ar/gee gleim "Geschichte wird gemacht – Deutscher Underground in den Achtzigern" – Vorabpublikation

Hans Nieswandt: Die Säulen der Betrachtung

ar/gee gleim (in einem Film von Rainer Kirberg, 1980)

Hans Nieswandt “Die Säulen der Betrachtung”

Vorabpublikation aus  ar/gee gleim “Geschichte wird gemacht – Deutscher Underground in den Achtzigern”, erschienen bei Heyne Hardcore

Punkfotografie als Mittel modischer Orientierung während der Bildung von Subkulturen.

In Friedrichshafen am Bodensee kam Punk so richtig im Jahr 1979 an. Ohne die Fotos von ar/gee gleim und anderen frühen Fotografen der Bewegung hätten wir gar nicht gewusst, was wir anziehen sollen.

Ich war so ungefähr der siebte Punk von bald vielleicht zwanzig Punks im sogenannten Hafen und ziemlich sicher der erste, der sich dafür die langen Haare abschnitt. Für die, die schon ein Punk waren, bevor ich ein Punk war, für Jungs wie Schlappi, Hoden und besonders Sid, der auch genauso aussah, war es die erste Subkultur überhaupt. Ich dagegen war quasi der erste Konvertit, der aus weltanschaulichen Gründen dem Hippiestil abschwor und den neuen Stil umarmte — wie jeder Konvertit besonders inbrünstig. Die Jugend ist eben die Zeit starker Überzeugungen. Ich weiß das alles so genau, weil ich im Januar 1980, mit 16, meinen ersten richtigen Personalausweis bekam — und auf dem Foto noch lange Haare hatte. Bereits bei der Aushändigung der Papiere trug ich aber schon Stachelkopf, ganz sicher. Ich erinnere mich noch an den vergleichenden Blick des Beamten, zwischen mir und dem Foto in meinem Perso. Auf Jahre hinaus war mir mein Passport peinlich.

Andreas Dorau im Ratinger Hof, Düsseldorf, 1981 (Photo: ar/gee gleim)

Während man für den Hippiestil kaum andere modische Vorbilder brauchte als die älteren Mitschüler aus den höheren Klassen, war es für uns erste Punks wesentlich schwieriger, an optische Impressionen, Informationen und damit Inspirationen zu kommen. Vielleicht nicht in Berlin, Hamburg oder München, aber der Bodensee der frühen Punk- und New-Wave-Ära war noch wirklich ganz schön ab vom Schuss, vor allem wenn man noch zur Schule ging. Musikzeitschriften spielten daher eine enorm wichtige Rolle. Ich las sie, seit ich etwa zwölf war, zunächst so was wie Pop mit Melody Maker, aber bereits mit Ende 14 hatte ich zur Sounds gewechselt, zu der sich ab 1980 und bis zum Ende von Sounds Anfang 1983 direkt die Spex gesellte. Ich war der einzige Sounds-Leser in unserem Punkhaufen, aber ja auch der einzige, kleine Ex-Hippie, der einzige, der sozusagen noch wusste,wie Patchouli riecht, der einzige abgesehen davon, der sowieso die ganze Zeit las, als welcher ich die faszinierende Verwandlung des Magazins vom Blatt für Freaks zum Blatt für Modernisten er- und mitlebte. Meine Freunde fanden erst die Spex gesinnungstechnisch akzeptabel. Beide Magazine aber spielten, jedenfalls in meinem Fall, zentrale Rollen in der optischen Wahrnehmung der Szene und meinen daraus abgeleiteten, modischen Entscheidungen. Natürlich studierte ich auch genauestens die Artikel und Rezensionen, orientierte meine Plattenbestellungen bei ZickZack in Hamburg an ihnen und kann sie zum Teil bis heute zitieren bzw. besitze immer noch die Platten.

