Goodbye 2025

Glanz und noch mehr Glanz: Die 10 besten deutsch-sprachigen Songs 2025

20. Dezember 2025,

Spätestens seit im Sommer mein Buch „Völlig schwerelos. Glanz und Elend der deutschsprachigen Popmusik in 99 Songs“ erschienen ist, trete ich als Heinz Sielmann der deutschsprachigen Popbeobachtung auf. Ich lege mich auf die Lauer, observiere die Brutstätten, notiere Reviermarkierungen, protokolliere Paarungsrufe und analysiere Fluchtreflexe. Gewissenhaft habe ich so die zehn besten deutschsprachigen Songs des Jahres isoliert. Gleichzeitig liefere ich eine Antwort auf die Frage, wie oft man das Adjektiv deutschsprachig in ein Vorwort schreiben kann, ohne dass es komisch wirkt, nämlich viermal. / Von Wolfgang Zechner

10 Ikkimel & Barre – „GIFTMORD“

Für das, was Ikkimel macht, bin ich fix zu alt. Aber: Hätte es Ikkimel gegeben, damals als ich 15 war, hätte ich nichts anderes gehört. Schwöre! Das hier ist die Fortsetzung von Punk mit anderen Mitteln. Fragen drängen sich auf: Ist das noch Feminismus oder schon Metafeminismus? Oder ist das einfach nur Kettensäge? Die Antwort gebt ihr euch am besten selbst. Fest steht: „GIFTMORD“ ist krass, krude, geschmacklos und lustig. Aber leider auch aktuell. Und: Der Track bringt garantiert die richtigen Typen, also die falschen, auf die Palme. Was will man mehr? Genau. Nichts.

09 Low Life Rich Kids – „NNNDW“

Einer von gleich zwei österreichischen Songs in meiner Liste! Bernhard Eders neues Bandprojekt „Low Life Rich Kids“ (zusammen mit Mara Romei und Coco Brell) überraschte mit einem metakontextuellen Song zum Thema „Neue Neue Deutsche Welle“. Wer sich mit mir schon mal über Pop unterhalten hat, weiß, wie sehr ich diesen Begriff verabscheue, also Neue Neue Deutsche Welle mit zweimal „Neue“ darin. Eder hat aus meinem Trigger einen charmanten Indie-Hit gebastelt, der sich ein viel größeres Publikum verdient hätte. Einzig warum er darin „Silbermond“ referenziert, bleibt sein Geheimnis. Eder sollte vielleicht mein Buch („Völlig schwerelos. Glanz und Elend der deutschsprachigen Popmusik in 99 Songs“, Anm.) lesen. Aber das ist eine andere Geschichte.

08 Das Lunsentrio – „(Es ist) Grau überm Heinrichsplatz“

Würde ich Franz Ferdinand als Side-Project des Lunsentrios bezeichnen, klänge das zwar lustig, wäre aber leider falsch. Richtig ist, dass ein Franz-Ferdinand-Gründungsmitglied, nämlich Nick McCarthy, inzwischen beim Lunsentrio Gitarre spielt. Das ist und bleibt mein liebster Fehler in der Pop-Matrix. Auch der jüngste Lunsentrio-Song „(Es ist) Grau überm Heinrichsplatz“ hat sich das Prädikat „superfantastisch“ verdient, um in der schottischen Diktion zu bleiben. Die Lyrics lassen mich ratlos zurück, und auch die Frage, was das Lunsentrio eigentlich genau darstellen soll, kann ich nicht beantworten. Dazu fehlt mir die entsprechende Lebenserfahrung. Ich bitte um Nachsicht. Eines kann ich aber sagen: Der Song ist groß. Ganz groß.

07 Brausepöter – „Abhängig von Musik“

Das soeben erschienene Album der „ältesten in Originalbesetzung spielenden Punkband Deutschlands“ (Eigenbezeichnung der Band) war eine der großen Überraschungen des Jahres. Der Geist von 1976/77 klang schon lange nicht mehr so frisch und unverbraucht wie bei den drei Herrschaften aus Ostwestfalen. Der beste Song des Albums ist „Abhängig von Musik“, weil er uns Suchtkranken unsere Droge beschreibt. Wenn das kein Grund ist, das Lied hier reinzuschreiben, weiß ich auch nicht.

