Talkshow

“Dieter Hallervorden hat mich bei Instagram blockiert” – Das große Christin-Nichols-Interview

8. April 2024,

Ladies and Gentleman: Christin fucking Nichols! Sie ist ein Phänomen, eine überregional umtriebige Neonlichtgestalt, Musikerin, Schauspielerin, Künstlerin, spannende, schlaue, inspirierende Gesprächspartnerin, Nachteule und Earlybird in einem – und pretty damn funny. Saskia Timm zeigt sich mehr als begeistert und traf die Wahl-Berlinerin zu (mehr als bloß) einem Interview.

Foto: Vero Bielinski

Schon nach unserem ersten Treffen, das – wie soll es anders sein – im Umkreis der 8mm Bar stattfand, war ich sofort schockverliebt und wollte mehr wissen von dieser Frau. Um so schöner, dass kurz nach unserem Kennenlernen Christin ihr Solodebut “I’m Fine” releaste – ein kühles, groovendes, smartes Album, voller Zärtlichkeit und Wut, T-Shirt-Zitaten für die Ewigkeit inklusive (hört bitte “Sieben Euro Vier” oder “Today I Choose Violence”), sowie der wohl schönsten Wave-Ode an die Kleinstadt, aus der man kam und jetzt wieder rein muss mit Bier aus dem Bordrestaurant, namens “Bielefeld”.
Mit Fug und Recht bekam das Album in der Sendung „Soundcheck“ auf Radio Eins von der Jury viermal die Wertung „HIT“ und landete prompt auf der Shortlist für das beste Album 2022.
Gefeiert wurde der damalige Release im bummsvollen Post-Corona Monarch mit Gästen wie Jennifer Finch (L7) oder Kevin Kuhn (Die Nerven) auf der Bühne, während sich Berlins Hautevolee des (Semi-)Undergrounds im Publikum die Kante gab und es wurde spät, schön und laut.

Genauso elektrisch und sprühfunkend die Kunst ist, die Christin auf hiesige Theater- und Konzert-Bühnen bringt, ebenso inspirierend und bereichernd ist es, sich mit ihr zu unterhalten. Auch auf ihrer aktuellen Platte, “Rette sich, wer kann” setzen Themen um (Selbst-)Ermächtigung, Feminismus, Kapitalismus sowie das Suchen und Finden in der Nacht den Schwerpunkt, dabei wieder einmal textlich unanfechtbar und musikalisch logisch konsequent in der Entwicklung nach vorn. Etwas raus aus dem Schrammel und dem postpunkigen, mehr rein in den Beat und den Pop, ohne die super wavey und shoegazey Wurzeln zu negieren, das vordergründig Fordernde der ersten Platte mag etwas der Selbstversunkenheit und Nachdenklichkeit gewichen sein, ohne dabei auch nur einen Moment in Selbstmitleid oder pseudo-intellektuelles Gejammer umzukippen, wie man es von genug Typen kennt. Das mag daran liegen, dass Christin sich selbst ernst nimmt, ihre Themen, vor allem aber, weil sie weiß, wovon sie spricht. Depressionen? Angststörungen? Versagen? Panikattacken? Liebe? Das Gegenteil von Liebe? Hoffnung? Euphorie? Fuck it, let‘s dance – alles bitte her damit.

Gut, ein breites Spektrum macht noch keine interessante Person, geschweige denn eine meinungsstarke oder streitbare, umso mehr ist es bewundernswert, dass Christin durchaus den Weg geht, ein Hot Topic anzufassen, mit welchem man auf einen Schlag einen ganzen Sack an Sympathisant:innen verprellen kann – bei ihr ist eines dieser Herzthemen u.a. die Verfügbarkeit von Frauen*körpern. Nichols ist leidenschaftliche Verfechterin von Frauen*rechten und dem Nordischen Modell, ohne dabei irgendwem eine freie Sexualität abzusprechen. Ganz deutlich wird dies bereits im ersten Track “Bodycount”. Über einen kühlen Beat singt sie: “Rock ist kurz / Zeit ist knapp / muss mein Bodycount noch checken / ich will leben / als ob die AFD was dagegen hätte”… “Slutshaming / Patriarchy / all unsere Strukturen / und wenn wir Frauen entmachten wollen / nennen wir sie Huren / eigentlich sind wir euch doch einfach nicht geheuer / Nordisches Modell sofort – bestraft die Freier”. Auch eine bekannte, männliche Berliner Gestalt, die sich gern zu Bumsmusik mit einem Flammenwerfer auf die Bühne stellt, kriegt einen vor den hässlichen Latz: “Row Zero ist jetzt voll mit Girls / komm stell dich hinten an / ich halte noch einen Platz frei im Knast / weil der ist für _BEEP_

