Umkämpfte Gefühle

Es bleibt kompliziert

Antiintellektualismus hat in linken Debatten Konjunktur. Über die Gefahren des beherzten Elitenhasses schreibt Julia Pustet.

„It’s not that complex”: Ein allzu einfacher Satz kursiert derzeit in sozialen Medien und beugt – vielleicht im unbewussten Eingeständnis der eigenen Brüchigkeit – etwaigen Missverständnissen mit diversen Erklärungen und Ergänzungen vor. „Israel is an apartheid state committing genocide. Quote.”, lesen wir, oder auch „What’s happening in Palestine, is not okay” – einer ja tatsächlich aus jeder irgendwie linken Perspektive zustimmungswürdigen Aussage, die sich mit dem darauffolgenden Satz, „Anti-Fatness and Zionism are both rooted in white colonialism and oppression”, wieder verdächtig dem Komplizierten nähert, man könnte auch sagen: dem Verworrenen.

Die Behauptung, die Wahrheit sei eine einfache, impliziert bereits, dass da jemand ist, der das Gegenteil behauptet. Durch ihren eigenen kämpferischen Gestus suggeriert sie außerdem, dass das Behaupten jenen Gegenteils – also dass es sehr wohl kompliziert ist – irgendjemandem einen Vorteil verschaffe. In einem linken Podcast hören wir von „Leuten”, die „wissenschaftlich gatekeepen” und hinsichtlich des Nahostkonflikts „immer wieder sagen, das ist alles viel zu komplex,” um es zu verstehen oder sich ein Urteil zu bilden, gefolgt von einem kämpferischen „lasst euch bitte davon nicht abhalten, ihr müsst nichts studiert haben, ihr müsst keine Theorie können oder irgendein fucking elitäres akademisches Ego, um da irgendwas sagen zu können.” Die Beweggründe hinter dem Festhalten an der Komplexität werden natürlich gleich mitgeliefert: „Und diese Ablenkung von der Menschlichkeit ist es, die die da, glaube ich, auch erreichen wollen.”

Sind die da die da oben?

Wer sich in der Vergangenheit mit Formulierungen beschäftigt hat, in denen ominöse „Leute”, gerne auch „die” genannt, lenken wollen, wie wir fühlen und denken, kann spätestens an dieser Stelle stutzig werden. Und es ist kein Zufall, dass Äußerungen von „it’s not that complex” bis hin zu „die da wollen uns von unserer Menschlichkeit ablenken” häufig aus genau dem Spektrum kommen, in dem beinahe jede – und sei sie noch so linke – Kritik am Antisemitismus der Gegenwart als elitär, rassistisch, bürgerlich oder schlichtweg zum „rechten Talking Point” erklärt und mit der Herzlosigkeit eines Olaf Scholz in einen Topf geworfen wird. Eine gründliche Auseinandersetzung mit Strukturen, Strategien und Erscheinungsformen des Antisemitismus wäre es aber auch, die den strukturellen Antisemitismus hinter derartigen anti-elitaristischen und antiintellektualistischen Aussagen ans Tageslicht zerren würde, wo er sich kaum mehr hinter den dürren Zweigen klassenkämpferischer Parolen verstecken könnte. Aussagen wie obige begründen sich oft implizit oder explizit auf der Behauptung einer Dualität von Kontrolle und Gefühl, rationaler Kälte und wütender Emotion, Beherrschung und Aufbegehren, Verschworenheit und Menschlichkeit, die eng mit antiwestlichen, antisemitischen und nicht zuletzt rassistischen Weltbildern verknüpft ist – und die die erkenntnisfeindlichen Schablonen prägt, durch die viele Menschen derzeit den Nahostkonflikt wahrnehmen. Die Behauptung „It’s not that complex” legt nahe, dass es reine Opfer und reine Täter gibt. Eine Behauptung, die in ihrer Konsequenz nicht nur zu Lasten von Juden und Jüdinnen geht, sondern auch zu Lasten aller Menschen von Gaza über den Libanon, Iran und Kurdistan bis in den Jemen, die unter reaktionären Kräften wie Hamas, Hizbollah oder den Huthi leiden, deren Leid und deren Kämpfe jedoch in vereinfachten Täter-Opfer-Schemata keinen Platz finden. 

