Record of the Week

Lloyd Cole “Guesswork” (earMUSIC)

Das Studio von Lloyd Cole (Bildquelle: Jörn Wuttke)

Dieses Foto zeigt nicht das Studio eines Techno-Produzenten oder DJ’s, sondern das Home-Studio von Lloyd Cole, dessen neues Album “Guesswork” dort entstanden ist. Während die früheren Soundexperimente von Cole als Produzent elektronischer Musik – das 2001 erschienene Ambient-Album “Plastic Wood”, die Kollaboration mit der Krautrock-Legende Hans-Joachim Roedelius (Cluster ) “Selected Studies Vol. 1” und “1D Electronics 2012 -2014“ – allesamt nicht durchgehend überzeugend waren, überrascht “Guesswork” positiv.

Lloyd Cole (Bildquelle: Jörn Wuttke)

Auf “Guesswork”  kann man zum ersten Mal echte Pop-Songs mit Coles wunderschöner Stimme auf einem Fundament elektronischer Klangerzeuger hören. Während andere Autor_innen aktueller Popmusik (von James Blake bis Holly Herndon) versuchen, sich von den Presetsounds moderner Keyboards zu entfernen, um eigene Soundscapes zu errichten, erklingt auf “Guesswork” eine eher altmodische Mischung aus klassischen Synthesizern, Drumcomputern und minimalen Gitarren. Statt einen angesagten Produzenten zu engagieren, arbeitete der schottische Songschreiber zum ersten mal seit 1987 wieder mit seinen langjährigen “Commotions“- Weggefährten, dem Keyboarder Blair Cowan und dem Gitarristen Neil Clarke zusammen. Abgemischt wurden die Stücke gemeinsam mit dem Material-Gründer, Scritti Politti – Bandmitglied und Lou Reed-Produzent Fred Maher. Dabei ist kein typischer, von Clubmusik inspirierter Synthie-Pop entstanden, sondern klassische Lloyd Cole-Songs, von Keyboardklängen umrahmt, die ihre Wurzeln tief in den frühen 1980er Jahren haben. Die Single “Violins” erinnert mit ihrer eingängigen Melodie an Robert Palmers großen Radiohit “Johnny and Mary”. Der unwiderstehliche Motorikbeat dieses Stückes bezieht sich auch auf den typischen Schlagzeug-Groove von Klaus Dinger bei der Krautrockband Neu!. Die romantischen Keyboard-Streicher des Titels “Night Sweats” könnten von “Lullabye” von The Cure inspiriert sein. Zu den Stärken des Albums gehören auch Coles philosophische Gedankenführung und seine sehr gut gereifte Stimme. In den beiden Balladen “Afterlife”und “Remains” klingt sein Gesang zu pochenden 808 Beats so groß und gefühlvoll wie selten zuvor. Durch die minimale Produktion ist viel Raum entstanden, in dem sich die Stimme perfekt entfalten kann. Ähnlich wie bei Kraftwerk wirkt der natürlich klingende Gesang durch die synthetische Klangumgebung noch menschlicher.

Lloyd Cole (Bildquelle: Jörn Wuttke)

Im Gegensatz zu vielen anderen traditionellen Gitarren-Interpreten (wie zum Beispiel Jeff Tweedy, Bill Callahan oder Robert Forster), die momentan eher mit semi-akustischem Setup erfolgreich sind und dem aktuellen Pop-Chart-Geschehnissen keine große Relevanz beimessen, geht Cole mit seinem neuen Hybrid-Popsound im Alter von knapp 60 Jahren ein überraschend großes Wagnis ein. Ein Wagnis, das aufgeht – auf seiner Homepage bedankt er sich bei seinen Fans, dass er mit “Guesswork” seit langer Zeit mal wieder in einigen Ländern Europas in die Top 100 der offiziellen Album Charts und in die Top 10 diverser Downloadanbieter vordringen konnte. Obwohl er in Interviews immer wieder betont, die Aufnahmen des neuen Albums in seinem Haus in Massachusetts sehr Low-Profile gehalten zu haben, merkt man ihm dennoch den unbedingten Willen an, nach den mässigen Verkäufen der letzten Jahre wieder an frühere Charterfolge anzuschließen und sich dort (zwischen Rammstein, Ed Sheeran und Billie Eilish) mit Coolness, Haltung und anspruchsvollen Texten zu behaupten ohne die alten Fans zu enttäuschen – auch darin besteht Lloyd Coles neuer Zauber.
Jörn Wuttke

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