06 Tocotronic – „Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal“

Tocotronic ist die wichtigste deutsche Band der letzten 30 Jahre. Drüben, auf diesem Hügel, bin ich bereit zu sterben. „Golden Years“, das jüngste Album der Gruppe, fügt dem Gesamtwerk ein weiteres funkelndes Mosaiksteinchen hinzu. Es ist ein – wenn man so will – Alterswerk, das den Legendenstatus der Gruppe intelligent ausleuchtet. Den Song „Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal“ erkläre ich kurzerhand zum Schlüsseltrack des Albums. Auch auf die Gefahr hin, dass mir Jan Müller die Freundschaft aufkündigt, erlaube ich mir, den Song in die Schublade mit dem Aufkleber „Elegischer Adult-Pop“ einzusortieren.

05 Die Liga der Gewöhnlichen Gentlemen (featuring Andreas Dorau) – „Hedy Lamarrs siebter Mann“

DLDGG-Songwriter und -Sänger Carsten Friedrichs lädt zur beschwingten Geschichtsstunde. Das Thema: emigrierte Wiener Golden-Age-Filmdiven, die weniger als Gattinnen, dafür aber als Erfinderinnen reüssierten. Um diesem Special-Interest-Gegenstand zusätzliches Gewicht zu verleihen, hat Friedrichs kurzerhand Andreas Dorau als Mitsänger engagiert. Kann das schiefgehen? Kann es natürlich nicht. Was soll überhaupt die Frage! Trotzdem eine Trigger-Warnung: böser Ohrwurm!

04 Die Heiterkeit – „Teufelsberg“

Stella Sommer ist Die Heiterkeit. „Schwarze Magie“ ist der Name eines Songs und der Name ihres aktuellen Albums. Frau Sommer singt, als wäre das ganze Jahr über Winter, und haut dabei Zeilen raus, die im Herz detonieren wie kleine, kluge Handgranaten. Beispiel gefällig? In „Teufelsberg“ singt Stella Sommer diese Ungeheuerlichkeit: „Manchmal merkt man erst, dass man einsam war, wenn man es nicht mehr ist.“ Schluck!

03 Schrank/Simons/Benjamin – „Internet des Waldes“

Ich könnte die Meriten der drei Musikerinnen hier aufzählen, aber das würde den Rahmen dieses kleinen Kassasturzes sprengen. Hier die Stichworte: Hans-a-Plast, Bärchen und die Milchbubis, Schachtrufe BRD. Zeit ist Geld, ich bin bekanntlich ein hoch bezahlter Autor, also bitte googelt euch den Rest selbst zusammen. Nur so viel: Für Menschen, die so ticken wie ich, also für wahrscheinlich niemanden, ist das so, als würden Patti Smith, Debbie Harry und Rosalía gemeinsam einen Song aufnehmen. Okay, der Vergleich mag hinken wie ein weidwundes Rennpferd, dafür hält der Song das, was die Namen Schrank, Simons und Benjamin versprechen. Das ist eigentlich unmöglich, aber trotzdem wahr.

02 Endless Wellness – „Die guten Jahre“

Tu Felix Austria! Als ich den Song zum ersten Mal hörte, hielt ich inne. Mit jedem Wort, das mir der Sänger in einer merkwürdigen Melange aus Verzweiflung und Euphorie um die Ohren knallte, führte er mich weiter hinaus aufs Glatteis. In keinem Moment konnte ich erahnen, welchen Haken er textlich als Nächstes schlagen wird. Jedes Wort eine Überraschung, jede Zeile ein Treffer. „Wenn wir, weil wir müssen, uns in Bettchen legen, wer fährt die Maschine hinter deinen Schläfen“, fragt er sein Publikum. Ich bin perplex, fühle mich angesprochen, will antworten, lasse es dann aber bleiben. Was soll das? Ist das noch Punk oder schon was Neues?

01 Rosalia – „Berghain“

Da half kein Bekreuzigen und kein Vaterunser: Der katalanische Superstar Rosalía stürmte mit ihrem sakralen Album „Lux“ heuer den Himmel. Es handelt sich dabei um eine Art Symphonic Rock (!) Konzeptalbum (!!) zum Thema christliche Märtyrerinnen (!!!). Grundgütiger! Das klingt erst einmal grauenhaft, ist aber genau das Gegenteil. Im Song „Berghain“ singt Rosalía in deutscher Sprache sogar die Londoner Philharmoniker an die Wand. Aha, so klingt also Wahnsinn, wenn er sich als Genie verkleidet. Oder ist es gerade umgekehrt? Who cares? Im Schatten der Göttin verlieren alle Fragen an Bedeutung. Übrig bleibt Ehrfurcht. „Berghain“ ist eine Grenzüberschreitung, ein Statement, ein Fiebertraum und der beste deutschsprachige Song des Jahres, ach was, vergesst das Adjektiv. Der beste Song des Jahres. Punkt.

Text: Wolfgang Zechner

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