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„Als würde mein inneres Patriarchat zerbrechen“ Tom Liwa im Interview

15. Juli 2024,

Tom Liwas jüngste Platte trägt den verrätselten Titel „Primzahlen in Bardo“. Primzahlen dürfte man noch zuordnen können, bei Bardo handelt es sich um Bewusstseinszustände nach der Lehre des tibetanischen Buddhismus. Olaf Zelewski sprach mit Tom Liwa, wie das alles zusammenhängt.

Foto: Saskia Lippold

Ist das noch Tom Liwa? Oder welche Stimmen singen da zu mir? Mag sich dieser Tage der ein oder andere Fan fragen, wenn das neue Liwa-Album auf dem Plattenteller rotiert. Etwas ist anders. In diesen Tagen erscheint Liwas neues Studioalbum, dieses Mal eingespielt mit der Leuchtturm Band und nicht mit seinen langjährigen Begleiter*innen, den Flowerpornoes. Anlässlich der Veröffentlichung vom fulminanten, neuen Album „Primzahlen im Bardo“ sprachen wir über seine Arbeit an den neuen Songs, deren Vielschichtigkeit sich bereits über die letzten Alben andeutete und die sich durch eine Multiperspektivitität des lyrischen Ichs auszeichnen. Die Texte sind von einer intuitiven Qualität geprägt, die ihresgleichen sucht. Die wie beiläufig gesungenen Lyrics öffnen Räume, die einem den Boden wegziehen können, jedoch nicht ohne einen gleich darauf sanft wieder abzusetzen. Doch danach läuft es sich anders.

Tom, Deine letzten Alben, die Du allesamt auf. Bandcamp veröffentlicht hattest („Der, den mein Freund kannte“, „Morgenstimmung“, „Eine andere Zeit“), sind sowohl musikalisch als auch textlich heterogen. „Der, den mein Freund kannte“ ist ein leises Album, welches sich auf eine besondere Weise unter anderem mit dem Sterben befasst. „Morgenstimmung“ steht dem entgegen, indem es viele Stimmen und Stimmungen abbildet. „Eine andere Zeit“ ist teilweise Pop. Ist das gewollt? Oder entstehen diese unterschiedlichen Räume, die Du da aufmachst, erst beim Schreiben der Songs?

TOM LIWA Ich würde sagen, es gibt bei jedem Album eine Klammer aus inhaltlichen und ästhetischen Entscheidungen, zu denen auch die Wahl des Produzenten und der Mitmusiker gehört. „Der, den mein Freund kannte“ entstand in der pandemischen Isolation und spiegelt das auch wieder in seiner Ruhe, eingebettet in Schichten um Schichten aus Ambientsounds. „Morgenstimmung“ ist ein lautes Rockalbum, was mit den Flowerpornoes jederzeit geht. Inhaltlich war die Idee, möglichst unbequeme Wahrheiten, die ich über die Jahre von verschiedensten Menschen zu hören bekam, in Songs zu formulieren und dann in der ersten Person zu singen. Da kommen dann Ex-Partner, mein Vater, politische Gruppierungen und am Ende sogar mein Hund zu Wort – ein  äußerst kathartischer Prozess. Die Akkorde der einzelnen Songs sind übrigens im Losverfahren zusammengekommen. Bei „Eine andere Zeit“ habe ich mich ganz bewusst für Stef Maldener als Produzenten entschieden, der ein sehr schönes, opulentes Popverständnis hat und sich für dessen Umsetzung akribisch einsetzt. Ich glaube, ich war der Meinung, dass die schwierigen Themen des Albums – eine äußerlich männliche Person mit Vorgeschichte singt aus weiblicher Sicht – eine Art trojanisches Pferd brauchten, um vermittelbar zu werden. Wie gut die Platte dann angenommen wurde, hat mich selbst total überrascht.

