Auf keinen Fall den Raum im Rücken – Jens Friebe über Alfred Hilsberg
Dieser Sommer war der letzte für Alfred Hilsberg, er starb am 18.August 2025. In sehr verkürzten Welten wird er als „Erfinder der Neuen Deutschen Welle“ gehandelt, was sicherlich überzogen sein mag. Nicht überzogen allerdings ist der immense Einfluss, den er auf die hiesigen Pop- und Subkultur über viele Jahrzehnte genommen hat. Eine seiner letzten großen Entdeckungen war der Musiker Jens Friebe. Jener lässt uns hier noch einmal Anteil nehmen an der Legende Alfred Hilsberg – menschlich gesehen.

Alfred Hilsberg neben Jens Friebe auf einer Podiumsveranstaltung der (Popup-Messe 2005 in Leipzig.
So cool man auch tut, ganz kalt lässt es einen doch nicht, wenn eine Legende ins eigene Leben tritt. In Alfreds Fall war mein Wissen um seine Legende in den frühen 2000er Jahren noch sehr frisch. Zwar hatte ich schon viel früher, als musikalisch altkluger Teenie viele ZickZack- und Whats-So-Funny-About-Platten gehört, doch wie die beiden Labels zusammenhingen und warum die von mir sehr geschätzte Platte „Bei Alfred“ von FSK so hieß, wie sie hieß, wusste ich nicht. Erst die 2001 erschienene Monographie „Verschwende deine Jugend“ über Punk und Wave in Deutschland machte mir die weitverzweigte Wirkmacht dieses einen unglaublichen Mannes klar (wenn ich sowas schreibe, stelle ich mir noch vor, dass er es liest und laut lacht). Er erschien hier als überlebensgroßer Pate, der von seinem Bett aus über alle Epochen hinweg die Geschicke des deutschen Undergrounds lenkte, Mentor so grundverschiedener Großereignisse war wie den Einstürzenden Neubauten und Blumfeld. Ob die Anekdote von dem dunklen Fleck, den sein stets schwarzes Hemd an der Wand bei seinem Bett hinterlassen haben soll, auch aus dem Buch stammte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls spielte das alles für mich in einer phantastischen Welt, die mit meiner keinerlei Berührungspunkte hatte.
Entsprechend märchenhaft kam es mir vor, als ich den Hörer meines Festnetztelefons abhob und die Worte hörte, „Hallo, hier ist Alfred Hilsberg, ich habe von deinem Konzert in Hamburg gehört“. Der Clash der Sphären, seine sonore Stimme und natürlich sein Vorname ließen mich an die Anrufe von Alfred Hitchcock bei den Drei Fragezeichen denken, und so nannte ich ihn eine Weile für mich Alfred Hitchcock. Als er bei unserem ersten Treffen in Hamburg ins Café kam, setzte er sich mir nicht gegenüber, sondern direkt neben mich. Er wollte auf keinen Fall den Raum im Rücken haben. Was für ein Geheimagenten-Move, dachte ich. Gleichzeitig kreierte die Anordnung sofort eine verschwörerische Intimität und machte den Moment für mich rückblickend zu einem rührenden Sinnbild unseres Verhältnisses.
Zur von Anfang an freundschaftlichen Atmosphäre trug seine berühmte knarzige Direktheit ebenso bei, wie seine wesentlich weniger bekannte knuffige Albernheit. Er hatte ein Faible für dadaistische Gesprächssabotagen und zombifizierte Sponti-Sprüche. Er war der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich es lustig und liebenswert fand, wenn er „zum Bleistift“ sagte. Bei einem Telefonat zum Thema Musikvideo konnte es leicht passieren, dass man irgendwann über Speed-Qualität im Wandel der Zeit oder pikante Details einer 50 Jahre zurückliegenden Romanzen von ihm sprach. Einmal rief er mich an und sagte als erstes: „Ich hab geträumt, du wärst mit M. zusammen“, wobei es sich um eine uns beiden bekannte Musikerin handelte. Derartige Unverschämtheiten waren mir ausgesprochen angenehm.
