Talk im Stehen

Zwanzig Jahre ohne Sitzen – Interview mit einem Proktologen

Unser Chefreporter Roland van Oystern hat uns hier wirklich einen ganz besonderen Beitrag mitgebracht. Er sprach mit Dr. Martin Oswald einem vielgereisten Augsburger Proktologen und Chirurg. Vor zwanzig Jahren hat jener mit dem Sitzen aufgehört – von den Gründen und noch so einigem mehr wird in diesem Artikel die Rede sein. Erhebt euch von der harten Bank, eine neue Zeit bricht an. Fotos: Meta Schnell.

Im Wartezimmer der Praxis von Dr. Oswald steht nur ein einziger herkömmlicher Stuhl, und der ist versehen mit einem Warnhinweis. In dem unterhaltsam bestückten Zimmer gibt es außerdem den »Unstuhl«  – ein mit Stacheldraht umwickelter Holzstuhl –, Vitrinen, in denen kleine Porzellanchirurgen ihren Wachpatienten bizarres Zeug aus dem Bauch säbeln, sowie Zeichnungen und Schriften aus eigener Fertigung. Von den üblichen Illustrierten liegt keine aus. »Stern, Spiegel, das ist nicht mehr das, was mir gefällt. Wenn der Patient schon warten muss, soll er was von mir mitkriegen.« Der Mann ist 69, wirkt aber wie gut erhaltene 51. Recht präsent im Zimmer: Äthiopien. Da war der Doktor auf Expedition – auf eigene Faust, mit einem Koffer voll Instrumenten – um die Enddärme eines Naturvolks mit denen seiner Patienten zu vergleichen. Auch davon gleich Näheres. Aber jetzt mal von vorn.

Erinnern Sie sich an Ihr letztes Mal Sitzen?
DR. OSWALD Daran kann ich mich nicht mehr so genau erinnern.

Was hat Sie bewogen, das Sitzen aufzugeben?
Ich war ein nahezu militanter Stuhlsitzer bis zu dem Moment, als ich die Krankheiten meiner Patienten als stuhlverursacht erkennen konnte. Das passierte mir auf der Suche nach der Ursache von Krampfadern und Hämorrhoiden. Ich kann nichts dafür. Es passierte mir einfach so. Je mehr ich mich dann mit den Prinzipien der Anatomie und Funktion des Menschen beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass auch viele, sehr viele degenerative Krankheiten nur das Sitzen auf dem Möbel als Ursache haben. Arthrose, Krebsarten, Blinddarmentzündung, Geburtsprobleme, Prostatakrebs, Herzinfarkt, Schlaganfall … Da ich mit allen Patienten etwas gemein habe, nämlich den Menschenkörper, lag es nahe, dass ich ebenso erkranken könnte wie meine Patienten. Wer würde da nicht aufhören zu sitzen, wenn er erkennt, mit eigenen Händen fühlen kann, mit eigenen Augen sehen kann, woher das Verderben kommt? Ich folge meinem natürlichen Selbsterhaltungstrieb.

Gibt es Situationen, in denen Sie dann doch sitzen?
Alles ist bei mir im Übergang. Erst war es nur das Sitzenweglassen. Jetzt strebe ich auch diese unzähligen Zwischenhaltungen an.

Was sind Ihre häufigsten Zwischenhaltungen?
Hocke, Knien, in Variationen.

Wie sehr sind Sie gesellschaftlich eingeschränkt?
Die Gesellschaft stößt mich nicht aus. Ich tue ihr nicht weh, also lässt sie mich. Wenn andere auf dem Stuhl oder Sofa sitzen, da findet sich für mich immer ein Platz zum Stehen oder irgendeiner Haltung am Boden.

Beim Elternabend kommt das bestimmt auch schräg, oder?
Da geh ich nicht hin. Ähnlich wäre es wohl auf medizinischen Kongressen, wo ich eben stehe, teils seitlich im Saal, wenn ich zuhöre oder dann schon auch oft oben auf dem Podium, wenn ich selbst spreche.

Wie ist das Verreisen mit dem Auto oder dem Flugzeug?
Ich kann nicht sagen, dass es leicht ist. Es ist oft unbequem, nicht aber unmöglich. Der menschliche Körper ist für derartigen Transport nicht geschaffen.