„Eine andere Zeit“ ist ein Album, mit dem man viel Zeit verbringen kann. Und es erschließt sich erst nach und nach bei mehrmaligem Hören. Somit täuscht dieser poppige Appeal und hilft Hörenden gleichzeitig dabei, einen Zugang zu finden. Der Ansatz mit dem trojanischen Pferd ist somit gelungen. „Eine äußerlich männliche Person mit Vorgeschichte singt aus weiblicher Sicht.“ Könntest Du das erläutern? Hast Du Dich bewusst für diese Perspektive entschieden? Oder ist es eher ein intuitiver Zugang? Wie entsteht so etwas?

„Eine andere Zeit“ entstand so: Ich hatte in mir eine verborgene weibliche Stimme entdeckt, die ich mir bis dahin nie erlaubt habe, oder besser: Mir nicht erlaubt habe, mich mit ihr zu identifizieren. Je mehr ich darüber nachdachte und reinfühlte, umso mehr war es, als würde mein inneres Patriarchat zusammenbrechen. Das war natürlich erstmal ziemlich toll, eine wirkliche Befreiung. Dann bedeutete es aber auch jede Menge Challenge, da sich mir logischerweise ganz viele Fragen nochmal neu stellten. Bald war klar: Ich wollte/musste darüber schreiben – aber nicht als meine Geschichte.

Die genannten Alben, die aus diesen Prozessen entstehen, funktionieren sowohl mit dem Wissen um diese Arbeitsweisen, können jedoch auch als reguläre Platten gehört und verstanden werden. Welche Stimme aus dem Text zu „krsn-mond“ spricht dort über Dich? Und in „Too much Coca Cola”? Woher kam der Impuls, all diese kritischen Stimmen in diesen Songs zu Wort kommen zu lassen, die sich sicherlich über einen längeren Zeitraum angesammelt hatten?

Tom: Die Geschichte der Issues hinter den Songs auf  „Morgenstimmung“ geht zurück bis in meine Kindheit, entstanden sind die Songs hingegen in extrem kurzer Zeit. Die Musik war schon komplett aufgenommen, als ich innerhalb von zwei Wochen alle Texte schrieb. Fast alle: Bei „Too much Coca Cola“ ist nur der Refrain von mir. Britta Caspers (Lost Verses), die das Lied ja auch singt, hat die Strophen geschrieben. Ihr Vater war kurz vorher gestorben und ich habe sie dazu angeregt, dieselbe Methode anzuwenden, also ihn zu ihr sprechen zu lassen. Der Mond in „krsn-mond“ ist eine innere Stimme. Sowas wie ein personifizierter, unbarmherziger Restzweifel, ein vernichtender Kritiker im Inneren, der hier sprechen darf. Es hatte schon etwas Kathartisches, diese Stimmen mal nicht wegzuschieben, sondern ihnen die Bühne zu überlassen.

Du hast im letzten Jahr an einem Theaterstück mitgearbeitet. Was für ein Stück war das und was war Deine Aufgabe?

“Azzurro” ist ein Theaterstück über Italopop. Ich habe dafür sieben Klassiker des Genres arrangiert und weitere vierzehn Songs auf Italienisch geschrieben. Wir (das Ensemble, die Leuchtturmband und ich) haben den Abend am Theater Bremen gut fünfzehnmal aufgeführt. Italopop war bis dahin so gar nicht meins, aber zumindest mir geht es so, dass ich extra inspiriert bin, wenn ich anfange, Themen zu recherchieren, die mir vorher eher fremd sind. Außerdem war die Zusammenarbeit mit Josef Zschornak, dem Regisseur, ganz wunderbar zielführend.

Du hast auf „Eine andere Zeit“ gemeinsam mit der Künstlerin Nichtseattle einen Song umgesetzt. Auch in Deinem Singles-Projekt hast Du mit vielen anderen Musiker*innen zusammengearbeitet. Ich erinnere mich zudem an einen Live-Mitschnitt, bei dem Du mit Markus Wiebusch von Kettcar auf der Bühne einen Song von Dir spieltest. Würdest Du sagen, dass sich diese Kontakte ergeben, oder suchst Du aktiv danach? Wie würdest Du Deine Arbeit mit anderen Künstler*innen beschreiben?

