Auf den Spuren von: New York Hardcore
Niemand vermittelt einem das Bild eines verblichenen künstlerischen Milieus so intensiv und realistisch wie die Protagonisten selbst. Insofern verwundert es nicht, dass sich von Musikern konzipierte und durchgeführte Stadttouren großer Beliebtheit erfreuen. In Manchester etwa fährt der Inspiral Carpets Schlagzeuger Craig Gill mit seinem City-Tour-Bus vom ehemaligen Factory Labelbüro über den Übungsraum der Smiths zur Hacienda – in letzterem sind heute Eigentumswohnungen drin, an den Club erinnert nur noch der Name, der zynischerweise beibehalten wurde. Subkultur als Marketingmoment.
In New York City bietet John Joseph der Sänger der Hardcore Band Cro-Mags, einen City Walk zu jenen Orten an, in denen in den späten 80er/frühen 90er Jahren Hardcoregeschichte geschrieben wurde. Mesut Gürsoy, Mitglied der auf Audiolith veröffentlichenden Band Tubbe, took a walk on the (former) wild side with him.
Astor Place (1)
Mit 20 anderen TeilnehmerInnen treffe ich auf einen jünger als erwartet aussehenden, sportlich gekleideten John Joseph. Er ist keineswegs so unnahbar und angsteinflößend, wie man es mit Kenntnis seiner bewegten Biografie vermuten könnte, sondern nett, aufgeschlossen – und ein exzellenter Entertainer. Nicht, dass er es noch groß machen müsste, wir sehen ja nur zu gut, wo wir stehen, aber Joseph betont gleich zu Beginn unseres so called City Walks, dass wir uns darauf einstellen sollen: nichts ist mehr, wie es mal war.
Wie wahr: der Blick gen Osten in die heute harmlos wirkende E 9th Street lässt nicht vermuten, dass sich hier einst das größte Heroin-Zentrum der Drogenmafia der USA befand, für die Joseph bereits mit 15 Jahren als Mule tätig war. Gegenüber des Meeting Points befindet sich der Zeitungsstand, der die Anlaufstelle Nummer eins war, um die “Village Voice” zu ergattern – in Prä-Internet Zeiten die einzige Quelle für aktuelle Veranstaltungen der dortigen Künstler- und Hardcore-Szene.
Bowery (2)
“Do you want to end up on the Bowery?” Diese mahnenden Worte wurden laut Joseph den Kids New Yorks während seiner Schultage an den Kopf geworfen, wenn die Leistungen zu wünschen übrig ließen. Die Bowery war eine der berüchtigsten Ecken New Yorks, bekannt für Kriminalität und Gewalt. Der Drogenkrieg beherrschte das Geschehen. Angenehmer Nebeneffekt: niemand außer den Protagonisten der Szene wollte dort leben und so konnte man Wohnungen für einen Dollar erwerben – sofern man nachweisen konnte, dass man sie Instand setzt. Ein Freifahrschein für Immobilienhaie, Drogenbanden, sowie geldarme Punks und Musiker gleichermaßen. Heute reihen sich Restaurants und Cafes entlang der Bowery und nur noch wenige der Häuser mit den typischen Feuerleitern an der Front sind noch nicht vollständig saniert. Einige Bekannte grüßen John im Vorbeigehen und die zufällige Begegnung mit einigen Street Artists mit zumeist stark tätowierten Körpern erscheint wie eine kleine Zeitreise.
CBGBs (176 Bowery St) (3)
Das CBGBs findet man leider nicht mehr unter der Adresse 176 Bowery an. 2007 musste der Club im Rahmen der “Cleanings” der Stadt für immer die Türen schließen. Unzählige Punk- und Hardcore-Legenden hatten seit Mitte der 70er Jahre dort gespielt, unter anderem Blondie, Henry Rollins, Beastie Boys, Bad Brains, Ramones – und natürlich die Cro-Mags auch. John Joseph erzählt, dass es nicht selten vorkam, dass große Acts neben ihrem Konzert im Madison Square Garden noch einen Secret Gig im CBGS gaben, nur um es in ihrer Biographie vorweisen zu können.
Zum Max´s Kansas City, wo die Tour auch noch hin führen wird, der weiter nördlich liegt, bestand eine heftige Konkurrenz. Entweder man spielte hier oder dort, keinesfalls aber in beiden Clubs.
Die Hells Angels sorgten im CBGBs für Ordnung, zur Not natürlich auch mit der entsprechenden Gewalt. Viele von ihnen waren Handwerker und durften deshalb legal Werkzeuge und Hämmer mit sich führen, die dann als Waffen eingesetzt wurden, berichtet uns Joseph. Heute befindet sich in den Räumen nach langen, juristischen Verfahren über das Fortbestehen des Clubs ein schicker “Rock`n`Roll” Laden mit teurer Kleidung, einem Slingerland-Drumset als Deko und teuren Büchern – über das CBGBs.
204 E 13th St (4)
Nach diversen, weiteren Zwischenstationen (Tatooshop, Street Art) und schockierenden Anekdoten von Josephs Begegnungen mit New Yorker Massenmördern, erreicht die Walking Tour ein weiteres Highlight, die Adresse der finalen Shooting Szene des Films “Taxi Driver”. Regisseur Martin Scorsese drehte ja bekanntlich bevorzugt in der Lower East Side, “Taxi Driver” ist nahezu komplett im Viertel entstanden. Viele Mafia-Filme wollten hier die authentisch kriminelle Atmosphäre einfangen, denn, so Joseph: “Nur die Poser lebten in Little Italy. Die wahren bösen Buben lebten hier.”
Dann rollt zufälligerweise ein Sight-Seeing-Bus mit offenem Dach vorbei und der Guide dieser Gruppe liefert sich mit Joseph einen amüsanten Schlagabtausch darüber, wer die bessere Tour hat.
Die Gruppe auf dem Bus legt vor:”Are you entertained?” – “Yeaah!!”
Danach sind wir dran. John: “Are YOU entertained?” – “Yeeeaaahh!!!!”
Der Punkt geht zweifelsohne an uns.
Max´s Kansas City (213 Park Ave S) (5)
Die Tour kommt an ihrer finalen Adresse an: 213 Park Avenue, nord-östlich des Union Squares. Dort wo sich einst der berüchtigte Club Max`s Kansas City im ersten Stock befand, steht heute das W-Hotel. Immerhin, im Seiteneingang befinden sich bis heute Fotos von den unzähligen Bands, die dort gespielt haben. David Bowie und John Lennon genauso wie die Beastie Boys – damals noch als Support Act der Cro-Mags mit einem standesgemäßen Pfeifkonzert bedacht. Andy Warhol und Velvet Underground waren Stammgäste, zumal Warhol`s Factory gleich um die Ecke lag.
Die Tour endet mit dem obligatorischen Abschlussfoto, shake hands und einer letzten Überraschung beim Blick auf die Uhr: Ganze vier Stunden sind vergangen. “Time flys when you`re having fun.”