Ich glaube, das Fehlen einer gewissen professionellen Distanz war untrennbar mit seiner Unternehmensphilosophie verbunden. Natürlich hatte sich zwischen den wilden Anfangsjahren und dem Zeitpunkt, als ich zum Label kam, viel verändert „Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre haben uns die Leute alles aus den Händen gerissen, ohne dass wir irgendeine Promotionplatte verschicken mussten. Heute müssen wir ganz gezielte Promotionaktionen fahren und agieren letztlich so wie jede andere Plattenfirma auch“, das erklärte er Christina Mohr im Interview für satt.org. Dennoch gibt es eine Konstante, die vielleicht durch die posthumen Danksagungen zweier zeitlich weit auseinanderliegenden Signings am deutlich wird. Die eine ist von Wolfgang Müller: „Dem gerade verstorbenen Alfred Hilsberg werde ich immer dankbar sein. Er veröffentlichte die ersten beiden ‚Die Tödliche Doris‘-Vinyls auf seinem ZickZack-Label. Die Maxi 12inch 1981 und die LP 1982. Wer hätte das seinerzeit sonst gemacht? Niemand.“ Die zweite stammt von Ella Grether, der zusammengemorphten Facebook-Persona von Sandra und Kersty Grether: „Er war der einzige, der Parole Trixi bedingungslos von Anfang an auf seinem Label veröffentlicht hat (…) Er hat im schlimmsten anti-feministischen Backlash der 90er Jahre das Geld, was er für den Deal mit Blumfeld beim Major bekommen hat, in die radikalste Riot Grrrl Band investiert.“
Alfred Hilsbergs Ziel war, kurz gesagt, nie, als erster einen Schatz zu entdecken, den alle wollen. Ihm ging es darum, hörbar zu machen, was sonst nie jemand zu Ohren bekäme. Eins der leider nie realisierten Vorhaben, von denen mir Alfred mal erzählte, war ein Sampler mit allen von ihm über die Jahre abgelehnten Bands, was eine sehr illustre Auswahl ergab. Ich meine mich an Die Goldenen Zitronen, Stella, Tomte, Stereo Total und Bernd Begemann zu erinnern (wütende Widersprüche gern an die Redaktion). Obwohl einige Bands später sehr berühmt wurden und er keineswegs alle künstlerisch ablehnte, versicherte er mir, keine dieser Absagen jemals bereut zu haben. Ich glaubte das. Denn Alfred schloss keine Wette auf dich ab wie andere Labelmacher. Er entschied sich für dich. Und das ging nur unter der Voraussetzung eines tiefen, die persönliche Ebene einschließenden Zuständigkeitsgefühl. Die Verbundenheit endete auch nicht automatisch mit dem Ende der professionellen Zusammenarbeit. Über Jochen Distelmeyer beispielsweise sprach er bis zum Schluss wie über einen Sohn.
