„Die tiefe Liebe zur Vielfalt der elektronischen Musik“
Ich sitze im IC Richtung Berlin. Nach vier Tagen auf dem Dekmantel Festival in Amsterdam habe ich gerade einige visuellen Eindrücke auf Instagram geteilt, da erreicht mich eine Nachricht aus der Kaput Chefredaktion, man habe meine Story gesehen, spüre die Post-Event-FOMO und wünsche sich einen Nachbericht für Kaput. Klar, warum nicht, denke ich zunächst.
Aber dann kommen mir Zweifel und es entwickelt sich eine Gedankenkette, an deren Ende folgenden Fragen auftauchen:
Was bleibt von so einem Festival Erlebnis?
Wie lange ist es in unserer medial übersättigten Gegenwart noch interessant über ein vergangenes Ereignis zu berichten?
Nach einem Event kursieren auf Social Media noch etwa eine Woche lang Recap-Videos der beteiligten Künstler:innen – danach ist Schluss. Zu lange an etwas Vergangenem zu hängen, hat gefühlt fast etwas anrüchiges, rückwärts gewandtes. Schließlich steht zumeist schon das nächste Großereignis vor der Tür, oder zumindest das nächste Partywochenende.
Was bleibt also von den ekstatischen Momenten, für die so viele Menschen zusammenkommen und so viele andere hart gearbeitet haben? Erinnerungen an herzliche Umarmungen mit wildfremden Menschen, flüchtige Momente musikalischer Versunkenheit, der kühle Regenschauer auf dem nächtlichen Heimweg….
Ich will versuchen, etwas davon festzuhalten. Also, mein Bericht vom Dekmantel 2023:
Donnerstag
Los geht es am Donnerstag mit dem „Aan het IJ“-Rahmenprogramm, welches in verschiedenen Spielstätten in der Amsterdamer Innenstadt stattfindet. Im Club Shelter eröffnet Poly Chain den Abend mit einem Ambient-Live-Set. Die Ukrainerin ist eigentlich eher für ihren energetischen Electro Sound bekannt, an diesem Abend aber schwirren für eine gute Stunde glasklare Bleeps, tiefe Bässe und fließende FM Pads durch den Raum und lassen ein wohlig warmes Gefühl im Körper aufsteigen.
Danach setzen meine Begleitungen und ich mit der Fähre über und begeben uns zum Muziekgebouw, um das Konzert von Sevdaliza zu erwischen. Ihr mächtiger Hyperpop mit starker Bandbesetzung schmettert durch den großen Konzertsaal, in dem sonst eher Klassik und Jazz gespielt wird.
Mittlerweile knurrt der Magen und verlangt nach einer Portion niederländischer Pommes, die aber leider nirgendwo in Reichweite ist. Egal, durchhalten ist angesagt, denn es folgt noch mein Highlight an diesem Abend: Die Tapeloop-Performance von William Basinski. Auf der Bühne zu sehen: eine ikonische Erscheinung im fluoreszierenden Gegenlicht von Scheinwerfern und Nebel. Der amerikanische Ausnahmekünstler zieht die Crowd, die größtenteils auf dem Boden sitzt oder liegt, in eine Umlaufbahn aus Sounds von graziler Schönheit, die in der Akustik des Raumes ihre ganze Pracht entfalten. Beseelt von der Performance laufen wir danach durch das kühle Amsterdam in Richtung Mitternachtssnack.
Freitag
Am Freitag beginnt das Festival auf dem Gelände des Parks Amsterdamse Bos. Die Anreise erfolgt traditionell bequem mit dem Fahrrad aus der Stadt. Das Wetter ist noch stabil und so begleiten uns Sonnenstrahlen, als wir das erste Mal den Greenhouse-Floor betreten, wo Nosedrip gerade ein Stück von Joy Divison abfeuert. Die alten Indie- und Post-Punk-Platten klingen auf den Function One Türmen zwar nicht ganz so super, aber geschenkt, die Stimmung ist top und es liegt die euphorische Vorfreude auf drei Tage Festival in der Luft. Wir erkunden das Gelände, das sich seit meinem letzten Besuch 2016 leicht verändert hat und landen schließlich im The Loop. Hier übernimmt gerade Carista die DJ Booth, während die Sonne wieder hinter den Wolken hervorkommt, um sich mit dem treibenden, detroitigen Sound der Künstlerin zu verbinden. Das positiv-energetische Set wird mit der Zeit immer technoider und bereitet eine perfekte Einstimmung auf das kommende Wochenende. Weiter geht es im schlauchförmigen UFO II mit einem Live Set von Buttechno, der wunderbar stampfenden Sound abfeuert, sodass sich der Floor schnell in eine kleine Sauna verwandelt. Abgeschlossen wird der erste Festival Tag dann wieder im Greenhouse, wo Helena Hauff ihren soliden, schmetternden Electro zum Besten gibt.