Adorno für alle

Die Missstände, die Aussagen wie den obigen zu Kredibilität verhelfen, sind aus linker Perspektive nicht zu leugnen: So ist es eine Tatsache, dass die Zugänge zu Bildung, akademischen Diskursen und einer bestimmten Art, öffentlich sprechen zu dürfen und angehört zu werden, limitiert sind und die Grenzen zu diesen Zugängen entlang von Faktoren wie Klassenzugehörigkeit, Rassifiziertheit und Geschlecht verlaufen. Statt Gerechtigkeit dadurch herstellen zu wollen, dass den Erkenntnissen der Wissenschaft und Theorie ihr objektiver Gehalt aberkannt wird, könnte man jedoch auch den Schluss ziehen, dass die Zugänge zu Bildung Gegenstand eines Kampfes sind, den wir zu kämpfen haben. Statt akademisiertes Wissen als unnützen Standesdünkel zu behandeln, könnte man auch fordern, die Akademien allen zu öffnen, die gerne wissen und verstehen wollen; eine Realität fordern, in der die Menschen Zeit und Muße haben, um sich für Verständnis und Wissen entscheiden zu können. Im gegenwärtigen Antiintellektualismus der antifaschistischen Handarbeitslehrer:innen hingegen scheint eher die Annahme durch, ehrliche Arbeiter seien zu dumm, um Texte aus dem Elfenbeinturm zu lesen – womit zumindest eine gute Anwendungsmöglichkeit für den analytisch sonst oft wackligen Begriff „Klassismus” gefunden wäre.

Die Vorbedingung von Solidarität ist, Systeme der Unterdrückung zu verstehen, denn nur dann können wir wissen, mit dem wir uns überhaupt solidarisieren sollten. Dass die Dinge aber eben kompliziert sind, wird nicht nur durch die Tatsache augenfällig, dass so viele Menschen im nahen Osten zwischen sehr verschiedenen Machtblöcken und Interessen aufgerieben werden, die jedes vereinfachte Opressed-/Opressor-Schema sprengen. Kompliziert ist schon das ganze Ding mit dem Verhältnis von Gefühl und Rationalität selbst, einem Verhältnis, das in Äußerungen wie „sie wollen uns unsere Menschlichkeit absprechen” auf eine einfache Gegenüberstellung von wütender Wahrheit und kalter Beherrschung eingedampft wird. Auch die Kritik an der Abwertung des Emotionalen hat ihren ursprünglichen Gegenstand dabei in Zuschreibungen aus rassistischen und misogynen Diskursen: Die Schwarze Frau wird in rassistischen Tropes als triebgesteuert, übersexualisiert und irrational beschrieben, Frauen im Allgemeinen als emotionsgeleitet und unfähig zur besonnenen und rationalen Reflexion. Weiße und männliche Wut und Aggression werden hingegen häufig gar nicht erst als Emotion wahrgenommen, sondern als eine Art kalte, ultra-rationale Gegen-Emotion. Die Geschichte der Unterdrückungen erscheint als eine Geschichte der Beherrschung der Natur, des Lebendigen, des sich Bewegenden. Nun ist es aber erstens so, dass es sich bei der Verknüpfung des Weiblichen und Nichtweißen mit dem Emotionalen eben um ein Klischee handelt, das nicht aufgebrochen wird, indem wir das Rationale abschaffen, sondern indem wir die Fähigkeit zu Rationalität und Vernunft auch Frauen und nichtweißen Menschen zugestehen; umgekehrt müssen wir auch diejenigen Formen der Emotionalität als solche ansehen, die sich als deren Gegenspieler gerieren, etwa männliche Aggressivität. Zweitens ist die Naturbeherrschung – wie etwa Adorno und Horkheimer, zwei zwar emotionsbetonte, in der antiintellektuellen Linken jedoch besonders verhasste Denker, gezeigt haben – eben nicht alleinig Mittel der Unterwerfung, derer sich die Mächtigen bedienen. Der Beherrschung der Natur ist vielmehr auch Vorbedingung jeder Gemeinschaft. Es wird allen unmittelbar einleuchten, das sowohl Gesellschaft als auch Fortschritt überhaupt erst dadurch möglich werden, dass die Einzelnen wissen, welchem Begehren sie unmittelbar nachgehen sollten und welchem eben nicht. Die unterstellte Binarität von Emotion als Kampfmittel der Unterdrückten und Rationalität als Mittel der Unterdrückenden, geschieden entlang einer Achse von Gut und Böse, geht also nicht auf. Und unser Ziel muss immer sein, die Verhältnisse von Gefühl und Rationalität sowie von Rationalität und Vernunft sinnvoll neu zu bestimmen.