Somit habe ich mich wie ein junger Hund gefreut, als Chistin einem Treffen fürs Kaput-Magazin zugesagt hat, um sich mit uns über ihre erste große Liebe HipHop, Punk, (alte weiße) Männer, Bühnen, Feminismus und Pizzalieferungen zu unterhalten. Gute Fahrt!

Foto: Stefanie Schmid Rincon

Chrissi, ich freue mich so sehr, dass wir uns heute hier treffen! Bevor es losgeht und rein in die eine ohne andere Materie, kurz die Frage: Wie organisierst du dein Leben? Ich kenne niemanden, der so sehr auf vier Milliarden Hochzeiten gleichzeitig tanzt und alles ist auch noch komplett unterschiedlich.
CHRISTIN NICHOLS Ich würde sagen, es ist eine absurde Mischung aus: ich kann das einfach, weil ich das immer schon gerne gemacht habe, also Sachen planen und organisieren seit meiner Kindheit. Ich bin nach meinem Studium nie fest an ein Theater gegangen oder bin nie fest angestellt gewesen über einen längeren Zeitraum, sondern immer nur ein paar Monate bei einem Dreh. Ich kenne das seit über zehn Jahren einfach nicht anders, dass ich einen Terminkalender brauche und eine Menge Zettel, wo ich mir Dinge aufschreibe. Das funktioniert ganz gut. Und da steht auch ganz oft, weil sich viele Sorgen machen, “Pause” drauf und “Urlaub”. Und ich sitze auch oft mal einen halben Tag zu Hause und mache gar nichts, bis ich mich dann manchmal auch ein bisschen schlecht fühle. Aber eigentlich auch nicht.

Das beruhigt mich zu hören. Hast Du eine klassische Schauspiel- oder Theaterausbildung genossen? Oder bist du in die Schauspielerei eher reingeschlittert?
Ich hab’ sogar ein Schauspielstudium. Ich habe an der Ernst Busch studiert. Hab’ das Handwerk also ganz klassisch gelernt.

Und wann hast du angefangen, Musik zu machen? Gab’s da den Moment, wo du merktest, dass dich Theater und Schauspiel nicht ausfüllt?
Den gab es nie, denn ich habe eigentlich immer Musik gemacht, schon als Kind, und hab mit acht Jahren Klavier gespielt und mir eigene Lieder ausgedacht. Oder im Kindergarten hab ich mir eine Gitarre genommen und Songs von der Rocky Horror Picture Show nachgesungen und performt – was einer der ersten Filme war, die ich je gesehen habe. Meine Eltern hatten früher Videotheken und ich durfte den Film immer bis zu einem gewissen Punkt gucken und dachte immer nur so “Oh mein Gott, wie cool”, ich fand’s mega. Bis heute hängt Frank’n’Furter über meinem Bett in meinem Jugendzimmer. Mit 17 habe ich dann Bass gelernt, weil ich Cassandra aus Wayne’s World so cool fand und hatte später eine Punkband, Schmitz Katze, damit Leute sagen, “die gehen ja ab wie Schmitz Katze” [lacht]. Das lief immer parallel. Ich hab dann einfach nur meinen Fokus auf andere Sachen gelegt. Und als ich dann im Theater war, nach der Schauspielschule, kam der Wunsch einfach wieder auf, weil ich gemerkt habe, dass mir was gefehlt hat.