Als Punkt 23 Uhr die Klappe fällt, springen wir auf unsere Bikes und landen nach einer nächtlichen Fahrradtour – vorbei an den glitzernden Lichtern des Flughafens Schiphol – bei einer kleinen inoffiziellen Afterhour an den Gewässern des Nieuwe Meer.
Samstag
Der nächste Tag beginnt mit gleich zwei Erkenntnissen:
Erstens, das Line-Up ist wieder mal so gut, dass es unmöglich ist, alle Künstler:nnen zu sehen, die man sehen möchte.
Zweitens: Das gute Wetter scheint uns langsam aber sicher im Stich zu lassen. Wir hängen vor dem Regenradar und versuchen einen einigermaßen trockenen Slot ausfindig zu machen und schwingen uns dann bei der nächstbesten Gelegenheit aufs Fahrrad.
Auf Grund der wetterbedingten Verspätung hören wir leider nur noch 20 Minuten des Live Sets von μ-ziq, der im UFO II gemeinsam mit dem tschechischen Visual Artist ID:MORA performt. Eine perfekte Kombination aus IDM-Drum’n’Bass und knallbunt-abstrakten Visuals. Anschließend laufen wir zum Selectors Floor, um uns voll und ganz dem trockenen Acid Techno von PLO Man hinzugeben. Die Sonne durchbricht immer wieder das Blätterdach des Outdoor Floors und verbindet sich mit den Rauschwaden der Nebelmaschine zu einer wunderschönen Nachmittagsträumerei. Zwischendurch muss ich leider flüchten, denn im The Loop tritt Blawan auf. Nachdem ich dessen letzte EP rauf und runter gehört habe, will ich mir dieses Set auf keinen Fall entgehen lassen. Was mich dort erwartet, zaubert mir noch jetzt beim Schreiben Tage später eine Gänsehaut auf den ganzen Körper. Den Sound, den der Brite aus seinem Equipment holt, ist dermaßen massiv und Sounddesign mäßig weit vorne, dass ich sofort auf Tauchfahrt gehe: Broken Beats gepaart mit zerhackten Vocals entladen sich in einer plötzlich knallenden 4/4-Kickdrum, die einfach alles erzittern lässt. Ich habe das Gefühl, dass es einem Teil der Leute etwas schwer fällt in das Set reinzufinden, vielleicht doch ein Tacken zu verspuhlt? Ich entdecke dann aber doch noch eine Crew, die bei der Energie voll mitgeht und gemeinsam geben wir Vollgas.
Generell fällt mir das Publikum in diesem Jahr sehr positiv auf. Es gibt zwar auch die Gruppen, die notorisch auf den Dancefloor drängen, um dann rumzustehen, sich lautstark zu unterhalten oder lustiges Pulver aus kleinen Tütchen zu naschen, aber es finden sich eben auch überall Spots mit Menschen, die sich vertieft und glücklich der Musik hingeben und deren warme, freundliche Präsenz das Musikerlebnis perfekt macht.
Nach Blawan schwebe ich zurück über das Gelände und suche meine Freunde. Für mich könnte der Abend jetzt schon enden – tut er aber natürlich nicht. Nachdem ich meine Leute im Greenhouse bei Avalon Emerson finde, zieht es mich kurz darauf ins The Nest zum Closing von Special Request & ANZ. Die Euphorie, die hier in Wellen durch die Menge fährt, als die beiden ein Gewitter aus Breakbeat und 2-Step Garage loslassen, ist nur schwer in Worte zu fassen. Sollte es so etwas wie einen Maximal Pegel für Euphorie geben, ist dieser hier definitiv erreicht. Der Balken ist voll, mehr geht einfach nicht. Nach diesem fulminanten Closing fahren wir wieder gemeinsam mit gefühlt 10.000 Menschen auf dem Fahrrad in Richtung Innenstadt. Heute keine Afterparty, dafür erwischt uns aber kurz vor dem Ziel ein kräftiger Regenschauer und durchnässt uns bis auf die Knochen.
