BDSM-Darkwave

Subversion, Porno, Poesie – An der Hundeleine bei “Grausame Töchter”

Als unser Freund und Autor Jan Apel erzählte, er hätte kaum Beschreibliches mit den “Grausamen Töchtern” erlebt, dachten wir mit Verlaub, es handele sich dabei um eine Aussage bezüglich seiner Familiensituation. Was nur beweist, wie wenig Ahnung im Kaput-Magazin hinsichtlich BDSM-Darkwave herrscht. Nach Apels äußerst spannender Schilderung geloben wir allerdings Abbitte. Und baten ihn, uns seine Reportage über diesen Abend zuüberlassen. Er willigte ein – und es sei bereits vorab gesagt: Das hat sich wirklich gelohnt. Aber lest selbst…

002Vs. kleinbürgerliche Spießerphantasien
Was wäre mein Leben wohl ohne die Grausamen Töchter? Ein trostloser Ort der Unkultur. Rein beruflich wurde ich zunächst auf die vielköpfige Dark-Electro / Wave-Formation um Gesamtkunstwerk und Sängerin Anna Pehling aufmerksam, die unter dem Alias Aranea Peel weitaus mehr als nur eine schnöde Musikgruppe betreibt. Mangels sinnvoller Alternativen muss man ihren harten, dissonanten und oft schmutzig verzerrten Electro-Sound wohl oder übel im Darkwave- und Gothic-Bereich einsortieren, tatsächlich bewegt sich die Band, wenn man auf viele ihrer Auftrittsorte, ihr Label und die mehrheitliche mediale Rezeption blickt, auch in diesem Kontext. Während die meisten anderen Acts dieser Szene mit langweiligem düsteren Pathos, öden Klischees und hohler Inszenierung von komplett erwartbaren Standards nerven und oft genug BDSM-Elemente in Ästhetik und Songtexten nur einbauen, um dem Orkus-lesenden WGT-Mainstreampublikum, sprich Friseusen und Sachbearbeitern bei ihrem alternativen Karneval, ein ausreichendes Gefühl von cooler Andersartigkeit zu verschaffen, ist es bei den Grausamen Töchtern gerade anders herum. Okay, fairer weise muss man schon erwähnen, dass es auch in diesem Bereich ein paar Bands gibt, die selbst aktiver Bestandteil der Szenerie um Lust, Schmerz, Unterwerfung und Herrschsucht sind. Aber die meiste an der Oberfläche schwimmende Scheiße ist reine Adventure-Folklore für die kleinbürgerlich entgrenzten Spießerphantasien des Darkwave-Massenpublikums mit der Fallhöhe von fünfzig Schattierungen Grautöne. Die bisher drei Alben der Grausamen Töchter und jeglicher weiterer visueller und textlicher Output stehen jedoch klar unter dem Vorzeichen, dass hier aus dem zentralen Urmoment einer unmissverständlich lesbisch-dominanten Fetischsexualität alles Folgende auf verblüffend direkte und produktive Art und Weise abgeleitet wird. Aranea Peel erschafft zusammen mit ihren unterwürfigen musikalischen und performenden MitstreiterInnen einen ganz eigenen Kosmos voller Hass, Missgunst, Herrschsucht, süffisantem Spott und satirisch überhöhter Gewaltgeilheit, der nicht nur als Self-Empowerment einer eingeschworenen sexuellen Subkultur eine extrem gute Figur macht, sondern gleichzeitig noch konfrontativ-unversöhnliche, beißende Kritik an gesellschaftlichen Standards, Doppelmoral und Verlogenheiten herausschleudert wie Gift und Galle und damit einen zumindest vorpolitischen oder kulturkritischen Raum betritt. Dass sich dies mit weiteren apokalyptischen, rituellen, misantropischen und sinistren Szenarien bestens zu einem übergroßen Anti-Alles- und Anti-Establishment-Szenario kreativ verkoppeln lässt, verwandelt die Band traumwandlerisch sicher. Und so ist es gar nicht so sehr das allzu Offensichtliche – die teils obszöne Lyrik oder das explizit auf pornografische Elemente verweisende visuelle Konzept, das mich hier so aus der Reserve holt, sondern vielmehr die Doppelbödigkeit und Mehrdeutigkeit, das intellektuelle und poetisch-künstlerische Potential, welches als eine von vielen Ebenen ebenso überzeugend herausgestellt wird. Ich habe mich in der Lebensmitte sowieso damit abgefunden, dass ich meine über 90-prozentige und unspektakuläre Mainstream-Heterosexualität nicht mehr zugunsten einer noch interessanteren Biografie abgestreift bekomme – interessiert mich diese Kiste hier womöglich aus denselben schalen Gründen wie der britische Erfolgsroman die schwäbische Hausfrau oder die Live-Bondage-Show den Nagelstudio-Assistent auf dem Leipziger Darkwave-Schaulauf zu Pfingsten? Schlimmstenfalls ja. Aber der starrhalsig nonkonforme Fanatismus dieser Band trifft auf unheilvolle Weise meine kindische Begeisterung für jegliche abseitige Subkultur-Abstrusität. Daher wirklich komplett überfällig, dass ich diese heimlich geliebte Band jetzt endlich auch mal bei einem Liveauftritt erleben kann.