Du hast ja ein eigenes Label gegründet und deine neue Platte kommt bei dir raus. Glückwunsch! Wie kommts – noch nicht ausgelastet genug? Und hast du schon Pläne, wo es mit “My Own Party Records” hingehen soll?
Danke, dass du das fragst! Geil! Ich glaube, dass das ein großer Teil meiner Reise und Selbstermächtigung ist oder war, dieses Label zu gründen. Ich habe einen tollen Vertrieb, hab tolle Leute, ein tolles Team um mich herum beim Booking, PR und alles. Ich habe wirklich fantastische Menschen in meinem Team, in meiner Band eh, aber ich dachte, „nee, das kann ich doch selbst“. Also ich schreibe meine Musik selbst, Ich produziere zusammen mit Stefan meine Songs selbst, warum denn nicht auch in der letzten Instanz auch dafür verantwortlich sein, wie das rausgeht und was man da macht

Toll! Bin eh großer Fan davon, wenn Frauen oder weiblich gelesene Person sich da loslösen aus diesen Männer-Vertriebs- und Label-Bünden. Kennst du noch Hanin Elias von Atari Teenage Riot? Die hatte damals ja auch Fatal Records gemacht und ihren eigenen Kram da rausgebracht und wollte anderen, weiblichen Künstler:innen eine Plattform bieten Ihre Musik dort zu veröffentlichen, die etwas abseits des Mainstreams ist. Leider hört man aus der Ecke nix mehr, irgendwie.
Das ist wahnsinnig viel Arbeit, das weiß ich. Aber es ist Arbeit, die auf eine Art und Weise total sinnstiftend ist. Ich wollte immer irgendwas machen, wo ich mich drin verwirklichen kann, wie wahrscheinlich jede:r und ich habe das halt darin gefunden, in meiner Kunst und meiner Kreativität. Für mich heißt das jetzt nicht mehr: Ich schreib dies und mach dann das im Studio und dann gebe ich das weg, sondern das große Ganze bleibt bei mir. Diese ganzen Energien zu bündeln ist schon schön.

Hast du schon so Ideen Richtung Signing, was du da haben möchtest? Oder ist dir das im Grunde egal?
Hallo, mein Name ist Christin Nichols, mir ist alles scheißegal [lacht]. Nee, überhaupt nicht. Ich würde mir aber auch nicht auferlegen wollen, dass ich etwas Bestimmtes machen muss. Aber ich sehe und spüre schnell, wenn ich für etwas eine Liebe, ein Interesse habe oder wenn es energetisch ist, oder wie auch immer man das nennen kann, ohne dass es schmierig klingt. Off topic jetzt, weil‘s gar nicht um‘s Signing geht, aber als ich damals Julian Knoth beim PopKultur-Festival mit Yum Yum Club gesehen hab, bin ich vom Stuhl gefallen. Ich war so blown away wie seit Jahren nicht mehr und ich dachte: was macht der? da Was ist das? Ich kann das bis heute nicht benennen, muss ich auch gar nicht. Aber wenn: manchmal gibt es einfach Leute, die dich so vom Hocker fegen, wo du denkst: JAOK! In Julians Fall ist es natürlich was anderes, weil er mit Die Nerven ja schon recht populär ist, aber jüngere Leute oder Leute, die vielleicht nicht solche Tools oder die Infrastruktur wie wir hier haben und wenn mir so was passiert, dass ich so ein Wow-Gefühl habe, dann würde sehr gerne sagen “Ey! You try!” und das kann dann alles sein. Das kann Rap, Hyper-Pop, Riot Grrrl, Punk, was auch immer sein. Ich bin Pop, ich bin da offen für alles und freue mich über alle Richtungen und alle gender – I don’t believe in gender anyways. Ich freue mich einfach über gute Menschen, die Bock haben. Ich bin aber auch nicht nur emotionsgesteuert, ich check auch schnell, wenn jemand slacked. Denn wenn gemeinsam sagen, wir haben Lust und wir machen das zusammen und wir finden einen Weg und wir wollen diesen Weg zusammen gehen, dann ist das wie in einer Beziehung. Also alles schön und gut, wenn wir uns jetzt abfeiern und wir uns gerade toll finden und ich deine Kunst toll finde und du meine, aber wir müssen jetzt auch einen Arbeitsweg miteinander gehen und das ist halt ein Arbeitsweg und da brauche ich dich am Start. Ich will ja für dich das Beste.