Dass für seine Entscheidungen die Erfolgsaussichten der jeweiligen Projekte keine vorrangige Rolle spielten, hieß allerdings nicht, dass ihm der Erfolg dieser Projekte egal war. Im Gegenteil: Für ihn waren die Erfolge und Misserfolge seiner Musikerinnen keine Posten einer Gesamtkalkulation, sondern in jedem Einzelfall eine höchstpersönliche Angelegenheit. Und so legte er sich dann auch ins Zeug. Aus der mir verborgenen Journalistensicht beschrieb Jens Balzer in seinem Nachruf für „Die Zeit“ sehr anschaulich, wie Hilsbergs Einsatzbereitschaft schon mal in scherzhaft bedrohliche Vehemenz umschlagen konnte, „wenn das Telefon klingelte und am anderen Ende jemand mit einer sehr tiefen, gleichermaßen zugewandten und keinen Widerspruch duldenden Stimme sagte: ‚Hier ist Alfred. Wir müssen über meine Band XY reden. Die muss jetzt in die Zeitung, wann machst du das. Sonst komm‘ ich persönlich vorbei.‘“
Für uns Pferde im Stall war er mitunter Seelsorger. Ich erinnere mich, wie er mir nach einem Konzert mal sagte, „Ich hab da so Fragezeichen gesehen bei dir, das ist ganz unnötig, du muss unbedingt weitermachen“. Ich weiß gar nicht mehr, ob es mir da wirklich so schlimm ging, aber sein unerschütterliche Vertrauen in die innere Berechtigung meines Treibens tat mir gut. Auf äußerliche tagesgeschäftliche Turbulenzen allerdings – das war die Schattenseite seiner großen Anteilnahme – reagierte Alfred oft regelrecht hysterisch. Der schroffe Kontrast zwischen seinem Alarmismus und seiner Seebärenaura machte die Sache schlimmer. Wenn dieser Fels schon die Nerven verliert, muss es wirklich schlimm bestellt sein, dachte man sich, wenn es hieß, „der Vertrieb ist genervt“, irgendwelche Zahlen seien „Katastrophen“ und alles insgesamt „gar nicht mehr lustig“. Auch bekam er, wie um unbewusst die Waghalsigkeit seiner Bandauswahl zu balancieren, bei den kleinsten Kleinigkeiten eine panische Experimentierangst („Die Schrift muss links oben auf dem Cover sein, sonst übersehen die Leute das, wenn sie im Laden die Platten durchblättern!“). Hier – und nur aus dramaturgischen Gründen erst hier – kam Julia Pfälzer ins Spiel. Sie war Hilsbergs rechte Hand und gehörte für mich so fest zu ZickZack wie er selbst. Sie hielt nicht nur organisatorisch den Laden zusammen, half bei der Promo und übersetzte die unleserlichen Faxe des Chefs in E-Mails – sie übersetzte eben auch seine dramatischen Ansagen in sachliche Lageberichte. Außerhalb dieser Krisenmomente waren beide ein unschlagbares Paar, die herzlichste und unterhaltsamste Gesellschaft, die man sich überhaupt wünschen kann. Die Erinnerung an ein Zimmerservice-Gelage in Erfurt gehört zu den schönsten Gelage-Erinnerungen meines Lebens. Wie lang ich noch bei ZickZack überdauert hätte, wenn Julia nicht gegangen wäre, weiß ich nicht. Aber ich wage zu sagen, dass das finale Missverständnis mit ihr so nicht passiert wäre. Alfred eröffnete mir bei einem Abendessen, dass er das Label nicht mehr machen wollte, dass es noch dieses Jahr abgewickelt würde. Das nahm ich ernst. Später stellte sich raus, dass es nur eine drastische Laune war. Aber da gab es für mich schon kein Zurück mehr. Ich hatte mit meiner Musik an anderer Stelle angedockt.
Danach sprach ich sehr viel seltener mit Alfred, aber wenn wir telefonierten, war es wie früher. Er hörte meine Sachen weiterhin, lobte ohne Groll und kritisierte ohne falsche Vorsicht. Auch als es ihm schon sehr schlecht ging und er kaum noch aus der Wohnung rauskam, verlor er seine mürrische Grundheiterkeit nicht. Er war immer noch brennend interessiert, wenn Leute, die er mochte, neue Musik machten, er verbreitete und rezipierte immer noch begeistert jeden Tratsch. Nur beim allerletzten Mal, als ich eine Hamburg-Reise mit Abstecher zu ihm ankündigen wollte, war es komisch. Er klang auf eine Art gereizt, die ich nicht von ihm kannte. „Nein, wir können uns auf keinen Fall treffen, mir geht’s ganz schlecht“. Eine Woche später, als ich in Hamburg war, bestellte Julia mir von ihm, ich solle mich mal melden. Er hatte unser Gespräch also ganz vergessen.