001Stabile Kette
Nun soll es so weit sein, im Docks, und ich komme ohne große Komplikationen an einen Gästelistenplatz. Allerdings ist die Veranstaltung eine ganze Partynacht mit dem Namen “The Core”, in deren Rahmen der Auftritt nur ein kleiner Teil eines Gesamtprogramms ist – es handelt sich um eine waschechte Fetisch-BDSM-Veranstaltung, von der Szene für die Szene. Das alleine verunsichert mich zunächst noch nicht, aber ein paar Internet-Links um die Ecke wird mir klar, dass derlei Veranstaltungen erstens natürlich einen Dresscode verlangen und zweitens eine entschlossene Türpolitik haben können. Gleichgesinnte Conaisseure feiern nicht gerne unter glotzenden Touristen, verpeilten Random-Partyterroristen und sabbernden Spannern, und wer könnte das besser verstehen als ich? Zum Glück muss ich nicht als alleinstehendes, ungeschickt verkleidetes Vanilla-Männchen meine Demütigung schon vor der Clubtür entgegennehmen. Ich weiß, dass Sonja und Tom auch hinwollen, und die sind Profis im Sinne von mehr als nur ein einfältiges Hobby. So suche ich vertrauensvoll Anschluss, den ich will unbedingt das Konzert – gerade auch vor diesem definitiv über-18-Publikum mitbekommen. Meine Idee, irgendwie etwas punkig mit Nieten und Lederjacke auszugehen, wird von Sonja streng abgelehnt. Ich soll gefälligst Hemd, Anzug und unauffällige Lederschuhe anziehen, alles in grau bis tiefschwarz und ebenso gefälligst vor dem Konzert bei ihnen Zuhause auflaufen, wo noch andere Freunde sich zum selben Event versammeln. Jetzt hab ich aber richtig Bock, vielleicht sollte ich einfach häufiger so angeredet werden. Bei Sonja und Tom in der Bude angekommen fühle ich mich dann enttäuschend underdressed, die Beiden und Freundin Simone sind eindeutig interessanter angezogen als ich, einfach viel mehr Gummi und Plastik plus extra freigelassene Bereiche, die normalerweise wenigstens tagsüber und in Deutschland echt angezogen gehören. Es herrscht fröhlich ausgelassene Pre-Party-Stimmung, und ich erfahre, dass mein Outfit durch ein schweres Lederhalsband mit Eisenring inklusive einer daran befestigten stabilen Kette komplettiert wird, deren Halteschlaufe Sonja ab jetzt nicht aus der Hand geben wird. Hui, jetzt wird’s aber spannend!