Stichwort Julian – er ist ja dein Feature auf “In Ordnung”. Wie kam die Zusammenarbeit zustande, hast du ihn bei dem Popkultur Festival angesprochen nach deinem Anfall der Begeisterung?
Ja klar! [lacht] Ich hab einfach aus Neugier Yum Yum Club geschaut beim Popkultur und war wie gesagt geflasht wie seit Ewigkeiten nicht von seiner Magie. Ich hab ihn gefragt, ob er Lust hätte, was zusammen zu machen. Dann haben wir uns getroffen, waren vier Stunden im Studio und zack. Er war auch Gast bei meiner Berghain Show, die an meinem Geburtstag war – und ausverkauft, Wahnsinn, und dort haben wir den Song zum ersten Mal live performt. Und man muss dazu sagen, ich weiß nicht, ob er will, dass ich es sage, aber Julian ist einer der nettesten Menschen, einer der höflichsten Menschen, die ich in meinem Leben je getroffen habe. Beim meinem Album Release Konzert am 14.04. im Frannz Club ist er diesmal leider nicht dabei, aber FATONI. Das wird gut.

Apropos FATONI, mit dem du auf deinem neuen Album den Titeltrack “Rette sich, wer kann” aufgenommen hast. Du hattest irgendwo mal gedroppt, dass du schwer HipHop-sozialisiert bist, war es daher dein Wunsch, jemanden aus der Ecke auch auf deiner Platte zu haben?
Anton [FATONI] kenne ich seit 2012 und ja, ich muss leider alle enttäuschen, die denken, ich bin ein Punk-Mädchen. Ich komme vom HipHop. Ich bin aufgewachsen in Spanien und im Winter war da echt nicht viel los so ohne Handy und Internet. Einmal die Woche kam die Bravo – das war dann so‘n bisschen das Tor zur Außenwelt beziehungsweise nach Deutschland. Das war teils schon recht hart so in der Pubertät, wenn man sich nach Kultur und Action sehnt. Naja, jedenfalls… ich war zwölf oder so da kam irgendwann ein Tourist vorbei, der hatte breite Hosen an und war so’n Graffitimaler, hat Breakdance gemacht, und war total im HipHop. Der Mensch hat mir dann ein Tape aufgenommen von Blumentopf, mit der Platte “Kein Zufall” und ich war sofort so “Whoa, was ist das?” Ich hab das Tape sogar irgendwo noch in meinem Jugendzimmer rumliegen… Seitdem war ich hooked. Und dann machte auf Mallorca, in der Gegend wo ich aufgewachsen bin, der erste Müllermarkt auf und die hatten eine echt erstaunlich gute CD-Sammlung, da habe ich mir dann auch weitere Blumentopf Sachen gekauft und Samy Deluxe und sowas. „Kein Zufall“ ist immer noch mein Lieblingsalbum nach der „Sport“-EP von EinsZwo.

Hast du auch mal versucht zu rappen?
Natürlich, aber nur im stillen Kämmerlein. Ja, du lachst, aber ich war gar nicht schlecht! Ich hab mit 14 angefangen meine ersten Raptexte zu schreiben, habe mich aber nicht getraut, die zu performen. Später in Deutschland wohnte ich in der Nähe von Bielefeld, wo ja viele Künstler:innen herkommen. Casper, zum Beispiel, der hat in dem Jugendzentrum, in dem ich auch immer war, noch auf Englisch gerappt, bevor er seine Hardcoreband hatte. Samy Deluxe war da, Nico Suave war da und und und – das war Ende der 90er ein ganz, ganz besonderer, toller Ort. Ich habe mich aber leider nie richtig getraut, weil das einfach männerdominiert war, es gab keine Frauen, es gab keine Vorbilder. Ich glaube, wenn ich mich mehr getraut hätte – oder wäre ich in der heutigen Zeit erwachsen geworden – hätte ich auch mit Rappen angefangen. Das ist immer noch was, was meinem Herzen sehr, sehr nahe ist. Trotzdem war der Übergang zum Punkrock ein paar Jahre später dann fließend, auch einfach aus einer politischen Gesinnung heraus, mit der man sich identifizieren konnte. Ich habe jetzt kein Favorite Child oder so, Punk liebe ich genau wie HipHop, aber HipHop war zuerst da.