Sonntag
Am Sonntag schaltet das Wetter noch einen Gang runter und verwandelt den Festivalplatz stellenweise in eine glitschige Schlammwüste. Daher sind die überdachten Floors deutlich besser besucht. Ich lande zunächst im großen Techno Zelt UFO I beim Live Act von Fahdi Mohem. Big Room Techno ist eigentlich nicht mehr ganz so mein Ding, aber der Berliner liefert ein dermaßen energetisches Set ab, dass es mich sofort auf den Dancefloor zieht.
Ich merke langsam die getanzten und geradelten Kilometer der letzten Tage und hole mir anschließend erst mal entspannt einen Tee. Anschließend spaziere ich zum Greenhouse, welcher mittlerweile definitiv zu meinem Lieblingsfloor avanciert ist. Hier spielt Suze Ijo ihren souligen House- und Disco-Sound. Super passend für den Nachmittag und eine perfekte Einstimmung auf das darauf folgenden Live Set von DJ Firmenza, DJ Niggafox und DJ Danifox. Die Performance der portugiesischen Supergroup findet in Bürostühlen an einem Tisch sitzend statt. Ihr polyrhythmisch stolpernder Afro-Deep-House Sound mit geshouteten, machtvollen Lyrics entwickelt eine starke Sogwirkung und zieht den ganzen Dancefloor in seinen hypnotischen Bann. Ein weiteres musikalisches Highlight, das man so sicherlich selten zu hören bekommt.
Mein Energielevel stabilisiert sich langsam wieder und so mache ich einen Abstecher zum The Nest, wo DJ Swisha auflegt der anschließend von der Drum’n’Bass Legende Calibre abgelöst wird. Irgendwann wird mir das Regen bedingte Gedränge jedoch zu krass und ich flüchte ins Greenhouse zum Closing von Ben UFO. Als die letzte Klappe fällt, ist ein Teil von mir froh, dass das Festival vorbei ist, übersättigt von den Eindrücken der letzten Tage. Ein anderer Teil aber möchte bleiben und weiter tanzen.
Montag
Montags im Zug zurück nach Berlin gehe ich das Wochenende noch einmal gedanklich – und stelle mir die eingangs erwähnte Frage: Was bleibt?
Eindrücke von geteilter Freude an der Musik, Momente der Innigkeit, Höhepunkte, Rausch, heraustreten aus dem Alltag. Aber da ist auch ein weiteres Gefühl, sozusagen eine Art Anker in die Realität. Es ist die Tatsache, dass diese spezielle Form der Vergnügung am Ende doch ziemlich kostspielig ist: Eintrittsticket, Unterkunft, An- und Abreise und Verpflegung. Addiert man all diese Ausgaben zusammen, wird schnell klar, dass man sich ein Festival wie das Dekmantel leisten können muss. Natürlich, die Gagen des hochkarätigen Line-Ups müssen eingespielt werden. Aber in der oft beschriebenen Preisspirale bleiben halt immer die Menschen auf der Strecke, die einfach keine Mittel haben, einem solchen Festival beizuwohnen. Und oftmals sind das eben auch genau die Künstler:innen, die zur Vielfalt der elektronischen Musik beitragen. Ich hoffe, dass wenigstens über die Gästeliste möglichst vielen der Zugang zum Festival ermöglicht wurde. Es bleibt aber der Gedanke, dass das Nachtleben durch steigende Preise zunehmend ein Teilnahme-Klassenproblem bekommt – oder sogar schon längst bekommen hat. Und so ist es nicht verkehrt, sich das Privileg der Teilnahme an einem solchen Event zu vergegenwärtigen.
Auch wenn es mir etwas schwer fällt, die gesammelten musikalischen Eindrücke einigermaßen geordnet Revue passieren zu lassen – zu schnell ihre Abfolge, zu hoch die Schlagzahl der fantastischen Acts, zu groß die Ausschüttung der Botenstoffe –, so hat sich durch das erlebte Wochenende dennoch etwas in das Bewusstsein eingeschrieben: Die tiefe Liebe zur Vielfalt der elektronischen Musik.