Unmittelbare Verwandtschaft
Kaum verlassen wir die Wohnungstür, wird mir bewusst, dass dies etwas komplett anderes ist als jahrzehntelang nur selbst gewählt in auffälliger Kleidung herumzulaufen, was dazu führt, oft genug kritisch und neugierig angestarrt zu werden – und mit arroganter Selbstzufriedenheit einfach vorbeizugehen. Schon wenige Schritte in einer völlig unbevölkerten Kiez-Seitenstraße an einer Kette angebunden hinter einer Frau in einem sehr engen Latexkleid herzugehen ist schon eine mittelschwere Challenge, bevor der erste fremde Fußgänger überhaupt am Horizont auftaucht. Und schon gleich wird es auf die frühabendliche, noch tageslichthelle Reeperbahn gehen, auf der neben tausenden Touristen und Idioten natürlich auch jederzeit Irgendjemand auftauchen könnte, den man kennt. Herrliche Phantasieszenarien tun sich auf, da muss man gar nicht erst die unmittelbare Verwandtschaft vorm inneren Auge haben, es reicht die Idee, in einen Kiezbummel der Grundschullehrerin oder von Klasseneltern der eigene Tochter hineinzulaufen, um mir Schmetterlinge im Bauch zu machen. Geistesgegenwärtig lege ich mir den Exitcode “Ey sorry, ich habe nur eine Wette verloren” zurecht und grinse verliebt wahlweise die wabernde Amüsiermeilenmasse oder Sonjas scharf konturiertes Sitzfleisch an. Mein mir oft schon unkonventionell genug vorkommender Alltag ist plötzlich meilenweit entfernt, die Tür zu einer völlig anderen Bühne ist aufgestoßen, und das erwischt mich mehr, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Direkt vorm Docks angekommen, hab ich dann doch niemanden getroffen unterwegs, und ich ertappe mich dabei, das schon fast zu bedauern. Aber hier stehen wir erst mal eine Weile und warten auf weitere Freunde und Bekannte meiner Profi-Reisegruppe, während vereinzelt andere Paradiesvögel hinter uns schon den Eingang in den Club passieren. Bis zu unserem ersten Gruppenfoto sind wir immerhin schon zu acht, und nachdem wir dann selbst, natürlich ohne Trouble an der Tür in die dunkle Geborgenheit des Clubs wechseln, ist schon kurz nach der Garderobe der nächste Hotspot: der szenenahe Profifotograf Gerhard Kern hat ein Angebot parat, das wir nicht so richtig ablehnen können: vor einer ausgeleuchteten Wand (die erratisch ein erdfarbenes Ethnostyle-Muster zeigt) macht er fotografisch wertige Portrait- oder Gruppenbilder, die man als Gast dann gleich auf CD-R mitnehmen kann. Unsere Combo, inzwischen fortgeschritten entkleidet, lässt sich nicht lange bitten, und so finde ich mich kurz darauf mit einer Lederhandtasche zwischen den Zähnen, angekettet und auf den Knien auf dem Boden wieder. Zur Belohnung gibt es aber immerhin auch einen Satz lustiger Fotos mit Toms nacktem Arsch und Sonjas und Simones gepiercten Brüsten in Din-A1-kompatibler Auflösung zurück. Ist das Leben nicht doch ein stetiges Geben und Nehmen?

Pissen
Euphorisiert und durstig steigen wir in die unübersichtlichen Kellergemächer hinab, in denen sich liebevoll düstere Deko und Beleuchtung mit vereinzelt aufgestellten Foltergeräten die Hand gibt. Die Räumlichkeiten sind weitläufig, und um sie zu füllen müssten weitaus mehr Leute anwesend sein als bisher, was sich auch im Lauf der Nacht nicht erheblich korrigieren wird. Für die Veranstalter vielleicht ärgerlich, für verwirrte Novizen wie mich aber komfortabel, freie Sicht auf die schummerige und aufregend unbekannte Welt und kein Gerempel, immerhin bin ich Anfänger und auch noch angeleint! Im großen Showroom ist die Bühne für den Bandauftritt, das angrenzende Foyer mit Bar bietet zudem noch ebenfalls dekorierte Nebenräume für die etwas privateren Ansprüche. Es läuft Dancefloor-Kulisse zwischen EBM, Hardtrance, Electro und Minimal House und wir kippen uns erst mal diverse Flüssigkeiten in die Köpfe und zerstreuen uns ein wenig im Spielfeld, nur ich bin natürlich folgsam an der Kette. Auf der Bühne fängt ein mittelaltes Paar, er ganz der passionierte Handwerker, sie souveränes Verpackungsobjekt mit klassisch weiblicher Statur an, eine Schaudarbietung in Fesselkunst aufzuführen. Nach gefühlt fünfzehn Minuten hängt sie bedrohlich eingeschnürt in einem Gestell aus gebogenen Stahlstangen, auf dem Weg dahin hat mich eigentlich nur die profane scheiß Rockmusik zwischen 90’s Crossover und Pathos-Metal gestört. Der Rest war wirklich schön anzuschauen, vor allem wie ernsthaft und detailversessen das Männchen sein Weibchen mit seltenen Knoten aus dem Ausland nach und nach in ein hübsch aussehendes schwebendes Paket verwandelte. Sonja lässt die Kette lang, ich unterhalte mich nach der Darbietung mit Simone und darf ganz gegen die Regeln sogar ohne Begleitung pissen gehen (enttäuschenderweise). O Tempora, o mores!

