Ein Holzraumschiff, das schon vollkommen fertig war, und dann wieder geschrottet wurde

Gitarren, die in den Nullern „drahtig“ hießen – Daniel Decker und Wüstung

23. Januar 2025,

Daniel Decker überall. Kaum ein hiesiger Indie-Künstler, der in jungen Jahren bereits so viele Projekte auf- und mitunter auch wieder eingestellt hat. Immer wieder was Neues. Der Wahl-Berliner pflegt unter anderem den vom kaput-mag präsentierten Podcast „Mixing Pop & Politics“, hat aber jetzt auch wieder einen äußerst liebevoll inszenierten Tonträger veröffentlicht – als Daniel Decker & Wüstung, der Titel lautet „The Therapy Sessions“. Unser Autor Jasper Nicolaisen hat sich mit ihm verabredet.

 

Ich treffe Daniel Decker in der Berliner Buchhandlung „Otherland“, einem Nerd-Wasserloch, in dem zwischen Star-Wars-Aufstellern und Game-of-Thrones-Kochbüchern immer noch ein Bällebad an bunten Rollenspielwürfeln herumkullert, während die Belegschaft lässig englisch spricht und mit Unicorn-Haarpracht und Gesichtsberingung auch in queeren Kneipen servieren könnte. Keine Umgebung könnte besser passen für die Übergabe des neuen Werkes, das der sanfte Riese des Indierock gemeinsam mit dem Krachduo Wüstung angezettelt hat. Daniel ist nicht nur Musiker, er ist auch Produzent, Produktdesigner seiner eigenen Kunst, Filmfreak, kritischer Okkultismus-Kenner, Autor einer kosmischen Horror-Novelle und zahlreicher Aufsätze zu entlegenen Themen. Immer, wenn ich ihn treffe, weiß er schon wieder was Neues, hat neue Pläne, erzählt von den alten, kommt auf ein Nebengleis seiner kosmischen Eisenbahn, verzettelt sich und guckt dann etwas traurig. Überhaupt ist seine enzyklopädische Welt stets von einer existenziellen Melancholie durchzogen. Es ist alles nicht so gut, weiß Daniel Decker, die Welt ist eher schlecht, die Liebe schreibt nicht zurück, man bleibt tendenziell allein, die besten Rituale sind von Nazis okkupiert und die Großen Alten kümmern sich nur um sich selbst. Und doch ist da viel Freude am Quatsch, als halsbrecherischen Projekt, am Klüngelkram und Tinnef, an den verstaubten Ecken der Popkultur, dem unnützen Wissen und Orten wie diesen.

Heute sieht Daniel aus wie eine Mischung aus Russell Crowe und Christiane Rösinger. Brille, Bart, Kuschelfigur, fragende Augen und Pelzkragen, also, fake fur natürlich. Aus einer Plastiktüte – ich möchte schwören, es ist eine Kühltasche, in der man Gefrorenes nach Hause trägt, vielleicht kommt also jetzt etwas Marke Babymammut, Tunguska. Akte X, Berge des Wahnsinns – zieht er eine Pappschachtel, die mit dem Stempel „The Therapy Sessions“ aussieht wie diese eine Platte von The Who. So was könnte nervig sein, aber Daniel zeigt mir sofort begeistert, was noch alles in dieser Lament-Configuration steckt (ihr wisst schon, Hellraiser, dieser Würfel … bin schon vollkommen angesteckt vom Deckerschen Verweiskosmos …): Postkarten, die an „Big Black“ erinnern, Bleistift, Anspitzer,  Plektren, dies das, Ananas, und vor allem die Schall-Postkarte, ein veritables YPS-Gimmick im Frühstücksbrettchen-Format, die man ganz wirklich und in echt auf den Plattenspieler legen kann, aber „da muss noch n bisschen Gewicht drauf, sonst eiert das.“ Alles viel zu viel, alles aber immer noch so schnurpselig, so am Misslingen entlanggeschrappt und dann doch gerettet. Diese Aufmachung gehört schon voll dazu zur Anmutung dieser Musik.