Ich freue mich schon auf deinen Rap-Album eines Tages. Könnte ja passieren, jetzt wo die Pforten für weiblich und weiblich gelesene Künstler:Innen endlich etwas offener sind. Das bringt mich auch gleich zum nächsten Thema – ganz viel Platz nimmt auf deiner neuen Platte das Thema Feminismus ein in diversen Facetten. Selbstzweifel, Selbstfindung, Leben unterm Patriarchat, das ganze Elend. Wie kann ich das war ich fragen will, jetzt am besten formulieren…
Da kann ich direkt was zu sagen, darf ich?

Na klar, hau raus!
Schade, dass das so ist. Wie schade, dass das meine Themen sind und sein müssen. Ich bin so neugierig auf die Version meiner selbst, die ich wäre, wenn ich mich nicht darum kümmern müsste, den Scheiß, den das Patriarchat verzapft, ertragen zu müssen. Wenn ich mich nicht um die Beseitigung der Spuren und der Schäden, die das Patriarchat und der Kapitalismus in meinem Leben hinterlässt, kümmern müsste. Ich bin so gespannt, was ich für ein Mensch sein könnte oder wäre, wenn ich einfach nur mit dem, was ich habe, in diese Welt starten könnte, wenn die Welt eine gleichberechtigte wäre. Es ist anstrengend sich von diesen Strukturen zu befreien, die man selbst auch verinnerlicht hat. Ich kann es nicht fassen, dass ich mich jetzt hinstellen muss, im Jahr 2024, und sagen muss: “Bitte keine Frauen kaufen für Geld”. Ich fasse es nicht.

Das ist ein Fakt. Man überlegt sich immer: wem gebe ich da zum Beispiel meine Nummer? Selbst wenn ich einfach abends eine Pizza bestelle und schon in Unterhose und Schlafshirt im Bett liege, ich ziehe mir immer was an, wenn ich an die Tür gehe, also nochmal rein in den Pullover und die Jogginghose, obwohl es mich hardcore nervt und die Übergabe 10 Sekunden dauert, aber du weißt halt nicht, was für ein Freak dir da evtl. deine Pizza liefert und was passieren könnte. Ich glaube nicht, dass Typen sich nochmal komplett in Montur werfen, wenn sie schon mit Short und Shirt im Bett liegen, um nochmal kurz die Tür zu öffnen um was entgegenzunehmen.
Wenn ich alleine zuhause bin, rufe ich immer vor der Tür so “Schatz, bleib sitzen, ich mach das!”

Ja, das sind so grundsätzliche Sachen, die einfach beschissen absurd sind, aber man muss sich mit sowas als Frau beschäftigen. Ich meine, dass man abends irgendwie heil nach Hause kommen möchte – da brauchen wir gar nicht erst mit anfangen. Ich habe manche Monate Taxirechnungen von 200 Euro, weil ich es nicht ertrage, mit diesen ganzen aggressiven Spinnern und Glotzern Bahn zu fahren, geschweige denn eine Strecke zu Fuß teilen zu müssen. Ich gebe Geld aus, das ich nicht übrig habe, nein, ich MUSS Geld ausgeben, dass ich eigentlich gar nicht ausgeben kann, um mich sicherer zu fühlen. Und selbst dann ist nicht garantiert, dass man nicht an einen totalen Psycho-Fahrer gerät, der einen sonst wohin karrt, hab ich auch alles schon erlebt.
Same! Es gibt ja nicht umsonst auf auf Social Media diese ganzen Reels, die man abspielen kann und es klingt, als ob jemand mit dir spricht, wenn du im Uber alleine bist und dich unwohl fühlst. Ich hätte total Lust, in meinen Songs nur über Bees and Birds and Flowers oder sowas zu singen, aber das ist gar nicht möglich. Weil ich als Frau oder wir als FLINTA*, wenn man sich dessen bewusst ist, was passieren könnte, sich nie in einen Status von kompletter Entspanntheit begeben kann. Das ist so schade.

