Als noch Kondition statt Carbon zählte
Wir schreiben den 10. Februar 1978. Vor dem Radstadion in Zürich rieseln weiße Flöckchen, in der Halle drücken sich bei der “Nacht der Superstars” auf der ovalen Radrennbahn nervöse Schweißporen durch die pastellfarbene Merinowolle der Trikots. Es ist die Nacht, in der Eddy Merckx, der beste Radfahrer aller Zeiten, bezwungen wird.
Das erste (geschichtlich festgehaltene) Radrennen fand 1867 auf der Avenue des Champs-Élysées statt – danach sollte das Radfieber schnell weltweit um sich greifen und dabei auch den ein oder anderen Autor erwischen. So weiß man von Ernest Hemingway, dass er die Fahnen seines Romans “In einem fremden Land” Korrektur las, während er in einer Loge ein Sechstagerennen in Paris verfolgte. Und Egon Erwin Kitsch formte seine Leidenschaft für Radrennen auch professionell in Reportagen. Er schrieb in “Elliptische Tretmühle”: “So bleiben alle auf demselben Platz, während sie vorwärts hasten, während sie in rasanter Geschwindigkeit Strecken zurücklegen. […] Sie bleiben auf derselben Stelle, im selben Rund, bei denselben Menschen – ein todernstes, mörderisches Ringelspiel.”
Aber zurück in die mit viel Rauch und Wurstgeruch gefüllte Radstation. Die Besucher_innen geben sich hitzigen Diskussionen hin. Und als ob die Rennen nicht auch so schon spannend genug wären, heizt Hallensprecher Charly Schlott die Stimmung dramatisch an – das Publikum goutiert seine Vorlagen mit lautstarken “Dai Felice”, “Forza Gimondi”, “Hopp Schwiiz” Rufen.
Der ehemalige Radsportler und Illustrator Marc Locatelli hat diesen (bisher von der Geschichtsschreibung vernachlässigten) Rennabend in seiner Graphic Novel “Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang” festgehalten. Wobei der damals 24-jähriger Elite-Amateur, der durch den Ausfall eines anderen Fahrers überhaupt erst die Chance bekam, gegen Francesco Moser, Didi Thurau und Merckx anzutreten, zwar – wie im Titel der Novel gespoilert – sein Idol Merckx bezwang, offiziell anerkannt werden sollte das jedoch nicht, aber dazu gleich mehr.
Mit seiner Graphic Novel korrigiert Locatelli zwar nachträglich die Geschichte gemäß seiner Sicht der Dinge, macht die (zumindest von ihm so wahrgenommene) Fehlbehandlung aber erfreulicherweise nicht zum Mittelpunkt der Geschichte. Vielmehr würdigt er diese besondere Ära des Radsports, als noch Kondition statt Carbon zählte – und nicht zuletzt deswegen die Akteure noch zu lebenden Legenden werden konnten.
Gelungen verdeutlicht Locatelli die körperliche Grenzerfahrung, die ein Radrennen von den Fahrern abverlangt. Man spürt die von Krampfadern durchzogenen Beine geradezu selbst als Leser_in, vollzieht ihr ständiges hacken, ziehen, drücken und ziehen mit. Radrennen können eine unerbittliche Sache sein: Die Lunge pumpt sich zum Heißluftballon auf, ein Endorphine-Rausch erfasst den Körper.
Locatelli bezwingt in dieser Nacht Merckx, doch wie so oft sollte auch nach diesem positiven Rauscherlebnis Ernüchterung eintreten. Die Tageszeitung verzeichnet am nächsten Tag Merckx als Achtplatzierten und Locatelli als Neuntplatzierten. „Die konnten den kleinen Loki nicht vor dem großen Eddy Merckx klassieren. Du weißt doch wie das Spiel läuft”, bringt es Radsportfreund Sergio Gerosa auf den Punkt.
Zehn Jahre war der gelernte Grafiker Locatelli als Radprofi aktiv, bevor er aufgrund “begrenzt athletischer Fähigkeiten”, wie er selbst das ausdrückt, sein in der Theorie unbegrenztes Wissen als Trainer weiterzugeben beschloss. Weitere zehn Jahre später tauschte er dann die Räder gegen Stifte ein und kehrte zurück zur Arbeit als Illustrator.
So ganz losgelassen hat der Radsport ihn aber natürlich nicht. Auf der offenen Radrennbahn in Zürich Oerlikon unterhält er die kleinste Galerie der Welt, die nur zwei Kubikmeter große “Kunstkabine”, eine umgebaute Telefonzelle. Hier zeigt er Fotografien, Illustrationen und Comics, die sich dem Radsport verschrieben haben, und verbindet durch seinen kuratorischen Blick die Generationen der Radrennfans.
Ein Anliegen, dass auch seine Novel kennzeichnet. Locatelli macht mit seinem nüchtern-schüchtern –Stil die von ihm selbst erlebte emotionsgeladene und berauschte Radsporära für die heutige Generation greifbar: das im Keller vermuffte Merino riecht wieder nach Schweiß, man bekommt beim Anschauen sofort Lust auf eine Zigarette voll mit Zusatzstoffen und ein kaltes Bier. “Allez, Eddy!” möchte man brüllen.
Etwas weniger nüchtern und schüchtern hätte er aber schon vorgehen können. Wenn er zu sehr am chronologischen Nacherzählen klebt, sehnt man sich nach etwas mehr Gefühlsaufwallungen. Oder um es mit Merckx zu sagen: “Rennen werden von dem gewonnen, der am meisten leiden kann.” Vielleicht ist es aber auch so, wie Hemingway vermutete: „Ich werde nie eine (Radrenngeschichte) schreiben können, die so gut ist wie das Rennen selbst.“
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Marc Locatelli
“Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang”
edition moderne
48 Seiten / 24 Euro