Fürs Auto und Flugzeug verwenden Sie selbergebaute Untergründe, richtig? Wie funktionieren die?
Natürlich ist alles im Lauf der Zeit entstanden. Das Sitzen hat verschiedene Komponenten, die auf den Körper wirken. Erstens wird man in gewisser Form getragen, und wenn man dann noch gepolstert wird, da spürt der Körper keine Aufgabe mehr, sich durch eigene Muskulatur, durch eigenes Polstern zu schützen. Also habe ich aus meinem Auto die Polsterung ausgebaut. Da ist jetzt statt der Polsterung ein Holzbrett, sodass ich auf einem harten Untergrund sitze. Das ist das, was ich mit dem Autosattel hab machen können. Man sieht das nicht, weil der Lederüberzug drüber ist. Das Holzbrett, das zunächst drin war, hat den Lederüberzug kaputt gemacht, also musste ich das Holzbrett unter den Lederbezug hineinbauen. Und die Sitzlehne, die habe ich nach hinten gestellt, dass ich gezwungen bin, mich selbst aufrecht zu halten. Die Sitzlehne des Stuhles nimmt dem Körper die Aufgabe weg, sich aufrecht, sich selbst zu halten. Das sind die beiden Komponenten. Die Polsterung und die Stütze des Rückens. Es ist dann trotzdem noch eine Art Stuhl, die ich leider nicht hundertprozentig eliminieren kann.

Auf einem herkömmlichen Stuhl ohne Lehne sitzen wäre schon ein bisschen besser? So zum Einstieg. Vielleicht noch im Schneidersitz?
Da sprechen Sie die Dinge an, die ich auch anfänglich begonnen habe. Der erste Schritt war, nicht zu sitzen. Damit steht man und damit ist sowieso schon nichts falsch. Stehen ist eine natürliche Haltung des Menschen. Dann hatte ich aber Möbel in der Praxis. Ich hatte Sessel, ich hatte einen Chefsessel aus Leder gehabt, und einen großen Schreibtisch und alles mögliche, aber dann habe ich dieses angenehme Sitzmöbel verbannt, und begann, um die anderen Möbel zu erhalten, mit einer Klavierbank zu arbeiten. Durch die größere Fläche kann man da eben im Schneidersitz draufsitzen. Der Scheidersitz ist richtig. So war ich dann immer noch auf der Ebene der Patienten, und das waren die ersten Versuche. Mit der Zeit habe ich das dann aber auch reduziert, da hat mich dann letztlich die Klavierbank aufgeregt, und ich habe mir gedacht, dann sitze ich halt am Boden, wenn der Patient steht, oder ich stehe eben auch neben dem Patienten.

Zwanzig Jahre ohne Sitzen … guter Aufhänger fürs Thema … aber das Sitzen ist es eigentlich nicht, es ist das Sitzen auf dem Stuhl.
Richtig, es ist das europäische Sitzen. Aber wenn man hierzulande mit Menschen spricht, alle verbinden mit dem Sitzen ein Möbel. Man sitzt auf etwas drauf. Und das tut der Afrikaner nicht, das tut der Asiate oder Araber nicht. Die sitzen entweder in der Hocke oder sie knien oder sie sitzen im Schneidersitz. Es gibt verschiedene Kulturkreise, die verschiedene Ruhehaltungen bevorzugen, sagen wir mal so. Aber alle haben sie kein Hilfsmöbel dafür, alle machen das mit ihrem eigenen Körper, und das ist das Entscheidende. Der Mensch hat seinen Körper, und der braucht kein Möbel. Das Möbel unterstützt ihn, nimmt ihm die Aufgabe weg und dadurch verliert er seine eigene Haltung.

Wie ist die Tischsituation zu Hause mit der Familie, z.B. am Esstisch?
Es gab Jahre, da folgten mir alle auf den Boden um einen japanischen Esstisch. Mittlerweile steht da wieder die bayerische Eckbank. Ich kniee davor, die Kinder haben die Beine auf der Sitzebene.