Wann hatte ich das gelesen oder hattest du das sogar erzählt, als du bei der letzten Platte “Today I Choose Violence” diese ganzen Zitate so runtergebetet hast, dass das quasi Originalzitate sind, die dir selbst gesagt wurden? Und kamen die alle vom gleichen Typ oder war das ein Best-Of?
Die zweite Strophe war ein einziger Abend und kam von ein und demselben Mann, genau. Wonach ich so ohnmächtig war und nicht wusste, ob ich jemanden schlagen soll, dass ich dachte, ich muss jetzt was schreiben. Und die erste Strophe ist ein sympathisches Potpourri aus meiner Zeit an der Schauspielschule. Also im Grunde ist es scheißegal, ob Schauspiel- oder Musikbusiness, das ist alles, was durch den Malegaze seit Jahrzehnten, Jahrhunderten funktioniert und es ist nicht gesund für Frauen, egal wo und in welchem Forum oder welcher Branche. Ich möchte aber auch mal sagen, dass ich zum Beispiel mit der UFA ganz, ganz tolle Erfahrungen gemacht habe, die sich extrem für LGBTIQ+ einsetzen und ich habe ganz tolle Leute erlebt, mit denen man super reden kann, also es ist nicht alles scheiße, um Gottes Willen! Aber ich habe wiederum auch gerade neulich während einer Produktion mit einer jungen Kollegin gesprochen, der genau das gleiche an der gleichen Schauspielschule mit dem gleichen Dozenten passiert ist wie mir. Also sexualisierte Degradierung.

Aha, was ist da passiert – also falls du das teilen magst?
Also vorab: ich trage eine Kleidergröße 36 – das ist egal, aber ich will das mal gerade als Parameter festlegen. Es ist, heteronormativ gesehen, schlank und sexy. Völliger Bullshit. Und dieser Dozent sagte mir damals, als vulnerable Studentin in einem Beruf, der sehr vulnerabel ist: “Ich finde es echt mutig, dass du dich mit deinem Körper auf die Bühne traust – naja, du bist halt weiblich”. Also da ist sowieso ganz viel falsch in diesem Satz. Die Kollegin hat mir ähnliche Dinge gespiegelt und ich bin in der Garderobe fast heulend zusammengesackt, weil das alles so retraumatisierend gewirkt hat. Was muss man denn machen, damit diese alten weißen Säcke, Entschuldigung, aber es ist so, damit sie damit aufhören? Man kann ja nur darauf warten, dass sie sterben. Dieter Hallervorden hat mich bei Instagram blockiert, weil er irgendwas mit “Uh, Gender Gender! Gendergaga” gepostet hat und ich hab‘ halt drunter geschrieben “Ich hoffe, dass so alte weiße Arschlöcher wie du bald aussterben” und dann habe ich eine Abmahnung bekommen.

Naja, ich meine, die Natur wird es richten.
Ja.

Alle wollen sie eine körperlich 14-jährige ficken, aber du sollst bitte auch eine 40-jährige im Kopf sein von deiner Reife. Also, wenn sie 14 ist, ist sie zu unreif und zu doof, sie sollte schon etwas auf dem Kasten haben, aber bitte auch nicht zu viel, sonst kratzt das auch wieder am Ego. Andererseits sinkt mit dem Alter die ‘Fuckability’, weil man halt nicht mehr aussieht wie ein halbes Kind – also auch wieder nicht richtig.
Ich habe glücklicherweise viele tolle Menschen in meinem Leben, Männer wie Frauen, Nonbinaries und They/Thems und Menschen darüber hinaus und dazwischen, mit denen ich offen darüber sprechen kann. Frauen beziehungsweise heteronormativ kategorisierte „Frauen“ werden schon immer stereotyp sozialisiert. Sie sind am besten für alle da und tragen Verantwortung, das geht ja schon im Kindergarten los. Das Erste, was eine Frau oftmals spielt, ist Muttersein, mit Kinderwagen durch die Gegend schieben und Puppen versorgen. Eine Frau ist liebevoll, eine Frau ist Caretaker, sie kümmert sich um alles. Dass das Prinzip „Frau“ auch nicht hinterfragt wird beziehungsweise Gender steht nochmal auf einem ganz anderen Papier…

