Lektürenotizen von Thorsten Krämer

bungakushitsu I

David Peace
“Tokyo Year Zero”
(Faber & Faber, 2007)

Mit Romanserien kriegt man mich ja immer. Deswegen schleiche ich schon seit ein paar Jahren um die „Red Riding‟-Tetralogie von David Peace rum, deren Verfilmungen ich allerdings schon gesehen habe. Mein erstes Buch von ihm ist jetzt aber doch ein anderes geworden, nämlich der Auftakt seiner Tokyo-Trilogie. Um es gleich vorneweg zu sagen: Subtilität gehört nicht zu Peaces Stärken. Um die psychische Verfasstheit seines Protagonisten erfahrbar zu machen, arbeitet er exzessiv mit Wiederholungen und Lautmalereien, was beim Lesen zunächst sehr nervt, bis man es irgendwann einfach innerlich abstellt. Auf diese Weise simuliert die Lektüre wahrscheinlich den Resignationsprozess bzw. den kontinuierlichen Verfall des Ich-Erzählers. Das ist als Methode recht grob, aber einigermaßen effizient. Freilich könnte das Buch ohne dieses Verfahren auch deutlich kürzer sein. Aber nun gut, Peace hat sich halt dazu entschlossen, den Ausnahmezustand, in dem sich nicht nur sein Erzähler, sondern das ganze Land nach der japanischen Kapitulation 1945 befindet, den Lesenden geradezu einzuhämmern.

Die vordergründige Krimihandlung, die Suche nach dem ersten japanischen Serienmörder (orientiert an einem realen historischen Vorbild), ist da nur die Plot gewordene Grundstimmung einer zutiefst verstörten Nation. Die ganze Zeit über verschwinden in diesem Roman Menschen, nicht nur weil sie Opfer von Gewalttaten werden, sondern weil sie untertauchen, neue Identitäten annehmen oder sich selbst verlieren in der Paranoia eines existenziellen Zweifels an allem. Zwischendurch erinnerte mich das beim Lesen an den Film Angel Heart, der ja ebenfalls im Nachgang des Kriegsendes spielt, allerdings auf der anderen Seite des Pazifiks. Peace stellt jedenfalls sehr konsequent alle Auswege zu, bis schließlich das endlose Hämmern des Regens fast schon zur haltgebenden Konstante wird. Dass dieses Buch der Auftakt zu einer Trilogie ist, merkt man ihm nicht an, es lässt sich auch für sich lesen. Die nächsten beiden Bände habe ich hier schon liegen, der Anschluss wird vermutlich eher thematisch/motivisch sein. Es interessiert mich schon, wie das dann gestaltet ist, aber erst mal sind ein paar andere Titel dran.

Chana Porter
“The Seep”
(Titan Publ. Group Ltd., 2020)

Chana Porter kommt vom Theater, und das merkt man ihrem ersten Roman auch an, nämlich daran, wie er Bezug nimmt auf eine aktuelle gesellschaftliche Debatte. Er stellt eine Art Intervention dar, wie es auch bei zeitgenössischen Stücken oft der Fall ist. Der Transfer in die Prosa ist aber äußerst gelungen, obwohl der Roman nicht sehr umfangreich ist, funktioniert das worldbuilding sehr gut, der Verweis aufs Theater ist also nicht als Kritik zu verstehen, sondern als Verweis auf eine bestimmte ästhetische Position. Also worum geht‘s?