Warum wurde die japanische Variante daheim wieder abgeschafft?
Das habe ich wieder abgeschafft, weil meiner Frau war das einfach zu ungemütlich. Die ist halt auch hier aufgewachsen und die machte zunächst schon mit, weil es ihr logisch und schlüssig erschien, aber sie hat dann gesagt, es tut ihr leid, das macht ihr dann keinen Spaß zu essen, weil es so anstrengend ist, sich mit dieser Unbequemlichkeit zu beschäftigen, und so haben wir das dann, na ja, gegen meinen Wunsch, abgeschafft. Die Kinder haben die Füße jetzt oben. Die haben das einfach nicht mehr aufgehört. Mit den Beinen angewinkelt sitzen die, oder im Schneidersitz, und die Frau sitzt halt europäisch. Und ich kniee. So vermeide ich den Stuhl.

Im Stehen, beim Knien, in etlichen Zwischenhaltungen richtet sich der Darm gesundheitlich vorteilhafter aus als beim Sitzen auf dem Stuhl. Nach Afrika haben Sie auf eigene Faust eine Expeditionen unternommen, um die Enddärme eines Naturvolks mit denen der Hiesigen zu vergleichen. Wie lief das ab? Zehn Mal waren Sie dort, oder?
Zehn Mal war ich dort, ja. Das allererste Mal war das eine richtige kleine medizinische Expedition. Das war im Westen von Äthiopien. Es war mein Ziel, Menschen zu untersuchen, die nicht auf dem Stuhl sitzen. Damals war es so – ich war zu der Zeit schon viel in der Welt rumgefahren – und es hat mich immer genervt, wenn ich weit geflogen bin, dass ich dieses Jetlag habe. Wenn man nach Afrika fliegt, hat man kein Jetlag, weil das die gleich Zeitzone ungefähr ist. Also, dachte ich mir, ich will nicht nach Asien oder Südamerika – da gibt’s ja auch Menschen, die nicht auf dem Stuhl sitzen –, aber da hätte ich einen Jetlag gehabt. Innerhalb von Afrika suchte ich mir also ein Land aus, wo ich mit Englisch irgendwie durchkomme, und das war eben Äthiopien. Deswegen hat es zufällig Äthiopien getroffen. Und dann brauchte ich einen Platz, wo es einen Strom gibt, wo ich Menschen untersuchen kann, mit modernen Instrumenten. Bevor ich losgefahren bin, habe ich mit zwei Universitäten in Äthiopien Kontakt aufgenommen. Hab denen erzählt, was ich machen will, dass ich Enddarm untersuchen will, von Menschen, und die eine Universität hat nicht geantwortet und die nächste Universität hat gesagt, das sei ja eine ganz interessante Fragestellung, ob der Enddarm des Bodensitzers eine andere Form habe, als der des Stuhlsitzers, aber dazu bräuchte man erst ein OK von der Ethikkommission usw., und dann habe ich mir gedacht, »das ist nichts für mich, ich muss das jetzt wissen«. Na gut, dann bin ich auf eigene Faust mit einem Koffer voll Instrumenten losgefahren. In der Woche bevor es losging, bekam ich ein OK von einem kleinen Missionskrankenhaus. So bin ich also in den Westen von Äthiopien gefahren, weit weg von der europäischen Kultur. Und da hab ich eben den Enddarm untersucht.

In diesem Missionskrankenhaus?
Ja, ich war da in dieser Missionsstation und da gab es einen Pfleger – da wurde ich aufgenommen und bewirtschaftet, und alles ganz nett – und einen Generator gab es, sodass ich Strom hatte. Und Wasser gab es auch. Mehr brauchte ich nicht. Alles andere hatte ich dabei. Und diesem Pfleger des kleinen Buschkrankenhauses oder Savannenkrankenhauses, dem habe ich meine Geschichte erzählt, und der hat die weitererzählt, und dann wollten alle Angestellten von diesem Krankenhaus, so einem kleinen Häusle, die wollten sich alle zur Verfügung stellen, und dann habe ich die alle erst mal untersucht. Ja, aber dann habe ich nicht gefunden, was ich wissen wollte, und dann dachte ich, woran liegt denn das? Ich war ganz kaputt. Dachte, Mensch, alles umsonst, bis mir gekommen ist, dass die alle auch Englisch konnten, dass die alle auf der Schule waren, dass das alles auch Stuhlsitzer waren. Da habe ich gesagt, das bringt nichts. Ihr seid zwar anders ein bisschen, aber im Grunde seid ihr auch Stuhlsitzer. Ich brauche Leute, die wirklich nicht auf dem Stuhl sitzen. Dann hat’s geheißen, ja, da müssen wir mit dem Jeep wohin fahren und dann finden wir schon solche Menschen. Also sind wir mit dem Jeep in die Savanne gefahren. Nach einer Stunde kamen wir dann in irgend so ein Dorf, wo Menschen waren, von denen man gesagt hat, die sitzen nicht auf dem Stuhl. Und dann wollte ich die Menschen untersuchen. Der Pfleger hat die Geschichte erzählt, irgendwelchen Leuten auf der Straße, die unterwegs waren, und dann haben die ersten Fünf gesagt: »Hä?«, oder haben nicht reagiert, aber dann kam ein innerhalb der Gesellschaft dieser Leute wichtiger Typ, und der hat sich das angehört und hat gesagt, aha, er fährt mit in dieses Krankenhaus, und als der eine zugesagt hat, waren es schon plötzlich zehn, und die wollten alle mitfahren. Also jedenfalls, die sind dann mitgefahren und ich habe sie hintereinander untersucht. Und dann war eben die Frage, was gibt man den Leuten? Wenn die sich schon die Zeit nehmen und sich da hinten in den Hintern reinschauen lassen. Das waren ja Dinge, die waren denen vollkommen fremd. Bei uns ja schon unangenehm. Aber für Menschen, die noch nie mit der Medizin in Kontakt waren, ist das einen Riesenüberwindung.