Männer werden hingegen schon voll gelobt, wenn sie auf den Spielplatz gehen. Dann sitzt einer an der Rutsche und alle so “oh guck mal, wie süß der sich um seine Kinder kümmert” – das wird ja oft richtig hervorgehoben, als ob das jetzt eine Medaille verdient, wenn er die Menschen, die er gezeugt hat, auch mal kurz betreut.
Ja, es ist völlig absurd. Man wird von früh an da schon so rein erzogen, ich halte das einfach für falsch. Und wie gehen  – wenn wir im heteronormativ-kapitalistischen Reading bleiben wollen – Männer damit um, dass sie inzwischen oft nicht mehr ‘auserwählt’ werden von emanzipierten Frauen, dass man von Typen auch Sachen einfordert und wenn die das nicht draufhaben, die man auch links liegen lässt? Oder, dass Typen immer noch zu Prostituierten gehen? Denen muss man ja irgendwie entgegenkommen und sagen: Ey, Jungs, it’s fine’, aber hinterfragt mal das Konstrukt Patriachat. Was können wir in vielen Fällen tun, damit Männer mal anfangen, emotionale Arbeit zu leisten, was sonst immer die Mama gemacht hat und später von der Partnerin übernommen wird… Wir sollten ein Hilfetelefon einrichten (lacht). Es ist nun mal so, dass in der westlichen Welt, wo Frauen sich langsam selbst ermächtigen, Männer weniger ‘gewählt’ werden. Viele Frauen sind alleine und ohne Partner glücklicher als mit – das ist eine Riesen-Verletzung des männlichen Egos offenbar. Sie verlieren Ihre Macht und das macht sie wahnsinnig. Irgendwer muss jetzt mal sich kümmern, dass das wieder ins Gleichgewicht kommt.

Okay. Ich glaube, wir gehen mal wieder zur Musik, bevor wir hier noch was kaputt hauen. Und über Til Lindemann müssen wir gar nicht erst reden.
Nee, gebe dem Ganzen bloß keine Plattform. Das Wort nehmen wir nicht in den Mund, da hab ich gar kein Bock drauf. Also Musik Musik Musik. Ich freue mich übrigens sehr, dass du mich nicht fragst: “Was magst du lieber: Schauspielerei oder Musik?”

Ach, schade, na dann so: was bist du? Eine singende Schauspielerin oder eine schauspielende Sängerin? [lacht]
Ich bin Jan Josef Liefers. Nein, kleiner Witz. Druck das bloß nicht! [lacht]

Erzähl mir doch mal generell von dem Entstehungsprozess, wie ihr euch so findet. Eher ab in Proberaum und auf den Recordknopf drücken und schauen, was passiert oder mehr die strukturierteren Menschen und schickt euch viel Sachen hin und her?
Es läuft so: ich denk mir was aus, habe Ideen, habe Themen, habe Texte, habe Melodien. Schreib das auf, mach das in mein Logic. Und wenn ich ein paar Sachen zusammen habe, sage ich Stefan Ernst Bescheid und wir gehen ins Studio und arbeiten dann an den Songs: Manche brauchen ein Jahr, manche eine Stunde. Stefan ist mein Produzent, Leadgitarrist und so’n bisschen musikalischer Direktor, würde ich sagen, weil der einfach absurd krass und toll ist. Und ich habe eine wirklich ganz, ganz tolle Band. Simi, mein Drummer, ist phantastisch, Sinem meine tolle Bassistin und Keyboardspielerin, Journalistin, Philosophin, mega, mega krasse Frau, Mark Gundermann ist einfach ein bezaubernder Allrounder mit einem unfassbar großen Herzen. Beste Menschen.

Für mich als Hamburger Deern interessant jetzt, weil du grade mit Olli Schulz und Kettcar unterwegs bist beziehungsweise warst. Bei denen scheinst du ja einen Schlag zu haben, wie man im Norden so sagt. War das dein Wunsch oder kam das über kam das übers Management? Frage nur, weil ihr ja doch recht unterschiedlich seid, so musikalisch, finde ich, allesamt, aber das ist nur meine Meinung.
Olli ist schon seit zig Jahren ein Buddy von mir – wirklich sehr, sehr bezaubernd. Und es war einfach klar, dass wir mal was zusammen machen, ich konnte nur wegen dem Theater-Engagement leider nicht mehr Konzerte mit ihm zusammenspielen. Und auf Kettcar freue ich mich auch schon sehr – die mag ich schon ewig und bin ganz freudig!

