We Better Talk This Over #1: „Street-Legal“ von Bob Dylan (1978)
We Better Talk This Over
#1: „Street-Legal“ von Bob Dylan (1978)
„We Better Talk This Over“ ist die Kaput-Kolumne von Lennart Brauwers, in der unterbewertete, oft übersehene (oder gar verhasste) Alben gefeierter Berühmtheiten besprochen und neu eingeordnet werden. Schließlich kann sich der Blick auf Musik verändern, je älter sie wird. Also: Extrem viel Großartiges findet zu Unrecht kaum Beachtung – darüber sollten wir nochmal reden.
„The truth was obscure, too profound and too pure. To live it, you had to explode.“
Mir gefällt der Gedanke, dass das erste Doppelalbum der Rockgeschichte entstanden ist, weil Bob Dylan so voller Liebe war: Sein Opus magnum „Blonde on Blonde“ (1966), das vor umwerfender Kreativität fast zu explodieren scheint, beendete er mit dem umfassenden Liebeslied „Sad Eyed Lady of the Lowlands“, in dem ihm so immens viele Beschreibungen für seine Ehefrau Sara Lownds einfielen, dass der Song die 10-Minuten-Grenze überschritt – und „Blonde on Blonde“ auf zwei Platten verteilt werden musste. Als wäre er besoffen vor lauter Zuneigung, klingt Dylan in „Sad Eyed Lady of the Lowlands“. Er fand schlichtweg kein Ende, seine Liebe war grenzenlos.
In „Where Are You Tonight? (Journey Through Dark Heat)“, dem letzten Track auf „Street-Legal“ (1978), hieß es aber zwölf Jahre später: „There’s a woman I long to tough and I’m missing her so much“. Der vorliegende Brief ist übersäht mit Tränentropfen, Dylan klingt hier völlig allein; in einem Song, dessen Percussion-Intro an „Sympathy for the Devil“ und – viel wichtiger – an „All Night Long“ von Lionel Richie erinnert. Jedenfalls werden wir hier Zeuge eines Mannes, der am Boden liegt. Während „Sara“, der Closing-Track des vorherigen Albums „Desire“ (1976), noch als letzter Versuch zur Rettung der Ehe gilt, hat Dylan den Kampf in „Where Are You Tonight? (Journey Through Dark Heat)“ schon längst verloren. Die letzten Zeilen des Songs sind ebenso ergreifend wie viele Momente aus Dylans Karriere, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekommen: „I can’t believe it, I can’t believe I’m alive. But without you, it doesn’t seem right. Oh, where are you tonight?“
Damit stecken wir schon tief in der Welt von „Street-Legal“. Gehen wir nochmal einen Schritt zurück und überlegen: Warum ist Bob Dylan die einzig richtige Wahl für den ersten Artikel dieser Kolumne, in der es ja um unterbewertete Alben bekannter Poplieblinge gehen soll? Weil er sowas wie der Patron dieser Disziplin ist.
Bis zu seinem karriereunterbrechenden Motorradunfall im Jahr 1966, also bis inklusive des erwähnten „Blonde on Blonde“, ist jede Dylan-Veröffentlichung ein wichtiger Bestandteil der Popgeschichte. Seine Verwandlung vom aufstrebenden Folksänger zum aneckenden Rockstar steht auf einer Stufe mit der Diskographie der Beatles oder den Filmen von Stanley Kubrick. Darüber zu schreiben ist sinnlos, weil das schon unendlich oft gemacht wurde.
Geht man weiter in der ellenlangen Karriere, sind da immer noch Alben, die mehr als bekannt sind. Das hochsentimentale „Blood on the Tracks“ (1975) eh, weil es aufgrund seiner Emo-haftigkeit vor allem für jüngere Dylan-Fans ein Highlight ist, und natürlich das herrlich verwaschene, auf den Tod fokussierte Comeback-Album „Time Out of Mind“ (1997) – um nur zwei Beispiele zu nennen.
Doch auch über die kanonisierten Klassiker hinaus hat jeder Dylan-Fan seine*ihre individuellen Favoriten: „Infidels“ (1983) oder „Self Portrait“ (1970), wenn man verrückt ist sogar „Triplicate“ (2017) oder „Christmas in the Heart“ (2009). Und so weiter. Wenn ich mir jetzt also ein Album herauspicke und es für unterbewertet erkläre, ist das natürlich anmaßend, weil wir hier schließlich von einem der prägendsten Kunstschaffenden des 20. Jahrhunderts sprechen. Jede Dylan-Platte wurde schon totanalysiert und hat seine Anhängerschaft, nicht nur die Üblichen. Das mein ich, wenn ich ‚Patron dieser Disziplin’ sage.
