„Adolescence“ – Die ganz normale Gewalt
„Adolescence“ erzählt von einem dreizehnjährigen Jungen, der eine Mitschülerin ermordet. Die Serie erreichte nach einer Woche in 79 Ländern Platz eins der Netflix-Charts und wurde alleine in Großbritannien 24 Millionen mal gestreamt. Die meisten Kritiker:innen waren sich einig: Hier geht es um Incels, um Radikalisierung im Internet, um falschen Medienkonsum. Dabei liegt die Stärke der Serie gerade darin, keine einfachen Antworten zu geben. Von Julia Pustet.
In „Adolescence“ sehen wir einen ganz normalen Jungen, der ein ganz normales Leben führt, bis er das Unbegreifliche tut und eine Mitschülerin mit mehreren Messerstichen tötet. Nachdem falsche Fährten zunächst noch suggerieren, es könne darum gehen, ob er es nun wirklich getan hat, ist bald klar: Hier geht es nur um das Warum. In vier Folgen beleuchtet „Adolescence“ jeweils eine Instanz im Leben des jungen Protagonisten, angefangen von einer kleinstädtischen Polizeistation über eine durchschnittliche Schule, die laut Polizistin stinkt wie jede andere, über eine Seele, in der nicht die ganz großen Traumata lauern, bis hin zu einer Familie, die nicht perfekt ist, aber auch nicht zerrüttet. Die Spannung der Serie stellt sich nicht über den Plot her, nicht über die große Enthüllung, nicht über den Aha-daran-liegt’s-Moment, sondern auch über die Diskrepanz zwischen all jener Durchnittlichkeit und der Entsetzlichkeit des Verbrechens, das der junge Mörder begangen hat.
Dass da so wenig überraschendes auf der Plot-Ebene passiert und noch weniger Schockierendes enthüllt wird, dass der Junge eben kein geschlossenes Weltbild und keine überzeugte Incel-Lingo übernommen hat, nicht komplett internetsüchtig ist, die unmittelbare Gewalt, die er ausübt, nicht selbst unmittelbar erfahren hat, das ist genau die Moral von der Geschicht: Die Gewalt ist trotzdem da. Sie vermittelt sich durch alle Instanzen – und keine davon, weder Schule, noch Familie, noch der richtige Umgang mit Instagram, können sie alleine einhegen. Die Psyche des ganz normalen Jungen ist bereits so deformiert, dass er gar nicht wissen muss, was ein Incel ist und von keinem davon agitiert werden muss, um Frauen zu hassen. Die Konflikte seiner Adoleszenz wurzeln tiefer und vermitteln – darin liegt die besondere Tragik von „Adolescence“ – nicht den Anschein, in Beratungs- und Aufklärungsgesprächen produktiv gelöst werden zu können.
Dass die Serie in vier One-Takes gedreht wurde, ist dabei nicht einfach Selbstzweck fürs Wow Erlebnis wie im (gescheiterten) Filmexperiment Victoria, sondern erzeugt im Kurzschluss zum theatralen Arbeiten eine Unmittelbarkeit in der Begegnung mit den Figuren, die uns deren Ausgeliefertsein in ihre Umstände zuweilen unerträglich fühlbar macht. Ob die verwinkelten Flure des Polizeipräsidiums, in dem wir der Versachlichung und Verwaltung der Gewalt beiwohnen, das Gespräch mit der Therapeutin, das uns die Unmöglichkeit des Entkommens vor den inneren Spannungszuständen des jungen Täters schmerzlich greifbar macht oder die Autofahrten im Familienvan, in denen auch die Familie mit all ihrer liebevollen Verbundenheit, ihren kleinen Aggressionen und ihren Übergriffigkeiten als unausweichliche Realität vor Augen geführt wird: „Adolescence“ schafft es in jeder Episode, den zwingenden, widersprüchlichen und verrohten Charakter einer ganz normalen Realität spürbar zu machen, ohne dabei in Zynismus zu verfallen.
Die Fährten, die „Adolescence“ in den einzelnen Folgen legt, sind teils unscheinbar: Wir sehen entwürdigende Polizeipraxen, die sich den Anschein geben (müssen), bloßer Verwaltungsakt zu sein, wir sehen rassistische und geschlechterbasierte Ausgrenzungsdynamiken an einer Schule, wir sehen Mobbing, Revenge Porn und den ganz normalen Selbstdarstellungszwang auf Instagram, wir sehen einen liebevollen Vater, der alles versucht, um gut zu sein, und doch die Grenzen seiner Frau und Tochter übertritt, wir sehen Frauenfiguren, die immer wieder in die Passivität gezwungen werden und ein Ermittlungsteam, in dem sich Geschlechterhierarchien fast unmerklich reproduzieren, Wir sehen Eltern, die vieles richtig gemacht haben, aber nicht alles. Und vor allem sehen wir: einen kleinen Jungen, mit dem wir mitfühlen können.
Denn auch die Psyche der Hauptfigur scheint nicht von grundlegend anderen Konflikten bewegt als die von anderen Teenagern: Im virtuos gespielten und gefilmten Gespräch mit der Psychologin sehen wir einen bedürftigen Jungen, der liebt und geliebt werden will, der noch wenig Selbstgefühl hat, und einen Jungen, der Zurückweisung nicht erträgt, der seine Gefühle nicht selbst regulieren kann, der brutal kontrollieren will, sobald er den Kontrollverlust fürchtet. Seine Abscheu gegen Frauen ist ihm noch nicht einmal selbst ein Begriff – in der Dynamik mit der Therapeutin, der er höchst ambivalent begegnet, benennt er seinen Frauenhass nicht, er zeigt, er agiert ihn und entblößt ihn darin als etwas, was nicht bloß von außen kommt. Was wir da sehen, ist kein gemachter Incel, es ist ein schmerzhaft unbedarfter Junge, in dem schon alles angelegt ist, was Menschen dazu bringt, ihrem noch formlosen Hass später mit Begriffen und Überzeugungen Form und Ventil zu geben.
Wer sich „Adolescence“ moralisierend nähert, wird darin eine verachtenswerte Haltung erkennen, nämlich eine, die Verständnis für den Täter aufbringt. Und ja, „Adolescence“ nähert sich dem Täter mit mehr Empathie, als wir es aushalten können, bringt uns mit unserem Mitgefühl für die in Liebe trauernden Eltern in eine konflikthafte Betrachterinnen-Situation. Dass die Serie den Täter gleichzeitig nicht in Schutz nimmt, ist ihre große Stärke – und der Grund dafür, dass es genau richtig ist, dass Netflix einmal mehr eine Serie über einen Täter produziert hat. Ja, es gibt eine mediale Obsession für Täter, die Gewalt an Frauen zum lustvoll nacherzählten Skandal macht. „Adolescence“ aber bedient die Logiken dieser Erzählungen nicht. In „Adolescence“ geht es nicht um einen Täter, es geht um Täterschaft. In einer Weise, die anders als jeder True-Crime-Podcast weder das Spektakel, noch die ganz großen und einfachen Antworten sucht. Wenn wir besser verstehen wollen, woher die Gewalt rührt, die psychischen Deformationen, die unerträglichen Spannungszustände, kann es vielleicht hilfreich sein, uns diesen in ästhetisch vermittelter Form auszusetzen, um uns nochmal anders fragen zu können: Was hat das mit uns zu tun? In „Adolescence“ lernen wir: Ganz schön viel. Die Serie hat viele kleine Antworten auf die Frage gefunden, was uns zu Tätern macht. Und berührt damit auch die Frage danach, wie wir zu Opfern werden.
Text: Julia Pustet