In der nahen Zukunft hat die Erde Besuch bekommen von einer außerirdischen Lebensform, ein kollektiver intelligenter Organismus namens The Seep (ich verwende hier auch im Deutschen den englischen Artikel „the‟, der geschlechtsneutral ist. Queerness ist diesem Roman ganz selbstverständlich eingeschrieben.) Diese Lebensform braucht einen Wirt, mit dem sie dann in Symbiose lebt. Bei ihrer Ankunft unterbreitet sie der Menschheit das Angebot, alle ihre Probleme zu lösen, wenn die Menschen sie dafür in ihren Körpern leben lassen. Die Mehrheit willigt ein, eine Minderheit lebt fortan in einem abgetrennten Bereich, The Compound, wo The Seep sie auch tatsächlich in Ruhe lässt. The Seep ist ein sehr friedlicher Parasit, der mit seinen beinahe unbegrenzten Fähigkeiten sehr bald das Leben der Menschen komplett umkrempelt, die nun die Möglichkeit haben, als Teil eines kollektiven Bewusstseins zu leben, das sich um all ihre Bedürfnisse kümmert. Das Buch ist also eine Utopie, ein Entwurf einer gemeinschaftlichen Lebensform, die ich der Einfachheit halber mal als „kalifornisch‟ bezeichnen möchte. Man erkennt inzwischen sicher schon, auf welche aktuellen Diskussionen das Buch Bezug nimmt – The Seep verwandelt die Erde in einen großen inklusiven safe space. Das Tolle an dem Roman ist nun, dass er diese Ausgangslage nicht nutzt, um dieses Szenario in einen totalitären Alptraum zu kippen, wie es liberale Kritiker*innen der vermeintlichen „Cancel Culture‟ vielleicht erhoffen würden, sondern diese Utopie als Utopie aufrecht erhält, gleichzeitig aber ihre Grenzen aufzeigt. Diese Grenzen vermisst im Buch die Protagonistin Trina, die von ihrer Ehefrau verlassen wurde, weil diese, mit Hilfe von The Seep, ihr Leben noch einmal als Baby von vorne begonnen hat. Über diesen Verlust kommt Trina nicht hinweg, trotz aller Unterstützung durch The Seep und ihre Freund*innen. Erst die Begegnung mit einem Jungen, der aus dem Compound geflohen ist und sich in der Welt außerhalb zurechtfinden muss, setzt einen Prozess der Verarbeitung in Gang …

Der Roman zeichnet also ganz klassisch eine sentimental journey nach, und er tut dies auf so intelligente und sanfte Art, dass es wirklich hinreißend ist. Porter vertritt zudem eine Haltung in der aktuellen Auseinandersetzung um „woke‟ Positionen, die viel mehr Gehör verdient. Sie bejaht die Utopie und bewahrt sie vor dem Totalitarismus, indem sie in ihr eine Öffnung stark macht: die Möglichkeit der Trauer.

Nicola Barker
“Darkmans”
(Fourth Estate, 2007)

Es passiert selten, aber einigermaßen regelmäßig alle paar Jahre, dass ich ein Buch lese oder eine Autorin, einen Autor entdecke und daraus einen ganz neuen Impuls für mein eigenes Schreiben erhalte. Ich meine nicht nur, dass ich einen bestimmten Stil oder eine Komposition, ein Konzept für besonders gelungen halte und vielleicht sogar bewundere. Vielmehr geht es um Lektüren, die eine neue Tür öffnen für meine eigene Arbeit, mir ein bisschen von dem Gefühl wiedergeben, das ich am Anfang des Schreibens hatte, als würde ich noch einmal komplett neu anfangen zu schreiben. „Darkmans‟ von Nicola Barker gehört in diese Reihe. Es ist jetzt schon ein paar Jahre her, dass ich es gelesen habe, aber es gehört unbedingt in diesen Blog, weil es so eine befreiende Wirkung hatte.

