Kolumne

Oh, Schreck! Rassismus gar kein Problem der Unterschicht? – Sylt und die Folgen

28. Mai 2024,

Sylt ist in aller Munde. Zurecht empört man sich über die Gäste des „Pony“, so der Name des Clubs, in dessen Außenbereich ein paar schnöselig daherkommende Erwachsene mit umgebundenem Pulli ausgelassen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ gesungen haben. Doch was machen wir nach dem Aufschrei? Eine Intervention von Jessica Ramczik.

Als Anfang des Jahres die Gäste einer Karnevalsveranstaltung in Olpe zu Gigi D’Agostinos „L’amour toujours“ dieselben rassistischen Liedtexte gesungen haben, hat man diese Vorfälle mit deutlich mehr Schulterzucken quittiert. Bestenfalls hat man sich die Frage gestellt, wo dieser Trend herkäme, nicht aber, wie man ihn bekämpfen könnte. Denn fest steht: Es ist kein neuer Move, „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ auf den Electro-Hit aus den Nuller Jahren zu skandieren. Auch hier leiteten die entsprechenden Staatsanwaltschaften rechtliche Schritte ein. Sich ernsthaft die Frage zu stellen, was dies über den Zustand einer Gesellschaft aussagt, hat man bestenfalls nur indirekt getan – so weit weg kann man sich die Verhältnisse denken, wie sie in manchen Landstrichen Deutschlands, darunter wohl vermeintlich mehrheitlich in Ostdeutschland, herrschen. Ossis halt. Die machen sowas. Normal da. Doch man muss in aller Deutlichkeit sagen, wer sich erschrocken zeigt, der hat das Problem Rassismus eben auch als Unterschichtenproblem betrachten wollen. Aber Rassismus geht eine Gesellschaft als Ganzes an, weil er eine ganze Gesellschaft betrifft und sie als Ganzes zu einem feindlichen Ort macht. Und er wird nicht erst dann ernsthaft kritikwürdig, wenn sich nicht nur die vermeintlichen Assis seiner Codes, Slurs und Zuschreibungen bedienen, sondern auch die vermeintlichen Leistungsträger in Boat Shoes und Ralph Lauren in den Scheißchor einstimmen. Jetzt auf einmal ist man nicht mehr nur erschrocken darüber, dass in einem Internat unweit von Sylt, ebenfalls in Schleswig-Holstein, die Schüler*innen von Louisenlund ebenfalls das unrühmliche Lied sangen.

Der Annahme, dass die reichen Töchter und Söhne auf ihrer Insel der Reichen und mit ihrer aufgeklärten Bildung irgendwie immun davor seien, rassistisch durch den Tisch zu treten, wohnt ein klassistisches Moment inne. Aber so etwas wie ein stetiger Rechtsruck wird nun einmal nicht allein von denen betrieben, die besoffen Steine auf Asylsuchendenheime werfen oder sich im Erzgebirge den Freien Sachsen anschließen. Er wird auch nicht allein in Sylt betrieben oder lediglich im Darknet, sondern vor allem auf Social Media, sichtbar für alle und zielgruppengerecht vermarktet. Wer sich jetzt ganz besonders empört über das Video aus Sylt zeigt, der hat auch nicht verstehen wollen, dass ein rassistischer Normalzustand eben auch von der gehobenen Mittelschicht erzeugt und gestützt wird und dass er nicht alleine dort stattfindet, wo man ihn die ganze Zeit verorten will, sondern in ganz Deutschland und mit großem Erfolg in den sozialen Medien.

Mittlerweile hat sich auch Gigi D’Agostino zu den Vorfällen auf Sylt geäußert. Ein Aufatmen in der Internet-Community. Man kann aufatmen: Ein einst erfolgreicher DJ findet es nicht geil. Case closed? Nein. Denn dies wird nicht der erste und nicht der letzte Akt eines rechten Kulturkampfes sein. Denn, wie unter anderem das ZDF kürzlich berichtete und worauf vielfach in den sozialen Medien hingewiesen wurde: „L’amour toujours“ durch rechte Lyrics umzudeuten, ist kein neues Phänomen und es ist auch nicht zufällig. Adorno argumentiert in seiner kritischen Theorie der Kulturindustrie, dass Kulturprodukte in der modernen kapitalistischen Gesellschaft nicht frei von Weiterverwertung und Umdeutung durch faschistische Ideologien sind. In der Kulturindustrie sehen Adorno und Horkheimer einen Mechanismus der Manipulation und Kontrolle. Faschistische Ideologien können diese standardisierten Produkte leicht umdeuten und für ihre Zwecke nutzen. Adorno weist darauf hin, dass Kulturprodukte leicht ideologisch vereinnahmt werden können. Es ist eben auch ein No-Brainer „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ auf das lyricfreie dö dö dö dööp zu singen. Die Frage ist nur: Warum gelang dies ausgerechnet hier so gut? Die kommerzielle Verfügbarkeit und die Massenverbreitung von Kulturprodukten in der Kulturindustrie erleichtern diese Vereinnahmung, da die ursprünglichen Bedeutungen und Kontexte oft verloren gehen. Neonazis und rechten Akteuren wird es herzlich egal sein, dass Gigi D’Agostino darauf verweist, dass es in dem Lied um ein wunderbares, großes und intensives Gefühl geht, das die Menschen verbindet und es die Kraft der Liebe sei, die ihn hochleben ließe, wie er sagte, nachdem man ihn nach der rechten Vereinnahmung seines Tracks fragte. Denn Nazis machen genau das auch mit anderen Songs. Ursprung, Bedeutung, Kontext und Künstler sind egal. In ihrem aggressiven Kulturkampf haben Rechte bereits „Bailando“ und „Major Tom“ vereinnahmt. Social Media ist voll mit rechten Codes, nationalistisch konnotierten Re-Uploads, untermalt mit Stilmitteln der germanischen Mythologie und Roman Empire Imagery.