Aber insbesondere die Fotos, die zwischen 1979 und 1984 in diesen, aber auch noch ein paar anderen Publikationen, Fanzines oder Magazinen wie Elaste erschienen, all diese Bilder von Bands, Künstlern, Szenepeople und -places analysierte ich akribisch. Es gab ja so wenig davon, einmal im Monat eine neue, viel zu kleine Dosis — es herrschte, um Simon Reynolds zu zitieren, „die Langeweile, weil man zu wenig von den guten Dingen hat, und nicht wie heute, die Langeweile, weil man zu viel davon hat“. Brennende Langeweile, wie ein Film dieser Zeit hieß.

Die Betrachtung dieser Fotos ruhte im Prinzip auf vier Säulen: Frisuren, Klamotten, Posen und Orte.

Die Frisuren waren der niedrigstschwellige Einstieg in die Verwandlung zum Modernisten. Ja, ich denke, so würde ich die Stilbesessenheit der Zeit von heute aus interpretieren. Es mag sich Punk, New Wave oder wie auch immer genannt haben, vom Prinzip her waren es nur neue Trachten für einen alten Stamm, oder neue Zweige einer alten Wurzel, ein ganz schiefes Bild, ich weiß, aber im Grunde: der Stammbaum-Geist der Mods. Die hingebungsvolle Zugehörigkeit zu einer selbstgewählten, soziokulturellen Elite, erkennbar an diversen Codes in Mode, Musik und Attitüden zeigten sich stets zuerst in der Haartracht. Alles im Übrigen aus England herübergeschwappt, von Malcolm McLaren gehypt und an die Welt ver-kauft. Wie dem auch sei: Selbst wenn man noch kein komplettes Punk-Outfit oder sogar schon einen New-Wave-Kleiderschrank beisammen hatte, konnte man sich trotzdem schon mal die Haare seifen und hochstellen.

DAF auf dem Weg nach London, Flughafen Düsseldorf, 1981 (Photo: ar/gee gleim)

Doch mit hoher Dynamik änderten sich die Haaransätze: Schon bald boten mir die frühen Palais Schaumburg und Alexander von Borsig wesentlichere Frisur-Orientierung. Spätestens ab 1982 war dann alles Orange Juice und Heaven 17, das interessierte dann diejenigen überhaupt nicht mehr, die standhaft für The Exploited votierten, und so hatte sich die frühe Punkszene Friedrichshafens bald gespalten, man könnte sagen, entlang den Haaren. Wir pogoten nur ein, zwei Sommer. Die Szene zerbrach sogar in viele Teile, denn wie auch aus manch anderen Städten bekannt, entdeckte eine bestimmte Fraktion zeitgleich die provokanten, glatzköpfigen Freuden des Skinhead-Daseins für sich, andere wiederum wurden zu misanthropischen, schwarzgefärbten Goths. Aber da waren wir schon mit den Bananarama-artigen Mädchen in der Disko, groovten zu Kid Creole und warfen die blondgefärbten Ponys zurück. So weit zu den Frisuren.

Klamotten waren da unten schon schwerer zu organisieren als Haarschnitte, abgesehen von Second-Hand-Bundeswehrhosen und ebensolchen Sakkos — in dieser Kombination getragen, mit in Hamburg bestellten Badges dekoriert. Für arme, bebrillte Gymnasiasten okay. Eine amtliche Punker-Lederjacke allerdings, plus Nieten, Nietengürtel, Nietenarmband usw, der ganze Christbaumschmuck, dazu vielleicht noch eine Bondage-Hose in Tartan-Optik mit abgestimmtem Arschlappen, also Bondage-Flaps und Bondage-Straps, war unerschwinglich. Geschweige denn von echten Doc Martens oder den absolut unverzichtbaren Springerstiefeln.

Man musste also einiges an Taschengeld sparen und fleißig jobben, um mitmachen zu können, um durch Style Prestige in der Peer Group zu erzielen. Ausgerechnet bei Punk!