Linus Volkmann vom Kaput-Magazin hat noch kurz vor Alfreds Tod eine wunderschöne Aktion gestartet. Er bat die Bubble, Postkarten an Alfred zu schreiben. Alfreds Freundin, die ihm die gesammelten Karten ins Krankenhaus brachte, schrieb, er sei teils zu Tränen gerührt gewesen über die Nachrichten. Hätte ich gewusst, dass ich nie mehr mit ihm sprechen kann, hätte ich vielleicht auch eine Karte geschrieben, Aber was hätte ich geschrieben? Vielleicht „Ruf mal an, Alter“. Und was würde ich im jetzt schreiben, gäbe es eine Post in dem Mythenreich, aus dem er für mich gekommen war und in das er jetzt zurückgeglitten ist? Ich weiß es nicht. Irgendwas ganz Banales und trotzdem Wahres, wahrscheinlich. „Danke für alles. es war ein großes Glück, dich zu kennen. Wir werden dich schrecklich vermissen“.
PS: Ich wollte das leidige Geldthema eigentlich hier ganz rauslassen, aber es kam in fast allen Nachrufen so prominent vor, dass ich doch noch kurz was dazu sagen will.
01 Ja, es ist richtig, was ihr schreibt „er hat die Leute nicht [immer] bezahlt“ und „es gab nie eine Abrechnung“. Das ist nicht in Ordnung, ich will das nicht wegdiskutieren, aber vielleicht doch mal ins Verhältnis setzen. Es mag in den Achtzigern oder Neunzigern die ein oder andere außergewöhnlich erfolgreiche Band gegeben haben, denen ein nennenswerter Gewinn vorenthalten wurde, um mal wieder fünf nicht lukrative Bands quer zu finanzieren. Auch wenn man so eine Umverteilung kommunistisch begründen kann, sollte man sie sicherlich vorher oder zumindest überhaupt absprechen. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle (vor allem zu meiner Zeit) ging es aber doch höchstwahrscheinlich um Klecker- beziehungsweise Minusbeträge. Nach Abzug der Press-und Masteringkosten und der Vergütung der immensen Promo-Arbeit wäre mit viel Glück vielleicht mal ein schönes Pizzaessen mit der Band rausgesprungen. Klar, das hätten die Leute verdient gehabt und über ein solches Fehlen darf man sich natürlich auch aufregen. Aber ist das wirklich die Geschichte, die ich auf einer halben Seite über die Lebensleistung eines der größten Förderer abenteuerlicher Musik um jeden Preis noch unterbringen muss? Das verstehe ich irgendwie nicht.
02 Viele der Bands haben finanziell enorm von Hilsbergs Netzwerk profitiert. Vor allem muss man hier an seinen Partner in Crime, den Warner Chapell- Verleger Norbert Masch, erinnern. Jener hatte viele Hitlieferanten entdeckt (zum Beispiel Snap oder Xavier Naidoo) aber auch ein Herz und Ohr für beseelte abseitige Musik, und gewährte nicht wenigen ZickZack-Acts noch in den Nullern aus kaufmännischer Sicht völlig unvernünftige Vorschüsse. Ja, ein Vorschuss ist kein Geschenk, aber selbst bei denen, die sie über ihre Tantiemen wieder begleichen konnten, waren sie doch für die Frage, kann ich meine Vision realisieren, kann ich mir das überhaupt leisten, unter diesen Umständen Musik zu machen, viel wichtiger, als ein paar womöglich versickerte Euro.
03 Bei Korruptionsfällen in der Politik ist ja auch immer eine zentrale Frage „Hat sich der Täter bereichert?“ Ich denke, in diesem Fall sind wir uns schnell einig. Nein, zum Teufel. Alfred hatte kein Haus, kein Auto, er flog nicht in Urlaub, er hatte, so weit ich weiß, auch keine Privatversicherung, die ihm eventuell eine bessere Reha hätte bezahlen können. Alles, was er je getan hat, hat er für die Kunst und seine KünstlerInnen getan. Oder um es mit Luthen aus Andor zu sagen „Du fragst, was ich für die Rebellion geopfert habe? Alles!“