In den sozialen Netzwerken überschlagen sich nun die Witze über Old Money Style, über die gelöschten LinkedIn-Profile, über die Anwälte, die eilig durch die Gegend brausten, um das zu retten, was zu retten ging. Es kursieren Persiflagen von Sylt-Nazis, die mit Papis Kohle sozialchauvinistisch herumprotzen und ihr Rechtssein feiern. Sogar große Firmen wie die DB stiegen mit ein, nutzten die allgemeine Heiterkeit und Schadenfreude über die Sylter Rassisten, um gleich ein wenig Eigenwerbung und Marketingerfolg herauszuschlagen. Es schien, als wolle man sich gegenseitig überbieten in der Einigkeit darüber, dass hitlergrußzeigende Schnösel lächerlich seien. Dabei wäre es ein kleiner Schritt gewesen, einige Fragen mehr zu stellen, als darüber zu lachen, wer als Nächster seinen Job verliert oder dass die Staatsanwaltschaft Flensburg Ermittlungen aufnimmt. Man zeigt sich froh und fühlt sich auf der richtigen Seite, wenn die rechten Yuppies mit ihrem mutmaßlichen alten Nazigeld eine Art von Widerstand und Kritik erfahren, wie sie ihnen bis dato wahrscheinlich nur selten entgegengeschlagen ist. Stattdessen hätte man andere Fragen stellen können. Einige davon könnten sein: Handeln Firmen wirklich aus purer Mitmenschlichkeit oder haben sie auch einfach nur Kapitalinteressen? Wenn es hier schon um altes Geld geht: Was haben diese Firmen und ihre Inhaber zwischen ’33 und ’45 gemacht? Wurde das je richtig aufgearbeitet? Wer sind diese Unternehmen, die auf X, ehemals Twitter, in den Empörungskanon einsteigen? Spenden die vielleicht an CDU oder AfD? Oder die Frage: Warum beklatschen wir einen Bundeskanzler Olaf Scholz, wenn er die Sylter Bagage rüffelt, und kritisieren diesen nicht mit derselben Vehemenz, wenn er Abschiebegesetze verschärft und im ersten Quartal 2024 4.800 Menschen, also fast 1.000 mehr als im 1. Quartal des Vorjahres, abgeschoben werden? Warum ist das Internet nicht lauter, wenn eine Bundesregierung „Ausländer raus“ praktisch werden lässt?

Ja, es ist eine bizarre Szene. Eine weiße Oberschicht skandiert 2024 Neonazi-Slogans straight from the 90s auf einen Hit straight aus den 00ern, filmt das Ganze und einer von ihnen ist dummdreist genug, das Video zu verbreiten. Anfangs zeigen sich erst Aktivisten, Politiker und Influencer empört. Nach wenigen Tagen scheint es schwer, an diesem Video vorbeizukommen. Die Reaktionen schwanken zwischen satirischer Aufarbeitung, Schadenfreude, echter und gespielter Fassungslosigkeit. Man grenzt sich kollektiv ab und vergewissert sich gemeinschaftlich selbst: Alle auf der richtigen Seite. Deutschland ist bunt statt braun – wie zuletzt nach den Nazileaks der Recherche-Plattform Correctiv. Man war sich schnell einig: So geht das selbstverständlich nicht. Auch in Sylt werden nun Mahnwachen organisiert, am 2.6. sogar eine Demo. Die taz titelt am Montag, den 27.5.: „Wo sind die Punks, wenn man sie braucht?“ In großen Teilen der Bubble allerdings, die sich jetzt so witzig über die Vorfälle in Sylt echauffiert und damit reichlich likebaren Content produziert, herrscht beredtes Schweigen darüber, was man angesichts der Kommunalwahlen, die am Tag vorher stattfanden, tun könnte, wo Hitlerfan Tommy Frenck im Landkreis Hildburghausen gegen den CDU-Kandidaten in die Stichwahl um den Posten des Landrats geht, wo Björn Höckes noch weiter rechts außen stehender AfD-Flügel der ohnehin schon konservativen CDU gefährlich auf die Pelle rückt. Wo bleibt die Empörung im Angesicht eines etwaigen AfD-Ministerpräsidenten in Sachsen oder wenn Demokratieprojekte in den neuen Bundesländern Gemeinnützigkeit und Förderung verlieren? Warum all die Empörung über Sylt und das offenkundige Egalgewordensein der Verhältnisse in den neuen Bundesländern, die wie in ganz Deutschland schlimm sind und das Potenzial haben, noch schlimmer zu werden? Wenn antifaschistisches Engagement aber eine Witzebubble der sozialen Medien nicht verlässt und es bei einer einmaligen „Gigi aber mit linken Lyrics“-Demo bleibt, was ist dieses Engagement dann wert? Wo wird in der gleichen Intensität und laut genug gesagt, dass Selbstberuhigungsreels zum Ablachen über das, was hier gerade passiert, bequem sind und das Schmunzeln aber darüber okay, aber dann doch nicht genug?

Text: Jessica Ramczik

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