Raus aus den Schulden

Wenn Hilfe-TV nicht mehr zu helfen ist – Zwegat saniert Naddel

Nadja abd el Farrag besitzt tatsächlich noch genug Fallhöhe, um zwei Stunden beste Sendezeit bei RTL zu füllen. Die Spezial-Folge mit ihr in der Reihe „Raus aus den Schulden“ zoomt dabei näher ran als jeder Oben-Ohne-Beitrag – und stößt auf ein Opfer von Mediengesellschaft und Voyeurismus. Als Verantwortlichen für die menschliche Tragödie präsentiert die Sendung allerdings jemand ganz anderen – und macht es sich damit allzu einfach. In jedem Fall aber ein Thema für eine Webseite, die den Untertitel “Insolvenz & Pop” trägt. Von Linus Volkmann

20161214_214546_resizedDie Erzählung in den Help-TV-Formaten der Privatsender ist kein willenloser, ergebnisoffener Blick ins Elend, sondern folgt strengen Regeln: Am Anfang werden illustre bis zahnlose Wracks präsentiert, für gute Worte, Ratschläge oder die Realität sind diese dabei aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr empfänglich, im weiteren Verlauf folgen so unvermeidlich totaler Tiefpunkt und Konfrontation – geläutert (lies: gedemütigt) erwirbt sich das arme Schwein die Fahrkarte raus aus Ground Zero, zumindest innerhalb der Sendungslogik. Der stets leicht märchenhafte Schlenker Richtung Happy End darf seinen Lauf nehmen.
So inszeniert gerade der unvermeidlich positive Ausgang sein mag, so wichtig ist er für den Zuschauer. Denn nur mit der wackligen Behauptung, all dieser Voyeurismus habe ja letztlich sein Gutes, erschleicht er sich rückwirkend das moralische Recht, sich derart ungefiltert am Unglück des Protagonisten delektiert zu haben.

Strukturelle Verlotterung
Nicht wenige schauen bei Elends-TV daher nur die erste Hälfte. Der Wiederaufstieg interessiert doch keine Sau, der Reiz am Untergang gestaltet sich weit größer als der an der Restauration. Um dieser strukturellen Verlotterung eine Entsprechung zur Prime Time zu geben, ließ nun RTL seinen kettenrauchenden Sozialarbeiter und Schuldnerberater Peter Zwegat auf Nadja abd el Farrag los. Das versprach selbst dem abgebrühtesten Trash-Freund noch ein Genre-Stahlgewitter.
Dass die sogenannte Naddel überhaupt noch eine Fallhöhe besitzt, mag dabei überraschen. Doch es ist so. Selbstdemontagen wie Busenwiegen, Ballermann oder Big Brother besitzen noch die Grenzen ihrer eigenen Inszenierung. Wenn aber das zerknirscht authentische Leatherface des Schuldnerberaters die echten Einkommensverhältnisse ans Flip-Chart kritzelt, kann keine Dschungelprüfung der Welt die Situation mehr auflösen.

Taschengeld in Moll
Die erste halbe Stunde von „Raus aus den Schulden – das Promi-Special“ ist dann auch bestürzender als alles, was in diesem Format sonst so durch die roten Zahlen geschleift wird.
Farrag wird angetroffen in einem zugestellten kleinen Hotelzimmer, das sie umsonst bewohnen darf, auf dem Bett wälzt sich ein großer haariger Hund, ihre Möbel sind kostenpflichtig eingelagert, die 51-jährigen erhält Taschengeld von ihrer Mutter. Alkoholprobleme, Magersucht, Borderline – alles scheint zum Greifen in dieser trostlosen Kulisse. Die Off-Stimme des Beitrags möchte dennoch vermeiden, dass man einen zu guten Eindruck von der desolaten Situation erhält. „Sie ist ganz unten angekommen“, heißt es daher, dazu spielt jemand von der Redaktion im Hintergrund Klavier in Moll. Okay, vermutlich hat nur der zuständige Cutter den Knopf „Düstere Emotion“ gedrückt.
Doch kein routinierter Entblößungskniff der Medienprofis ist so effektiv wie Nadja abd el Farrag selbst. Ihr zuzusehen wird zu einer Anklage auf unterlassene Hilfeleistung – gegen den Boulevard, gegen die Medien, gegen sich selbst. Zwegat – immerhin nicht Helena Fürst – müht sich heiser und nach Kräften, dem komplett gescheiterten Promi-Tanzbär auf die Sprünge zu helfen. Doch letztlich kann es ihm ja auch nur darum gehen, dass Farrag sich aufs schmerzhafte Outing durch das Format einlässt. Dafür hätte es dann gar nicht so viel Mühe gebraucht. Wie bei allen TV-Auftritten Farrags hat man das Gefühl, sie durchsteigt nicht die Zusammenhänge und gibt sich so mit ihrer brüchigen „Shiny happy people“-Attitüde bloß immer wieder aufs Neue der Lächerlichkeit preis. Naiv, ungelenk und servil wie ein unsicherer Teenie. Die Crazy Cat Lady bei den Simpsons macht dagegen noch mehr den Eindruck, sie hätte ihr Leben im Griff.
Und es geht immer noch weiter: Hartz 4, Agentur für Arbeit, aufgezwungene Vorstellungsgespräche, kackender Hund im Close-Up. Gegen diese halbe Stunde TV ist ein Torture-Porn-Film wie „Hostel“ nur noch Wellness. 