Barker hat bereits eine Reihe von Romanen geschrieben, ich habe mich noch gar nicht getraut, sie alle zu lesen, weil allein dieser noch so nachhallt. Es ist ein recht umfangreicher Roman (838 Seiten), der seinen Umfang allerdings nicht einer weit ausholenden Handlung oder einem vielköpfigen Personal verdankt, sondern seiner besonderen Konstruktion. Denn etwas stimmt nicht mit diesem Roman. Etwas stört immer wieder die Handlung, die sich über einen relativ kurzen Zeitraum in einer englischen Kleinstadt abspielt. (Ich kenne mich in der englischen Geographie nicht besonders aus, aber die Bedeutung der Gegend, in der das Buch angesiedelt ist, wird in diesem sehr ausführlichen Essay gut herausgearbeitet: http://www.literarylondon.org/london-journal/september2009/marsh.html) Es sind sehr zeitgenössische Figuren, vielleicht ein bisschen schrullig hier und da, mit alltäglichen Problemen, die im Mittelpunkt der Geschichte stehen. Ein Vater und sein erwachsener Sohn, eine Frau mit einem kleinen Kind, das erste Verhaltensauffälligkeiten zeigt, ein Bauunternehmer, ein junger türkischer Einwanderer. Sie alle rotieren umeinander im Mikrokosmos ihrer Kleinstadt, es gibt zahlreiche Miniaturen, die einen sehr pointierten Blick auf die sozialen Beziehungen der Protagonist*innen werfen. Dennoch darf man sich das Buch nicht wie einen Film von Ken Loach vorstellen. Denn, ich sagte es schon, etwas stimmt nicht mit diesem Roman. Es fängt damit an, dass die Figuren mitunter Dinge sagen, die sie selbst nicht verstehen, oder etwas sehen, das für die anderen unsichtbar ist. Dann verändert sich auch ihr Verhalten. In einer herkömmlichen Horrorstory wäre all das ein Zeichen von Besessenheit, einer Besessenheit einer oder mehrerer Figuren. Von dieser Besessenheit würde dann erzählt, allerdings im vertrauten Rahmen einer fiktionalen Erzählung. Hier ist es anders. Der Roman selbst ist besessen, der Geist einer Art mittelalterlicher Eulenspiegel-Figur bemächtigt sich seiner. Nun kennt man natürlich unzuverlässige Erzähler, aber hier hat man es mit einem allwissenden Erzähler zu tun, dessen Allwissenheit plötzlich Lücken aufweist, dem seine eigene Schöpfung aus der Hand genommen wird. Eine feindliche Übernahme findet statt, derer man nur allmählich gewahr wird. Das ist ein höchst artifizielles Konstrukt, aber gerade im Einklang mit dem Sozialrealismus der Figuren und der Handlung geht dieses Experiment auf. Tatsächlich bringt diese Metaebene die Figuren bei der Lektüre sogar noch näher. Denn auf einmal sitzt man mit ihnen im selben Boot. Wie ihnen ihr Leben zu entgleiten droht, entgleitet einem/r beim Lesen der Roman. Das ist eine sehr eigentümliche Erfahrung, die ich hier nur sehr unbeholfen beschreibe. Jedenfalls hat mich diese Vorstellung einer fremden Instanz, die sich eines Romans bemächtigt, nachhaltig beeindruckt. Im Herbst habe ich einen neuen eigenen Roman angefangen, ein umfangreiches Projekt, das ich schon sehr lange geplant hatte – aber erst „Darkmans‟ hat mir den Hebel geliefert, mit dem ich hoffen kann, es tatsächlich zu stemmen.

Angélica Gorodischer
“Trafalgar (tr. Amalia Gladhart)” 
Small Beer Press (1979/2013) 