Wie man korrekt hängt, dass man etwa stets rauchen sollte, immer Dosenbier trinken, welche Schnute man zieht, welche Posen wo gepflegt wurden, dass man in Berlin auf keinen Fall lacht, in Düsseldorf aber schon — dieses und viel mehr kann man den zahlreichen Schüssen ins Publikum entnehmen; oder wie sie draußen herumstehen, wie sie Pogo tanzen oder im Neonlicht an bekritzelten Wänden lehnen. Körper in Bezug zu Räumen und Orten, die den vierten Aspekt darstellen. Dazu ein konkretes Beispiel jener Ära, leider existieren keine Fotos mehr davon:

Im örtlichen Jugendzentrum, einer ehemaligen Molkerei, konnten wir die Verantwortlichen davon überzeugen, uns den ehemaligen Jazzkeller zu überlassen, einen hohen, weiß gekachelten Raum, ein ehemaliges Milchbecken. Wir nannten ihn „Böser-Buben-Club“. Man muss dazu wissen, dass es zu dieser Zeit einen subkulturellen Trend zu Donaldismen gab. Bands hießen Fähnlein Fieselschweif, Fanzineschreiber nannten sich Donald Fuck. Es drückte sich in der Namensgebung also eigentlich eine überlegene popkulturelle Kompetenz, ein hohes Maß an coolem Wissen aus; ich denke aber nicht, dass das damals irgendjemandem außer uns, vielleicht sogar nur mir, aufgefallen war. Sie hielten uns für harmlose Kindsköpfe, dabei waren wir Salon-Bolschewiken! Den Club hielten wir kühl und schlicht. Da Alkoholverbot herrschte, hatten wir aber bald keine Lust mehr. Das verband uns mit unseren Vorgängern, den Jazzern.

Ratinger Hof, Düsseldorf, 1981

Bildersammlungen wie die „Guter Abzug“-Box waren bei der Wahrnehmung dieser an sehr vielen Orten gleichzeitig stattfindenden, aus heutiger Sicht immer noch sehr lustig und sich überschlagend wirkenden Entwicklungen und Ereignisse ein wahrer Schatz. Sehr schön ist in diesen Bildern jene kurze, zerbrechliche Phase nachzufühlen und zu erahnen, in der sich die Szene noch nicht in diverse, zum Teil feindlich gesinnte oder einander ignorierende Subszenen ausdifferenziert hatte, sondern alles noch auf zusammengeworfene und ungeplante Art zusammenwirkte. Als Der Plan noch im selben Backstage war mit HansA-Plast und Dorau mit Östro 430. Die vier Säulen der Betrachtung kamen in „Guter Abzug“ im direkten Vergleich zum Tragen, hier konnte ich für jeden meiner Freunde den richtigen Haarschnitt, Tigerprint oder Gesichtsausdruck finden und empfehlen.

Genau genommen gab es aber natürlich fünf Säulen, auf denen alles ruhte: Da auf den Fotos ab und zu auch einige der coolen Akteurinnen der Szene zu sehen waren, konnte es auch vorkommen, dass man sich beim Anblick sofort verknallte. In jeder Hinsicht also Material von hoher Wirkmacht, im Grunde bis heute.

Hans Nieswandt

Haarcharts ca. 1981

Timo Blunck
Blixa Bargeld
Holger Hiller
Robert Görl
Gabi Delgado
FM Einheit
Dorau
Fähnlein Fieselschweif
Alexander von Borsig
Male

 

 

Kaput-Mitherausgeber Thomas Venker moderiert am 20. März in der Kunsthalle Düsseldorf eine Talkrunde zum Buch mit ar/gee gleim (Fotograf), Peter Hein (Fehlfarben, Family*5), Christina Mohr (Journalistin, Lektorin), Xaõ Seffcheque (Buchherausgeber, Family*5) und Markus Naegele (Verlagsleiter Heyne Hardcore). 
Im Anschluss spielen Family*5 (soul-punk/ Düsseldorf) und Creeps (electro-alternative-pop/ Düsseldorf). 

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