003Sekt auf Eis
Die Beleuchtung fährt jetzt langsam runter, Kerzen stehen am Rand vor der Bühne und das Logo der Grausamen Töchter wird auf die Bühnenrückwand projiziert. Hallo, jetzt geht doch das los, weswegen ich eigentlich herkommen wollte – komisch, dass ich das schon fast wieder vergessen habe. Jedenfalls finden sich jetzt alle Anwesenden gemächlich in Bühnennähe ein. Aranea Peel tritt mit beeindruckender Besetzung an. Ihre Sub-Partnerin Era Kreuz ist die von Anfang an nicht allzu angezogene Bassistin (Weißes Unterhemd). Die Cellistin Bojana Tadic nimmt live umso mehr Raum ein, als dass die meisten elektronischen Sounds komplett als Playback laufen. Das Schlagzeug wird von einem Wesen mit Gummimaske bedient, höchstwahrscheinlich der einzige Mann in der heutigen Besetzung. Insgesamt stehen acht Personen auf der Bühne, die klare Mehrheit der Band ist für Performance, Tanz und Backing Vocals zuständig, zudem werden abseits der abgestimmten Lightshow permanent Videoprojektionen auf den Bühnenhintergrund geworfen, die thematisch auf jeden einzelnen Song abgestimmt scheinen. Aranea führt durch die Show, ist Chanteuse und Zeremoniemeisterin, bestraft ihre Mitstreiterinnen durch Schläge, Würgen oder einfach nur eiskalte Blicke, singt dabei traumhaft sicher mit einer durchgedrehten Hingabe, die Nina Hagen aussehen lässt wie meine Erdkundelehrerin vor 30 Jahren. Das hier ist Performance, Unterhaltung, Subversion, Poesie, Trash, Porno, Punk im eigentlichen Sinne – kurzum – alles was ich gerade echt gut brauche. Aranea wechselt während der Show mehrmals ihre Garderobe bis hin zu quasi nackt und mit Blut beschmiert, lässt ihre Gespielinnen Ritual-Messermorde im Bühnenhinterland aufführen und ist sich nicht zu schade, ihrer Partnerin und Mitmusikerin Era, mitten auf der Bühne liegend, voller schmollmundiger Langeweile und Verachtung in den geöffneten Mund zu pinkeln. Ich kann es ganz kurz nicht fassen, erahne aber instinktiv, dass ich hier Zeuge der abgeklärtesten und vollendetsten Form zwischenmenschlicher Zuwendung werde. Gab es eine Pause im Set, während der wir im Foyer den gefühlt achten Sekt auf Eis oder Ähnliches einnahmen, oder war diese Szene, wo ich mit der Gang locker plaudernd herumstehe, während Sonja ein paar trefflich scharfe medizinische Kanülen durch das Brustfleisch des entspannt seufzenden Tom fädelt, schon nach dem Konzert? Weiß ich nicht mehr.

Bedingungslos
Eine Weile später findet sich jedenfalls noch der größere Teil der Grausamen Töchter im Vorraum ein, bewirtschaftet den Merchandise-Stand und arbeitet den großen Zuspruch des Publikums im direkten Gespräch ab. Da darf ich natürlich nicht fehlen, geduldiges Anstehen (fällt angekettet echt leichter) führt sogar zu einem kurzen Zusammentreffen und Gespräch mit Aranea, das dabei entstandene Foto (danke, Sonja) werde ich nie wieder hergeben. Etwas später torkeln wir komplett jenseits von Gut und Böse aus dem Club, kommen irgendwie noch nach Hause – und hatten zuvor einen extrem großartigen Abend. Ich bin immer noch überrascht, wie bedingungslos ich mich einerseits in diese Veranstaltung hineingeworfen habe, und wie warm und voller Anerkennung ich andererseits von den Stammbesuchern der BDSM-Szenerie auch als komplett Außenstehender empfangen wurde. Oder kurz gesagt: unvergleichlich gut und unvergesslich!

Originaltext erschienen im Mind The Gap-Fanzine #17 – erhältlich hier:
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