Trafalgar Medrano, der Titelheld dieses Buches, wird von der Autorin gleich zu Beginn mit einem kurzen biografischen Abriss vorgestellt. Er ist ein Kaufmann und Bohemien, der in der argentinischen Stadt Rosario in den 1970er Jahren regelmäßig in den Cafés anzutreffen ist und jeder Person, die ihm zuhören will, von seinen Ausflügen in ferne Galaxien erzählt. Diese Erzählungen machen den Großteil des Buches, es sind auf eine Art SF-Kurzgeschichten, die durch die Figur des Trafalgar zusammengehalten werden. Dieser ist ein Bruder im Geiste jenes hierzulande berühmteren Sternfahrers Ijon Tichy, den sich der polnische Autor Stanisław Lem ausgedacht hat. Die Ähnlichkeiten sind frappierend, die Unterschiede freilich auch. Wenn ich die spanische Wikipedia-Seite zu Lem richtig verstehe, sind seine wichtigsten Werke erst Ende der 1970er Jahre ins Spanische übersetzt worden, d.h. Gorodischer hat sie wahrscheinlich nicht gekannt, ihr Trafalgar (1979 erstveröffentlicht) ist unabhängig von Tichy entstanden (wenn jemand da Genaueres weiß, bitte gerne melden). Was die beiden verbindet: Vielfach basieren die Reiseberichte auf einem Gedankenexperiment, wie etwa beim Planeten Uunu, auf dem die lineare Abfolge der Zeit durcheinandergeraten ist. Von Tag zu Tag springt Trafalgar in der wechselhaften Geschichte des Planeten herum, die Rebellen von heute sind morgen bereits an der Macht, oder umgekehrt. („That‘s from Vonnegut‟, lautet der lakonische Kommentar von Trafalgars Zuhörerin.) Natürlich gelingt es Trafalgar nach kurzer Eingewöhnungszeit immer recht schnell, sich an die jeweiligen Gepflogenheiten anzupassen. Dabei erweist er sich stets als gewitzter Kaufmann, der auch chaotischste Lagen für seinen Vorteil zu nutzen weiß. Und auch bei den Frauen hat er zumeist Erfolg. Letzteres spielt, soweit ich mich erinnere, bei Lem eine deutlich untergeordnete Rolle. Das führt also zu den Unterschieden, die in Details liegen, aber in der Summe Trafalgar zu einer meiner Meinung nach interessanteren Figur machen als Tichy. Bei Lem gehört die Bühne allein dem Protagonisten, Tichy darf sich ungestört ausbreiten, er ist dabei, bei aller Brechung durch Übertreibungen und Absurditäten, doch eine Art Sprachrohr seines Autors. Wer einmal in Lems „Dialoge‟ reingeschaut hat, sein Platon-Pastiche, weiß, dass es ihm auch dort vor allem um Ideen geht, die Sterntagebücher unterscheiden sich in dieser Hinsicht nur in der gewählten Form. Gorodischers Trafalgar ist da ganz anders angelegt. Die Herausgeberfiktion verortet ihn ausdrücklich in der Realität, es ist von Anfang nicht klar, ob er wirklich diese intergalaktischen Reisen unternimmt oder nur ein phantasievoller Aufschneider ist. Alle Plausibilität weist natürlich in Richtung der letzten Lesart, aber es bleibt immer ein Rest Ungewissheit. Was sich zwischen Trafalgar und seiner Zuhörerin (und uns als Lesenden) abspielt, ist ein Flirt, eine Verführung. Trafalgar ist vor allem eines: ein Geschichtenerzähler, und the willing suspense of disbelief seines Publikums, diese Grundvoraussetzung für jede Erzählung, hängt in erster Linie von seinem Charme und seiner Kunstfertigkeit ab. Immer wieder führt Gorodischer den Text auf diese narrative Grundsituation zurück: Ein Mensch erzählt einem anderen etwas. Dazu wird bevorzugt schwarzer Kaffee getrunken.

Abschließend noch zwei lose Gedanken zu diesem Buch: In jüngster Zeit wird in Deutschland ja gerade die Idee der carrier bag fiction von Ursula K. Le Guin neu diskutiert (bzw. mit reichlich Verspätung entdeckt). Etwas davon findet sich auch in der umherziehenden Offenheit dieses Buches wieder. Interessanterweise hat Le Guin auch eines von Gorodischers Büchern ins Englische übersetzt. Und was die beiden Autorinnen außerdem verbindet: Sie zeigen deutlich, dass das Etikett der SF- oder Fantasy-Literatur viel zu kurz greift. Wenn überhaupt eine Klassifizierung benötigt wird, um solche Werke zu beschreiben, dann wäre mein Favorit immer noch speculative fiction.

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