Merkst du das Machtgefälle auf deinen Touren noch, Stichwort Typen schrauben ungefragt an Verstärkern rum oder versuchen einem zu erklären, wie man Instrumente ‘richtig’ anschließt und solch ein Verhalten?
Da kann ich zum Glück sagen, ich hab das nie gehabt. Natürlich gibt es da einige Spezialisten, irgendsoein Onkel Werner der alles besser weiß, aber ansonsten ist diese Szene unfassbar liebevoll. Egal, wie alt sie sind. In der Musikbranche habe ich persönlich noch nie sexualisierte Demütigung erleben müssen. Früher in der Schauspielschule wie gesagt schon, aber in der Musik, gerade in der letzten Zeit was meine Band und mich betrifft nicht.

Einer noch: Man wird ja nicht von heute auf morgen zur Feministin, sag ich mal, man wächst mit seinen Aufgaben, was natürlich mit Männern zu tun hat und der Checkung der eigenen Sozialisierung und nicht-vorhandenen Privilegien. Mir hat zum Beispiel sehr viel geholfen von Tori Amos, PJ Harvey über Team Dresch bis Hole und den ganzen Riot Grrrl Kram zu hören, Laurie Penny zu lesen, Andrea Dworkin, de Beauvoir, Woolf, Plath… hast du da so Aha-Momente gehabt, wo du dachtest, wow, meine Gedanken werden irgendwie kanalisiert und ich kann das jetzt besser prozessieren und verstehen, was ich fühle, aber vielleicht noch nicht so richtig einordnen, da muss ich mal tiefer rein?
Das kam Stück für Stück wie bei dir, aber ich muss ganz ehrlich gestehen, einen richtig heftigen Schub gab es nochmal mit der Gen Z in den letzten fünf Jahren. Das war so der allerkrasseste Schritt. Davor gab es auch mal heftige Phasen, aber in den letzten Jahren habe ich mich krass mit mir selbst auseinandergesetzt, mit meiner internalisierten Misogynie, die ich mit Sicherheit habe, genauso wie internalisierten, strukturellen Rassismus, den ich mit Sicherheit auch mitbekommen habe und ich bin froh, dass ich Menschen in meinem Umfeld habe, die mir spiegeln, wenn ich mich auf eine gewisse Art und Weise verhalte. Und ich bin froh darüber, dass ich selbst für mich die Entscheidungen treffe, von denen ich glaube, dass ich sie moralisch vertreten kann. Und wenn ich nicht offen bin, dass Leute mit mir in den Dialog gehen. Ich freue mich darüber, meine eigenen festgefahrenen Strukturen, in denen ich aufgewachsen zu überwinden. Ich bin gerne bereit zu lernen, das ist halt eine Lebensaufgabe.

Hast du persönlich noch irgendwelche Wünsche, Tipps, Ratschläge den du den (jungen) Leuten da draußen mit auf dem Weg geben magst?
Mach das, was du liebst, mit den Menschen die liebst.

Das Interview führte Saskia Timm

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Christin Nichols Album:

“Rette sich, wer kann” erschien am 23.03.2024 auf My Own Party Records

 Die Tour dazu:

14.04.24 Berlin – Frannz Club (Record Release Party mit Gästen)
20.04.24 Berlin – Columbiahalle (Support für: Kettcar)
21.04.24 Wien – Arena (Support für: Kettcar)
23.04.24 Erlangen – E-Werk (Support für: Kettcar)
24.04.24 Stuttgart – Im Wizemann (Support für: Kettcar)
25.04.24 Bielefeld – Lokschuppen (Support für: Kettcar)
26.04.24 Dresden – Alter Schlachthof (Support für: Kettcar)
27.04.24 Hamburg – Sporthalle (Support für: Kettcar)
09.08.24 Essen – Zeche Carl – Kultursommer im Garten
30.10.24 Hannover – Faust
01.11.24 Köln – Blue Shell
02.11.24 Stuttgart – Helene P
03.11.24 München – Milla
21.11.24 Hamburg – Molotow
22.11.24 Leipzig – Conne Island
23.11.24 Nürnberg – Stereo

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