Ich frage mich das schon die ganze Zeit: Wie hat er dieses Ansinnen diesen Leuten vermittelt?
(lacht) Über diesen Pfleger, aber das ging nicht so von ganz allein. Hier in Europa sagt man: Da, ziehen Sie sich aus, ich schieb den Stab da rein … oder ich mache mit dem Finger die Untersuchung. Da ist das überhaupt kein Problem. Aber dort war das so: Ich musste alle diese Menschen, einen nach dem anderen, von oben bis unten untersuchen. »Zunge rausstrecken und A sagen!« Und in die Augen reinschauen und abklopfen. Ich habe deren ganzen Körper erst untersuchen müssen, ich war der Zauberer im weißen Mantel, weil einen weißen Mantel hab ich angehabt, und weiß bin ich auch, also die Hautfarbe. Es war so ein bisschen Theater drumrum, was mir zuwider war am Anfang.

Aber das war natürlich wichtig, okay. Damit das nicht zu krass kommt, einfach in den Arsch zu kucken.
Ja, richtig. (lacht) Also, das war schon so, dass wir das so aufgezogen haben. Mir selber war das so zuwider weil, ach … da war das andere Klima, ich war übernächtigt und voller Aufregung, und wusste nicht, wie ich’s technisch hinbringe, aber ich habe es trotzdem gemacht, weil es halt sein musste. Mich hat aber nur der Hintern interessiert. Im Grunde genommen war aber genau dieses Theater, dieses Spielen, der Effekt auf mich, der dann erst im Nachhinein Wirkung gezeigt hat. Ich schlief dann darüber und ein paar Tage später war ich dann an so einem See in Äthiopien, ganz für mich allein, in der Früh um Fünf, habe die Vögel gesehen und alles, was da los ist, die Natur da um mich rum, und da wurde mir das dann so klar, dass diese Menschen, die ich da untersucht hatte, die waren genauso wie die Vögel, oder wie die Raupe, die da umeinander lief, oder die Fische, es war Natur. Natürliche Körper. Die Empfindungen, die ich da im Finger bekam, bei diesem Zauberer-Theater-Rumgespiel, Zunge rausstrecken, das war eigentlich das größte Glück, was mir überhaupt passieren konnte. Ich sah einfach gesunde Menschen. Ich sah Menschen, so wie sie gehören. Was ich hier in Deutschland noch nie in der Hand hatte. Die deutschen Menschen sind anders. Das heißt nicht, das sie schlecht sind, aber sie haben nicht diese Straffheit und diese gleichzeitige lebendige Weichheit und alles, was diese Körper einfach von sich aus hatten, die nichts vortäuschen wollten, nichts. Die waren einfach gesund.
Also, das war in diesem einen Teil von Äthiopien. Und nachdem ich dieses Erlebnis hatte, wirkte das so tief in mir, das ich nicht aufhören konnte, mir das immer wieder anzuschauen. Dann kam ich zurück nach Deutschland und dachte, das bildest du dir nur ein, das gibt es nicht, das kann ja nicht sein, auch wenn man dann wieder die anderen alle sieht. Ich dachte, das war eine räuberische Illusion oder was weiß ich. Und dann dachte ich, nein, ich fahre jetzt nochmal hin. Und dann erfuhr ich von Gruppen im Omo-Gebiet, aus diesem Buch, das hier rumliegt, »Die Nuba« von Leni Riefenstahl. Die war irgendwie im Süden von Sudan, vor 40 oder 50 Jahren, und da dachte ich mir, vielleicht gibt es solche Menschen auch noch, die so richtig nackt sind, weil die, die ich da besucht hatte, die hatten schon ein bisschen was an, und darum bin ich den Süden von Äthiopien gefahren, um das auch mal zu sehen. Aber da habe ich dann keinen mehr angelangt. Ich wollte das gar nicht mehr. Ich wollte die in Frieden lassen. Ich wollte bloß noch beobachten: Was machen denn die? Wie sind die denn so im Alltag? Da sieht man keinen, der rumjoggt. Kein Mensch läuft da einfach so umeinander. Die tun nichts, es sei denn, sie müssen was tun. Und wenn sie was tun müssen, dann ZACK aus dem Stand. Die müssen sich nicht aufwärmen, nicht wie wir. Der Sportler muss sich erst immer fünf Minuten strecken und Wärme bekommen, damit ja alles gut verläuft. Wie ein Reh schießen die dahin, wenn’s sein muss.

