder „Yoga App“ und hat das Augenzwinkern eben schon direkt mit im Titel platziert. Wobei Dntel für Wohlfühlmusik nicht nur in all den feinen und gesampelten Doppelbödigkeiten in Stücken wie „Back Home“ dann doch letztlich wieder einfach zu zappelig und feixend scheinen. Trotzdem ist das hier nicht plumpe oder ängstliche Ironie. So einfach sind Dntel nicht zu dekodieren. Das ist eher Pastiche als Parodie und dreht doch alle Referenzen in die eigene Dntel-Richtung. Auch bei Piano-Loopings wie „Movie Tears“ werden eher akustische Bilder unter Wasser oder an den blubberigen Schwefel-Schlammlöchern von Rotorua auf der Nordinsel Neuseelands evoziert als hippieske Transzendenz gebrochen oder zelebriert. Dntel bleiben zeitgeistig, wer sehnt sich nicht angesichts von Pandemie und allgemeinen Weltzuständen zwischen Klimakatastrophen, Fundamentalismen, Populismen, Ungleichheiten und erneut riesigen Heuschreckenschwärmen nach tröstenden Stimmen und Sounds? „The Man On The Mountain“ lässt Pierre Louis Nguyen sein Gedicht rezitieren, „Fall in Love“ bietet Trost, einen Hauch von Geborgenheit und desillusioniert ob all seiner Kargheit und Isolation sogleich auch wieder auf merkwürdige Art und Weise. Heimat ist endgültig vorläufig. Ein bisschen wie die Einsamkeit des Protagonisten im Science Fiction-Film „Archive“, in dem die die einst durch den Klassiker „Blade Runner“ mit begründete Traurigkeit (inmitten) von superschlauen, effizienten und hübschen Robotern, Cyborgs und K.I. auf die Spitze getrieben wird. Diese unaufgeregte Attitüde bleibt über 11 Stücke und knapp 40 Minuten erhalten und ganz bei sich zwischen der poppigen Fluffyhaftigkeit von Mount Kimbie sowie der over-kitschy Schwere und Melancholie des Bersarin Quartetts.

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