Umkämpfte Gefühle

Auch ohne Adorno zu zitieren, können wir festhalten, dass unser Gefühl zwar eine Wahrheit hat, einfach insofern es eben existiert, diese Wahrheit aber nicht notwendig viel mit einem objektiv sinnvollen Erkenntnisgehalt zu tun haben muss. Unsere Gefühle verweisen nicht auf direktestem Wege auf das, was gut und richtig ist, sie können uns sogar auf direktestem Wege in die falsche Richtung leiten. Eva Illouz hat in ihrem Buch „undemokratische Emotionen” anhand der Politik der israelischen Regierung untersucht, wie rechter Populismus mit Emotionalisierung arbeitet. In der Einleitung zitiert sie wiederum eine Aussage Adornos, nach der Angehörige deklassierter oder von Deklassierung bedrohter Klassen ihre Abneigung nicht etwa auf das sie bedrohende System und seine Vertreter richten, sondern auf die diejenigen, die dieses System kritisieren. Wir alle sehen, wie die AfD die (auch durch die Ampelregierung geschaffenen) irrationalen Ängste vor einer Überfremdung für ihre Mobilisierung nutzt, haben bezeugt, wie eine wütende Menge ins Kapitol eingedrungen ist, erleben den Hass fremder Menschen im Netz oder abgewiesener Männer auf der Straße; Putin arbeitet mit Emotion, Orban tut es, Trump tut es, Hamas tut es auch. Die Emotionen, die die Menschen ins Kapitol, auf antisemitische Demos, in Kommentarspalten oder zu Protesten vor Abtreibungskliniken treiben, sind echt. Und sie unterscheiden sich nicht von denen, die Linke antreiben: dem Wunsch, endlich Gerechtigkeit zu erfahren, der Wut auf die, die man als Mächtige identifiziert hat, der Unzufriedenheit über das, was ist. Was die Gefühle rechter Wutbürger von den unseren unterscheidet – oder das zumindest sollte – sind Prämissen, die bestimmen, ob alle Menschen ein gutes Leben verdient haben sollen oder eben nicht. Und um unsere Prämissen gegen reaktionäre Krisenlösungen zu verteidigen, brauchen wir mehr als nur Gefühl. Wir müssen unser Denken bemühen, um herauszufinden, ob linke Angebote noch nach diesen Prämissen handeln. Durch dieses Denken machen wir manchmal Entdeckungen. Wie zum Beispiel, dass die Unterstützung von Milizen und Terrororganisationen wie den Huthi, Hizbollah oder Hamas zwar antiwestlich ist, aber niemanden befreit – vor allem nicht jene, deren Schutz sich Linke auf die Fahnen geschrieben haben: Frauen, Queers, Juden*Jüdinnen, Andersdenkende, Angehöriger aller Religionen und Ethnien. Um den Bruch linker Politiken mit ihren eigenen Prämissen aufspüren zu können, brauchen wir sie eben, die Theorie, die vielen Worte, das Aushalten der Ambivalenzen und das abstrakte Denken.

Feel the news

So kämpferisch sich die linke Rückbesinnung auf das rein Wütende und Ungestüme auch gibt, sie wird über ihre eigenen Füße fallen. Wo gehört wird, wer am lautesten schreit, gehen die leisen unter. Wo nur noch dem Gefühl gefolgt wird, sind wir Opfer all der Demagogen, die um unser Gefühl kämpfen. Wo wir die Welt in unten und oben, gut und böse aufteilen, können wir abstrakte Herrschaftsverhältnisse nicht begreifen, und werden wir auch Antisemitismus weder verstehen, noch erkennen – erst recht nicht da, wo er neue Gestalt annimmt. Wo wir die Wut und das Gefühl zum einzig wahren Motor der Aufständigkeit der Unterdrückten des Globalen Südens fetischisieren, fallen wir auf die rassistischen Tropes wie die der wütenden schwarzen Frau hinein. Wir werden vielleicht schlechte und manipulative Argumente eines Olaf Scholz oder Sascha Lobo erkennen, weil wir wissen, dass wir Olaf Scholz und Sascha Lobo nicht mögen, werden schlechte Argumente und gefühlte Wahrheiten anderer Linker aber bejubeln, solange sie sich richtig anfühlen.

Niemand, der klar denken kann, wird indes die Bilder vom 7. Oktober sehen, die Bilder aus Gaza, aus Mariupol, aus dem Jemen, und nicht wütend, traurig, verzweifelt sein. Niemand, der noch einen moralischen Kompass hat, wird dem Sterben im Mittelmeer, rassistischen Migrationspolitiken wie Bezahlkarten oder dem deutschen Sanktionsregime gegen Armutsbetroffene gleichgültig gegenüberstehen, auch da nicht, wo sie:er nicht selbst betroffen ist. Die Welt ist ein Skandal. Unsere Gefühle der Wut und Verzweiflung verdienen einen Raum, sie müssen Triebkraft in unseren Kämpfen sein. Aber solange „propalästinensisch” für so viele Menschen gleichbedeutend mit „antiisraelisch” ist, sind wir offensichtlich noch nicht an einem Punkt, an dem wir das weitere Denken selbstbewusst aufgeben können.

Text: Julia Pustet

 

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