Von „Street-Legal“ scheinen die Leute aber weiterhin ein falsches Bild zu haben. Damals wurde es verrissen, vor allem von der amerikanischen Presse: Der bekannteste aller Dylanologen, Greil Marcus, warf dem Album im Rolling Stone vor, man könne ihm nicht länger als wenige Minuten am Stück zuhören. Er deutete Dylans Lyrics – der Mann hatte eine heftige Scheidung inklusive Sorgerechtsstreit hinter sich – als puren Sexismus (teilweise nachvollziehbar). „Most of the stuff here is dead air, or close to it“, schrieb er damals über die vermeintliche Substanzlosigkeit der Platte, und verglich sie stellenweise mit den Eagles. Aua.
Auch heutzutage ist „Street-Legal“ noch umstritten, so bezeichnete Sam Sodomsky das Album in einem Pitchfork-Artikel als „directionless“. Ja, orientierungslos war Dylan allemal: Nachdem er für die Vorgänger-LP „Desire“ mit dem Theaterregisseur Jacques Levy zusammenarbeitete, stand der damals 37-Jährige wieder alleine da – ohne seine Sara, das kam noch dazu. Bob Dylan war lost. Doch ohne Navi kommt man ja bekanntlich an die spannendsten Orte.
Man muss sich nur mal das Albumcover anschauen. Bob Dylan sieht darauf so aus, als würde er denken: Und jetzt? Wohin als nächstes? Rechts oder links? „Can you tell me where we’re heading?“, fragt er in „Señor (Tales of Yankee Power)“ und mir fällt auf, dass sich diese Frage in Dylans Karriere immer wieder gestellt wurde. Mit völlig verschiedenen Antworten, die seinem Publikum öfters vor den Kopf gestoßen sind: Er griff zur E-Gitarre und wurde ausgebuht; er fand zu Jesus Christus – seine neue Ehe im Anschluss an „Street-Legal“ – und wurde ausgebuht; er veröffentlichte drei Alben voll mit gecoverten Sinatra-Songs und wurde, nun ja, zumindest nicht dafür gefeiert.
Es scheint mir also eine berechtigte Frage zu sein, ob Bob Dylan eigentlich immer orientierungslos ist; auf eine klare Richtung zielt schließlich auch das weitreichende „Blonde on Blonde“ nicht ab. Anders als andere Classic-Rock-Legenden wie Bruce Springsteen schien Dylan nie einen konkreten Plan zu haben. Und schon vor David Bowie verwandelte er sich ständig auf Chamäleon-artige Weise – der Regisseur Todd Haynes hat dieses Phänomen in seinem Film „I’m Not There“ anhand sechs verschiedener Schauspieler*innen dargestellt –, ging dabei aber zufälliger vor. Er hat die Dinge einfach mal ausprobiert, ganz spontan, und ist dann wieder zur nächsten Sache gehüpft. Ich frag mich also: Ist Bob Dylan womöglich die talentierteste Fahne im Wind?
Auf „Street-Legal“ war es dann eben so, dass der Wind ihn zu einem glattgebügelten Soft-Rock-Sound wehte. Das Ganze hat eher was von Neil Diamond als von Neil Young, was auf dem Papier ja erstmal unschön klingt, aber überraschend gut funktioniert. Aufgrund des prominenten Saxophons von Steve Douglas, das hier an Stelle von Dylans altbekannter Mundharmonika trat, erntete „Street-Legal“ außerdem Vergleiche zu Springsteen; auch wenn das aufgrund der seichten Arrangements eher unpassend ist. Viel mehr sollte die Platte an die pompösen 70er-Shows von Elvis Presley erinnern, der kurz vor „Street-Legal“ verstarb – ein Ereignis, das Dylan unter die Haut ging: „I went over my whole life“, erzählte er. „I went over my whole childhood. I didn’t talk to anyone for a week.“ Als Elvis-artige Figur sah Dylan sich seit jeher, so sagte er mal im Bezug auf die Diskrepanz zwischen Selbstbild und öffentlichem Image: „I never wanted to be a prophet or a savior. Elvis maybe, I could easily see myself becoming him. But prophet? No.“ Somit ist „Street-Legal“ auch als Hommage an einen seiner größten Helden zu lesen.