Werk des senegalesischen Künstler Aboubacar Diane. 1997 als Auftragsarbeit für Dr. Martin Oswald entstanden.

Untersuchungen gab es also nur beim ersten Mal?
Zweimal habe ich dann noch was gemacht. Das war dann im Venenbereich vom Enddarm, wo ich mit der Röhre reingeschaut hab. Einmal habe ich dann noch so ein kleines Ultraschallgerät mitgenommen, wo man dann so Töne hören kann, von den Blutflussvenen, und als ich da dann was festgestellt hab, hab ich bei der nächsten Reise ein Ultraschallgerät aus einem Krankenhaus in Äthiopien benutzt und habe Ultraschalluntersuchungen gemacht.

Sie wollten beweisen, dass die Enddärme anders aussehen. Der Beweis glückte nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt haben. Warum nicht?
Das letzte Stück des Darmes beim Menschen heißt Rektum, lateinisch für »gerade«. Ich bin Spezialist auf dem Gebiet der Enddarmerkrankungen, und es war immer ein Problem für mich, wenn man in ein gerades Stück hineinschaut – dafür gibt es ein Rohr, das sogenannte Rektoskop, das ist ein zwanzig Zentimeter langes Rohr, und da schaut man dann hinein mit Lichtquelle –, denn wenn das Rektum gerade ist, dann geht einfach das Rohr glatt rein. Aber es ist einfach nie gerade. Weil es bei Stuhlsitzern in sich verschlungen ist anstatt gerade zu sein, ist es höchst schwierig, diesen Darm aufzufädeln auf dieses Rohr, damit man weiter vordringen kann. Das ist das Problem, das ich bei meinen Patienten nahezu immer vorfinde. Der Darm ist nicht gerade, sondern wie eine Zieharmonika gestaucht. Und ich wollte jetzt in Afrika das dokumentieren. Mit Videokamera, die man anschließt an ein Proktoskop. Mit Optik und allen Dingen, die ich damals entwickelt hatte, und das wollte ich filmen, und dann sah ich, dass der Darm bei denen auch nicht ganz so gerade war, wie ich das gewollt habe. (lacht) Ich habe später herausgefunden, dass die, die ich untersucht habe, aber doch sitzen, auf so kleinen Hockern doch sitzen, zwar nicht auf dem Stuhl, sondern niedriger.

Waren sie ein bisschen gerader?
Ja, schon gerader, es war besser, aber nicht ideal. Aber das ganz Drumrum, was ich alles spürte, das war der wirklich große Gewinn. Dass ich im Grunde viel mehr bekam als nur den Blick in den Darm. Ich bekam den ganzen Menschen in meine Finger. Ein Chirurg lebt von dem Gespür, das er mit dem Finger kriegt, also nicht nur was man sieht, sondern man hat ein Gefühl für die Materie, die lebendig ist eben.

