One-Hit-Wonder der 1970er

Justus Köhncke: EINTAGSFLIEGEN DER VERGANGENHEIT

9. Februar 2020,

Justus Köhncke, 1996 (Photo: Claudia Schindler)

EINTAGSFLIEGEN DER VORVERGANGENHEIT
von Justus Köhncke

Die Pop-Musik der 1970er war geprägt von Grabenkämpfen, Vacua und Innovationen. Nach den Blumen und Herzaugen der 60er, die 1969 durch Vietnam, Altamont und Manson jäh und mitsamt ihrer revolutionären Musikblüten schwerbeschädigt worden waren, kam es spätestens 1976 durch UK-Punk zum Rücksturz in die Realität. Die 1970er wurden aber auch eine Spielwiese für hochbegabte Künstler_innen, auch wenn ihnen manchmal nur ein einziger Hit zuteil wurde. Zufallstreffer oder Meisterwerk, selten war die Geschichte der Popcharts von mehr und interessanteren Ausnahmeerscheinungen verziert als in den 1970ern.

Hier eine Liste meiner liebsten One-Hit-Wonder der 1970er. Garantiert lückenhaft. Das sind alles Werke, die ich hoch schätze, weil sie aus irgendeinem Loch einer Seitenkultur herausragten, um dann aber nach einer Woche Glanz fast restlos in den Charts wieder in der sprichwörtlichen Versenkung zu verschwinden. Große Kunst. Alles. Die Reihenfolge folgt daher keiner Hierarchie.

GERRY RAFFERTY „Baker Street“


In Zeiten von Punk wirkte dieser Superhit mit seiner Saxophon-Pompösität wie die Pest. Dabei ist dieses (autobiographische) Alkoholdrama feinsinnig und sehr berührend. Auch Stealer‘s Wheel, Raffertys erste Band, waren schon sehr gut, wie ihr Minihit „Stuck In The Middle With You“ von 1972 belegt. Mit 62 hat sich der Glaswegian leider totgesoffen.

ACE: „How Long“


Der elegante Luxussound kam 1974 in Mode, er passte zu den neuen teuren HiFi-Anlagen aus Japan, die Futter brauchten. Dramen in höchster Qualität. Eifersucht in Aspik. Minimalismus mit Sahnehaube. Die Plastic-Disco-Version von „Lipps Inc.“ ist wegen ihrer Bassline eines meiner Lieblingsstücke (wenn auch von 1981).

PLAYER „Baby Come Back“


Gehört zum Bereich “Eleganzoffensive”, ist auch aus derselben Zeit wie ACE. Verwirrte schicke Menschen auf teuren Sofas. Das klang aber sogar im US-Mittelwellenradio-Billboard-Top-100-Countdown gut, aufgrund der aufgeräumten Superproduktion. Bei Herzweh auch heute immer noch hilfreich: „I was wrong, and I just can‘t live without you.“

MARSHALL / HAIN „Dancing In The City“


Ein beiläufig formuliertes Versprechen einer anderen Galaxie. Mit 12 war ich alt genug, das wahrzunehmen. Die Musiker waren aus der exquisiten Clique um Eno / EG Records und David Cunningham / Flying Lizards, für das die Sängerin das betörend-irre „The Window“ sang. Und Marshall / Hain benutzten Syndrums als neuartiges Signatursoundfeature. Das in die dunkle schöne Nacht verführt.

SHERBET „Howzat“


Das waren wahrscheinlich richtige Vollidioten, hatten aber diesen einen Klopper im Gepäck. Juliane Werding hat eine deutsche Version gesungen, die nicht ungeil ist: „Wie findst denn das, da schauste, was?“

ASHA PUTLI „The Devil Is Loose“


Dass Asha Putli nie der Weltstar wurde, der in ihr schlummerte, lag nur an ihrer Verweigerungshaltung.


BARRY RYAN „Eloise“


Operette mit Patronengurt. Sein Zwillingsbruder hat es geschrieben, den Song gab es schon 1966. Es brauchte also sieben Jahre, bis er 1973 erkannt wurde. Der Zwillingsbruder ist leider tot, Barry aber nach wie vor auf Zack.

PILOT: „Magic“


Pilot haben, trotz bester Voraussetzungen (Spitzensongs, Alan Parsons-Produktion) ihrer Schotten-Blase nie wirklich entschlüpfen können. Leider.


M „Pop Muzik“


1979 – Ausbruch der Zukunft. „M“ stand für „Minimalismus“. Siehe Marshall/ Hain, was den Avantgardeaspekt in der Hitline angeht. „Dance in the supermarket, dig it in the fast lane. Listen to the countdown, they‘re playing that song again.“ Die 1980er werden ausgerufen.

ANDREA TRUE CONNECTION „More, more, more“


Eine Darstellerin in pornografischen Filmen, die kaum singen konnte, macht eine ultrasleazy ultrasexy Slowdisconummer, die sofort ein Welthit wird. Hilfestellung leistete mein Idol Tom Moulton. Was will man mehr?

MAXINE NIGHTINGALE „Right Back Where We Started From“


Das Meer. Der Dampfer. Das Lied. Hat sich die alte Motown-Perfektion in das Jahr 1976 verirrt? Heute ist diese flache
Nachtigall sicher eine Lesbenikone. Pure perfection.

GEORGE McCRAE „Rock You Baby“


Als Einfluss kaum zu unterschätzen. ABBA haben „Dancing Queen“ darauf aufgebaut, indem der fünfte ABBA, der Produzent, „Rock You Baby“ auf die 24-Spur tat. Als erstes. damit es exakt so groovt. Rhythmusmaschinen sondern präzisere Liebe ab als die meisten Schlagzeuger.

SYLVESTER „You Make Me Feel Mighty Real“


Totaler Zukunftsausbruch, siehe „M“. Einflussreicher als „Pop Muzik“, und zwar bis heute, da „queer“ wie bekloppt, als das
noch lange nicht so hieß. In stakelnder Opposition, was weitere Durchmärsche verhindert hat. Nach diesem Monsterhit! Die
entscheidenden Teilnehmer sind leider alle tot.

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