Besonders herausstechend sind die weiblichen Background-Chöre, die einen auffälligen Kontrast zu Dylans nörgeliger Stimme liefern und auf ansprechende Weise fehl am Platz sind. Ich kann mich erinnern, wie ich diese Gospel-Chöre beim erstmaligen Hören von „Street-Legal“ als merkwürdige Genreverirrung wahrnahm, sie dann aber lieben lernte und irgendwann lautstark mitsang, jedes Mal wenn sie ertönten – weil ihre Deplatziertheit eigentlich sogar sympathisch rüberkommt und perfekt zu Dylans damaligem Gefühl von ‚Ich bin nicht da, wo ich hingehöre’ passt.
Die scheinbar auf Erfolg ausgerichtete Poprock-Ästhetik, die „Street-Legal“ in seiner Gesamtheit ausstrahlt, ist im Kontext von Dylans Diskografie hochinteressant. Schließlich war seine Karriere noch Anfang der 1970er-Jahre davon geprägt, mit Absicht (?) weniger Erfolg haben zu wollen. So veröffentlichte er anti-kommerzielle Alben – vor allem „Self-Portrait“ –, verstellte seine Stimme zu einem uncharakteristischen Country-Croon und brachte immer mehr hingerotzte Coversongs heraus.
Dass „Street-Legal“ dann am Ende des Jahrzehnts so aufpoliert klang, bringt uns zurück zum Gedanken von ‚Bob Dylan als Fahne im Wind‘: Ließ er sich treiben und verlief sich schlichtweg in dieser soften Soundwelt, oder rannte er bewusst von den Dingen weg, die mit ihm in Verbindung gebracht wurden, wie es womöglich bei „Self-Portrait“ der Fall war?
Wir stellen fest, dass die Grenzen da schwammig sind, zumindest bei Dylan. Das Herumkauen auf der Frage, warum zum Teufel er so ein herrlich-kitschiges Album veröffentlichte, ist jedenfalls ein großer Teil der Anziehungskraft von „Street-Legal“.
Als Ergänzung zur besseren Einordnung: Ebenso verwirrend ist „At Budokan“ – ein in Japan aufgenommenes Live-Album, welches der Musiker zur gleichen Zeit und mit (fast) den gleichen Begleitmusiker*innen aufnahm. Während seine vorherige Tour, die großartige „Rolling Thunder Revue“, bis heute als ein Höhepunkt in Dylans Karriere gefeiert wird, repräsentieren „At Budokan“ und die dazugehörige Welttournee einen Mann, der seine Identität aus den Augen verloren hat. Unschuldig sind diese Live-Auftritte mit Sicherheit nicht daran, dass diese Dylan-Ära einen eher schlechten Ruf hat, denn „ At Budokan“ ist sein vielleicht größtes FUCK YOU. Dylan spielte zwar seine allergrößten Hits, verwandelte sie aber in bizarre Reggae-Versionen, pumpte sie voll mit exotischem Flötengedudel und tat auch sonst alles dafür, um das Ganze irgendwie befremdlich zu gestalten. Das ist Verirrung und Flucht zugleich… so wie „Street-Legal“.
Im bestmöglichen Sinne irritierend sind auch die wirren Lyrics. Bob Dylan definierte den Text seines Übersongs „Like a Rolling Stone“ (1965) – wir erinnern uns an den Refrain: „To be on your own, with no direction home“ – mal als „long piece of vomit“, was als Beschreibung noch viel besser zu den Tracks auf „Street-Legal“ passt. Wie Kotze in Wortform, fühlen sie sich an; wenn auch wie Kotze, in der es sich lohnt, rumzupulen.
Nehmen wir den Opener „Changing of the Guards“ und schauen uns erstmal den Titel an: Dass sich etwas Grundlegendes verändert, scheint Dylan darin zu akzeptieren – und hat natürlich recht, vor allem im Bezug auf seinen Status als kulturelle Institution. Zwei Jahre vor „Street-Legal“, während den Aufnahmen des überragenden Konzertfilms „The Last Waltz“ von Martin Scorsese, ist Bob Dylan noch der Star des Abends. Doch ein paar Jahre später, als sich die amerikanische Popwelt für „We Are The World“ zusammentat, wirkt er viel mehr wie ein verkümmertes Relikt aus einer anderen Zeit, auf das die anderen Ikonen warten müssen, weil Dylan sich auf dem schimmernden 80er-Arrangement nicht zurechtfinden kann. „Changing of the Guards“ also; eine Art Wachablösung, die Dylan sehr wohl wahrzunehmen schien.