Da war noch die Frage offen, was die Teilnehmer der Untersuchung dann für eine Belohnung erhalten erhaben.
Einen Streifen Schmerztabletten. Das war ein Vorschlag des Pflegers dort. Ich kannte mich ja nicht aus, völlig fremde Welt. Und dann hat der das eben besorgt, im dortigen Krankenhaus, und dann hat jeder so einen Streifen mit zehn Schmerztabletten bekommen, und ich habe das jedem einzeln überreicht und mich bedankt und die waren alle glücklich, wunderbar. Und dann sind die mit dem Bus wieder heimgebracht worden.

Werk des senegalesischen Künstler Aboubacar Diane. Ebenfalls 1997 als Auftragsarbeit für Dr. Martin Oswald entstanden.

Kannten die Schmerztabletten?
Das ist denen offensichtlich in Anfängen bekannt, dass da in diesem Krankenhaus Wunder geschehen und da Ärzte sind, die da was Gutes tun. Und es war ja so, das waren ja alles gesunde Leute. Die sind da auf der Straße rumgelaufen. Und die waren so lange gesund, bis ich ich sie untersucht habe. Nämlich, wie ich dann gefragt hab, wie man das so tut: »Wie geht’s Ihnen?« Ja, plötzlich hatten alle Beschwerden. (lacht) Alles mögliche hat ihnen wehgetan. Kopfweh, Bauchweh.
Alles mögliche habe ich gezeigt bekommen, wo es schlecht ist am Körper, und ich musste dann halt so tun, als würde ich mich um den Körperteil kümmern. Aber es war von den zehn Menschen nicht einer dabei, der gesagt hat, ich hab nichts.

Die wollten Sie nicht enttäuschen.
Die wollten diese Wunderdinge kriegen. Ich glaube auch, dass eine Aspirintablette bei solchen Menschen jegliche Form von Missstimmung wegbringt, weil die so frei sind von irgendwelchen chemischen Einflüssen, während bei uns, da braucht’s vermutlich die zehnfache Dosis, damit der Körper überhaupt noch anspringt.

Was anderes: Da sitzen jetzt hier zwei weiße Dudes beisammen. Der eine fährt zu »denen« nach Afrika und verschenkt für seine Ziele statt Glasperlen was Geiles von Bayer, der andere hört sich das an und reflektiert es aber nicht kritisch. Das wirkt sehr kolonialistisch unsererseits, die Äthiopier sind völlig entindividualisiert, das Machtgefälle wird ganz selbstverständlich beansprucht. Was sollen unsere Leser*innen von uns denken?
Klar, da kann man viel herummäkeln. Kolonialistisch ist derjenige, der hinfährt zu den »Primitiven«, sie ausbEUtet, sie unterwirft, Sie zu seinen Zwecken anders machen will, ihnen das Heil der Zivilisation bringen will. Das tue ich nicht. Was ich da tat, war in keiner Weise mehr für die Menschen dort entwürdigend, als es für meine Patienten hier ist. Es ist eben grundfalsch, Menschen im Enddarm untersuchen zu müssen, um rauszufinden, warum es dort blutet, wehtut oder sonst wie nicht funktioniert. Dieses Falschsein der Medizin treibt mich. Es sollte richtig sein. Richtig ist, dass keiner leidet an Krankheiten, die sich verhindern lassen könnten. Dies ist mein Motiv und dafür brauchte ich Menschen, die unzivilisisert, unkolonisiert natürlich und gesund sind. Ich bin durch meine Lebensumstellung so eine Art Kolonie der Natürlichkeit hier in der Zivilisation geworden.