Und wie ist sie, die Musik an sich? Daniel Decker war Pawnshop Orchestra, er war Mitglied von Er France, er brachte 2015 die zauberhafte Soloplatte „Weißer Wal“ und war mit dem zu früh verstorbenen Torsun Burkhardt von Egotronic „Der Torsun und das Einhorn“, und auch an dieser Aufzählung merkt man, dass Daniel immer was gemacht hat, immer gesehen wurde, sich beständig weiter entwickelt hat, und doch immer irgendwie zwischen staubigen Regalen stand und vielleicht lieber in einem „Buch zum Film“ geblättert hat, der gerade um ihn lief – er sammelt diese Art von Literatur und verliert sich gleich wieder auf einem Gesprächs-Seitenpfad über die die Entstehung von „Alien 3“ und ein Holzraumschiff, das schon vollkommen fertig war und dann wieder geschrottet wurde. Mit viel Aufwand etwas erschaffen, dass dann nicht losfliegt, oder eher als Idee, als Mythos, als Geschichte, die wieder andere inspiriert, das hat viel von seiner Kunst. Was war die Frage? Ach, wie die Therapy-Sessions mit Wüstung sind. „Mama, Papa, wir müssen reden! Seid ihr schon mal in Therapie gewesen?“, fragt die Stimme. Musik: Wie Goldene Zitronen, Gitarren, die in den Nullern „drahtig“ hießen, klickernde Elektronik. Die wütende Forderung einer hellen Stimme, die sich nur schwer gegen die Musik behaupten kann, und gerade dadurch eindringlich wirkt, doch bitte endlich mal zum Arzt zu gehen, endlich einzugestehen, dass gar nichts gut ist. „Was dich nicht umbringt, bezahlt den Therapeuten“, verkündet auch das zweite Stück, und die Musik ist, dare I say, Industrial? Shellac? Jedenfalls was mit Gitarren, zackig und verzweifelt, mit Geräuschen wie zersplitterndes Glas und Stacheldraht-Bass. „Erziehungsberechtigte* (sie/ihnen)“ kehrt zum ersten Lied zurück und kocht es mit Hammerklavier und Pianola-Musikrollen-Frühtechno in einem heißen Bus mitten in der Wüste wieder auf. Überhaupt sind Remixe dabei, alles wird von verschiedenen Seiten angeguckt und umgewälzt. „Wüstung“, das klingt ja auch schon nach Ödnis, nach Staub und kaltem Wind, der alles umschichtet und Sedimente freilegt. Die beiden Herren mittleren Alters aus Berlin sind die ideale Ergänzung für Deckers ewiges Wandern und Suchen. Er guckt halt auch unter jeden Stein.

Ich muss noch Boxen, nicht Bier trinken, wie Decker eigentlich vorschlägt. Umstandslos kommt er mit. Was, wenn er mitmacht? Völlig unmöglich scheint es nicht, dass dieser Tausendsassa der Liebe plötzlich schon mal auf dem Rummel geboxt hat oder in irgendeinem früheren Leben Meister im Halbschwergewicht irgendeiner Provinz von Alaska war oder in einem Ölbohrgebiet, wo zu tief gedrillt wurde, und Wendigos und Mi-Go in der Polarnacht schrien. Nein, nein. Er quatscht noch ein bisschen mit mir. Wie man überhaupt zu den Dingen kommt, die man kennt. Freunde, sage ich. Tapes, die man mir überspielt hat. Große Brüder, große Schwestern. Das Nachtprogramm der Öffentlich-Rechtlichen. „Ich hatte nicht viele Freunde“, sagt Decker ungerührt, und das ist wahnsinnig traurig, schließt aber diesen Menschen und seinen Garten voller Farben aus dem All ein wenig auf. Der trödelt und guckt und wandert und sucht und liest was auf und trifft hier und da Leute, und dann weht Kunst zum Fenster rein, die davon erzählt, wie alles herumfliegt und Nachts über dieser Wüste Sterne stehen und wie es manchmal sehr kalt wird aber alles auch schön ist, was von viel zu wenigen gesehen und gehört wird. Mensch, hört mal die Musik von Daniel Decker, mit Wüstung, geht zu den Konzerten der Tour, die jetzt stattfinden, und alles andere auch, die Musik, die von diesen Räumen erzählt. Er hat sie extra für euch mitgebracht.

Text: Jasper Nicolaisen

https://danieldecker.bandcamp.com/album/the-therapy-sessions

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!