20161214_214539_resizedDie behauptete Rettung
Von all seiner schrägen Liebe zum Drama kuriert, taumelt der Zuschauer in die ersehnte Werbung. Danach hat „Raus aus den Schulden“ endlich ein Einsehen. Naddel bekommt eine (glaubwürdig schlecht angezogene) Psychologin gestellt – auch wenn man natürlich ahnt, ein Vormund, der als erstes solche TV-Auftritte unterbindet, wäre das einzig Richtige. So aber plaudert diese offensichtlich von aller Schweigepflicht entbundene „Vertrauensperson“ vor der Kamera über die Probleme ihrer Klientin. Farrag sitzt wie ein gescheitertes Fabelwesen mit dem übertrieben weißen Gebiss daneben und sieht überfordert aus. Dennoch ist die ungefilterte Brisanz des Beginns überwunden, denn die konstruierte Handlung der Folge setzt ein. In anderen Fällen oft ein arges Ärgernis, weil die Realität der jeweiligen Story ihrer Fiktion geopfert wird – bei Nadja abd el Farrag indes nimmt man die nun folgenden haltlosen Beschwichtigungen und Kulissen-Schnörkel gern an. Nicht raus aus den Schulden, raus aus der Wirklichkeit möchte man. Ja, man möchte rein in die Kneipe von Olivia Jones und nimmt auch die unvermeidliche Schalte nach Mallorca dankbar an.

Die Sehnsucht nach der nächsten Katastrophe
Die Realitätsflucht mündet dann plötzlich in die Schuldfrage. Warum geht es Naddel so dreckig? Die fürchterliche Antwort, die mit dem Finger aufs Trash-TV und einen selbst verweist, erspart einem die Sendung – wen wundert’s? Sündenbock ist vielmehr eine pathologische Sau namens: Erwachsenen-ADHS. Na, und wir fürchteten (beziehungsweise hofften) schon, hier kommt tatsächlich die Schlüsselfolge, die alle weiteren Voyeurismus-Formate verunmöglichen wird. Glück gehabt. Denn gegen ADHS gibt es schließlich Pillen!
„Auch wenn die Medikamente etwas umstritten sind in der öffentlichen Diskussion“, sagt die Psychologin.
Dass Naddel dennoch (zumindest innerhalb der Diktion der Sendung) nun wieder obenauf ist, bekommt man nach der letzten Werbepause noch mal schriftlich auf dem Flipchart. Na, dann ist ja alles gut – und „stern TV“ mit dem Günther Jauch –Darsteller Hallaschka kann übernehmen. Erstes Thema: „Sie kennen ihn als den lustigsten Polen. Doch der Comedian Marek Fis ist depressiv und schwer alkoholabhängig – und heute zu Gast!“.
Zum Heulen und ein Symptom der Zehner Jahre: Untergangsbegleitung hat Konjunktur.

DREI SPOTLIGHTS ON TOP: 

Bester Augenblick der Sendung
Zwegat schenkt Farrag ein Bündel hässlicher Blumen, weil auch er gemerkt hat, was er ihr da eigentlich alles antut. Er schenkt sie ihr stellvertretend auch für uns.

Unfreiwillige Komik
„Raus aus den Schulden“ empört sich über die rücksichtslose BILD-Zeitung, die Naddels Hartz4-Realität noch während der Dreharbeit outet. (Das wollte das RTL-Format doch selbst machen!)

Erhellendster Moment
Betrunkene, Kinder und Erwachsenen-ADHS-Naddel sprechen die Wahrheit: Naddel meldet sich bei der von Zwegat aufgetanen Stelle nicht zurück. Begründung: „Die wollten mir für ein Praktikum kein Geld zahlen. Schwachsinn, das geht ja wohl mal gar nicht!“ Dass es genauso geht im Berufsleben, haben wir alle längst verinnerlicht. Nur noch Naddel findet es obszön, wenn geleistete Arbeit nicht entlohnt werden soll. Marx wäre stolz auf sie.

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