Mit den Worten „sixteen years“ beginnt er den Song und damit auch „Street-Legal“ als Album – vermutlich ein Kommentar auf die verstreichen Zeit, schließlich begann seine Karriere genau sechzehn Jahre zuvor. Es steckt etwas so Sentimentales in diesen Akkorden und der Art, wie Dylan sich in ihnen breitmacht. Sein Talent als authentischer Sänger war immer schon der Grund, warum ich seine Musik so regelmäßig aufsuche (“It was a voice you couldn’t fix, couldn’t plumb, and couldn’t turn away from, that held an allure you probably couldn’t explain“, schreibt Greil Marcus in seinem Buch „Folk Music“). Man muss sich nur mal anhören, wie die Wörter „48 hours later“ in Wellenform aus Dylans Mund gleiten; wie er die Wörter „ditches“, „stitches“ und „witches“ verbinden kann, obwohl sie auf mehrere Zeilen verteilt wurden.
Und dann diese abstrusen Bilder: Trauernde Hirten. Verzweifelte Frauen, die ihre Flügel ausbreiten. Diebe, die hungrig nach Macht sind. Ein Kapitän der am Boden liegt, aber noch fest daran glaubt, dass seine Liebe wieder repariert wird (ja, Dylan ist dieser Kapitän). Das sind Bilder wie Halluzinationen. Sie haben etwas Psychedelisches und erinnern damit an Dylans bewusstseinserweiternde Lyrics aus 1965/66. Es ist vor allem die vorletzte Strophe, die hier in Gänze zitiert werden soll:
„Gentlemen, he said
I don’t need your organization, I’ve shined your shoes
I’ve moved your mountains and marked your cards
But Eden is burning, either get ready for elimination
Or else your hearts must have the courage for the changing of the guards“
Dass die Dinge sich ständig verändern, hat Bob Dylan ja mehrfach klar gemacht – „The Times They Are A-Changin’“ (1964), „Things Have Changed“ (2000) –, doch hier wirkt dieses Sentiment am gravierendsten. Entweder man gibt auf oder macht sich dafür bereit, dass alles anders wird. Wichtig zu hören und für Dylan etwas, das dauerhaft in der Luft hängt: „‚Changing of the Guards‘ might be a song that might have been there for thousands of years, sailing around in the mist, and one day I just tuned into it“, erklärte er 1978.
Gleichzeitig wirft die Songwriter-Legende uns auf „Street-Legal“ auch konkrete Aussagen zum eigenen Leben zu – zumindest scheint es so. Einer von Dylans Söhnen, Jakob, beschrieb das warme Meisterwerk „Blood on the Tracks“ mal so, er könne darauf seine Eltern reden hören (während Bob Dylan jegliche Verbindungen zwischen den Songs und seinem Privatleben abstritt).
Es mag ja sein, dass das für Jakob so ist, doch ich selbst habe beim Hören der Trennungssongs auf „Blood on the Tracks“ eher fiktionale Figuren vor Augen, wohingegen ich „Street-Legal“ ganz klar mit Dylan und Sara in Verbindung bringe. Dass mit „long black shaggy hair above her face“ eindeutig Sara gemeint ist, kann Dylan einfach nicht bestreiten; um nur ein einzelnes Beispiel zu nennen. In „Señor (Tales of Yankee Power)“ gibt es eine Zeile, die den Unterschied von „Blood on the Tracks“ und „Street-Legal“ auf geradezu mystische Weise kommentiert: „This ain’t a dream no more, it’s the real thing“.
Er sei auf der Spitze des Bergs gewesen, hätte gelegentlich mal Zufriedenheit verspürt und mit Königen gespeist. Doch all das sei ihm egal gewesen, singt Dylan. Nur das jetzt gerade, die Sache mit ihr: die geht ihm nahe. „If you don’t believe there’s a price for this sweet paradise, just remind me to show you the scars“. Auf keinem anderen Album hat Dylan uns seine Narben so kompromisslos gezeigt. Und das Tollste daran ist, dass er das nichtmal mitbekommen hat.