Ich durfte sehr zufällig von Ihren Abenteuern erfahren. Da war Mittagspause auf der Terrasse vom Kulturhaus abraxas. Nebenan waren Sie mit Ihrer Familie auf dem Spielplatz. Sie haben sich herübergesellt und ein bisschen erzählt. Vor zwei Wochen war das. Seitdem fällt mir natürlich die ganze Zeit auf, was für eine grausige Sitzerei ich beisammen habe. Von einem Zimmer ins andere gehen, dann wieder sitzen. Richtig viel auf dem Stuhl auch.
Mit meinen Patienten unterhalte ich mich täglich darüber. Es leuchtet allen ein. Egal aus welchem Land sie kommen, aus welcher Schicht sie kommen. Durch Benutzung gehen Gegenstände kaputt. Beim Menschen ist es das Gegenteil. Wenn etwas lebendig ist und ich dem Lebendigen eine Aufgabe gebe, dann wird es dadurch besser, stärker, das muss sich anstrengen und durch die Anstrengung wird das lebendiger. Er geht nicht kaputt. Wenn ich nichts mehr tue mit einem bestimmten Teil des Körpers, dann verrottet er, weil er keine Aufgabe mehr hat. Wer dieses bequeme, komfortable Leben weiterführen will, bekommt früher oder später eine Degeneration. Und dann leben wir natürlich in dem Überfluss der medizinischen Angebote. Das ist so toll organisiert, dass der Mensch sich in die Hängematte der Medizin einfügt. Es gibt diesen Weg. Gegenüber ist das Pflegeheim, da sehe ich jeden Tag rüber, und da sehe ich, wie diese Menschen enden, wenn sie halt ein durchschnittliches, normales, biederes, braves, richtiges Leben in dieser Welt führen. Dann verrotten sie einfach. Was die anderen tun, das kann ich nicht beeinflussen. Vielleicht ist es sogar falsch, dass ich darüber spreche. Aber in dem Moment, wo ich das anderen erzähle, höre ich das selber von mir auch wieder, und das wiederum motiviert mich. (lacht) Wenn mich dann wieder jemand anspricht: »Warum sind Sie barfuß?« Da merke ich, es geht weiter.

Barfuß jetzt seit zehn Jahren, oder?
Zehn Jahre Sommer und Winter. Vor zwanzig Jahren hat das angefangen. Aber das war zunächst ohne Absicht, während das Nicht-mehr-Stuhlsitzen ganz hundertprozentige Absicht war, nachdem ich eben rausgefunden habe, dass das anderen Menschen Schaden zufügt, und ich auch so einen Körper habe. Und außerdem habe ich auch schon mal Beschwerden in die Richtung gehabt früher, die sind jetzt weg.

Sie haben mal einer Grundschule einen Schwung Tischchen spendiert, an denen man nicht stuhlsitzen muss. Wie kam das?
Ja, da hatte der Schuldirektor schon ein bisschen mit Stehpulten experimentiert. So was gibt’s in anderen Länder auch schon, in der Schweiz ist das wohl noch ein bisschen mehr verbreitet. Meine Tische habe ich von einem österreichischen Designer entwerfen lassen. Da sind die Kinder dann auf dem Boden. Mit ausgestreckten Beinen, im Schneidersitz, in der Hocke, kniend. Wie’s ihnen einfällt. Auf dem Boden sitzt man, wie der Mensch sitzt.

Haben Sie die Tische auch anderen Schulen angeboten?
Ich habe versucht, die Schule, wo meine Töchter sind, zu animieren, was zu machen, aber da gab es keine Bereitschaft. Da hieß es, da müssten wir die Eltern noch mit einbeziehen, und außerdem gibt’s keine wissenschaftlichen Studien und die Eltern hätten Angst, den Kindern würde ein Schaden entstehen, wenn sie nicht auf dem Stuhl sitzen … und so weiter.

Wissen Sie von anderen, die auch nicht sitzen?
Hier in Deutschland kenne ich nur Stuhlsitzer.

Ab welchem Alter sollte man das (Stuhl-)Sitzen spätestens einstellen?
Sofort, jetzt! Egal, wie alt man ist. Es ist nie zu spät. In dem Moment, wo man das mechanische Gift weglässt, kann es nicht mehr schaden. In jedem Alter hört damit die Degeneration, der Prozess zu noch mehr krank auf. Das ist echte Prävention.

Das Interview führte Roland van Oystern

Doktor Martin Oswald und Autor Roland van Oystern

Vom Doktor gibt’s zwei Bücher. »Unser blaues Wunder«, erschienen 2005, nachdem von ihm als Erstem weltweit Sexualhormonerhöhungen in Krampfadern festgestellt wurden; vergriffen, aber vollständig nachzulesen auf http://www.ourbluewonder.com/ (Deutsch & Englisch), sowie »Ursache und Wesen von Krampfader, Thrombose, Embolie«, welches drei durchs Stuhlsitzen verursachte Schäden unter die Lupe nimmt.

Dr. Owald bei YouTube: https://www.youtube.com/channel/UCBjn_LNsiqofTOVI93-odDw

 

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!