Kooperationen sind in meinem Fall keine kommerziellen Schachzüge, sondern haben ihre Wurzel in echten, inspirierenden Begegnungen mit Künster*innen wie zuletzt Kathi Kollmann oder jetzt Luise Volkmann. Dass solche Begegnungen aufgrund meiner Reputation überhaupt stattfinden können, empfinde ich als Geschenk und großes Privileg.

Foto: Saskia Lippold

Auf Deinem neuesten Album „Primzahlen aus dem Bardo“ kommen wieder verschiedene Stimmen zu Wort, auch weibliche. Ist es eine Weiterführung von „Eine andere Zeit“? Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit der wunderbar gelöst und leicht aufspielenden Leuchtturmband, die Dich auf dem Album begleitet?

„Primzahlen aus dem Bardo“ setzt auf jeden Fall die Erzähltechniken von „Eine andere Zeit“ fort und es kommen auch einige der Protagonist*innen von damals wieder vor – wenn auch zum Teil in ganz anderer Form. So ist zum Beispiel Hunter, die unsichtbare weiße Wölfin, hier ein schwedischer Fußballspieler in der Mitte des letzten Jahrhunderts und Gertrud aus demselben Lied wird in „Space Czechovs“ als Oma einer der Protagonistinnen erwähnt. „Primes“, wie wir das Album intern nennen, hat noch viel weniger autobiografische Momente als „Eine andere Zeit“. Ich selbst komme an exakt drei kurzen Stellen vor. Dafür sind die Songs stark miteinander verwoben. „Hemil“ ist eine Art Spin Off von „Space Czechovs“, „Bitch EP“ und “Love Dinner“ suggerieren (unterschiedliche) Rahmenhandlungen, „Tommy De Who“, das von Homophobie handelt, könnte ein Prequel zu „Hemil“ sein. Und so weiter. Die Leuchtturmband entstand aus dem Wunsch heraus, nach meinem Umzug ins Wendland auch hier eine regelmäßig spielende Band zu haben – erstmal ohne irgendwelche zielführenden Ambitionen. So ganz hat das mit dem lokalen Zusammenhang nicht geklappt – Saint kommt aus Hildesheim, Björn aus Wetzlar – aber wir merkten schnell, dass wir da etwas ganz Besonderes hatten. Das schon erwähnte Engagement am Theater Bremen gab uns die Gelegenheit, gut bezahlt zusammenzuwachsen und dann kamen natürlich noch die beiden – nicht miteinander verwandten – Volkmann-Frauen dazu. Antje, die uns aufgenommen hat, und Luise am Saxofon, die zu den führenden Stimmen im neuen deutschen Jazz zählt, sind beide auf ihre Art absolute Inselbegabungen und musikalisch weit ausgecheckter als ich selbst, der ja eher intuitiv und autodidaktisch arbeitet. So gesehen eine ziemliche Kette von Glücksfällen. Wären die Zeiten nicht so schlecht, könnte ich das auch selbst sehr viel mehr genießen.

Empfindest Du Deine Musik als gegenwartsbezogen, oder eher als davon entkoppelt? Der Sound ist noch klarer als auf „Eine andere Zeit“, die einzelnen Elemente bekommen viel Raum. Ich ertappte mich dabei, wie ich begann, dazu zu tanzen. Die Platte hat einen ganz eigenen verschleppten Groove. Du erwähnst jedoch auch, dass Du es momentan aufgrund der Umstände nicht so recht genießen kannst. Inwiefern stellt die Musik einen Gegenpol für Dich dar? Wie bewahrst Du Dir diese Leichtigkeit? Und vielleicht magst Du noch etwas zu den gegenwärtigen Zeiten sagen, die gesellschaftlich-politisch schwer sind. Wie gehst Du damit um? 

Zunächst freut mich sehr, was das Album mit Dir macht und ich bin versucht zu denken, dass alles, was uns derzeit ohne eskapistische Tendenzen etwas lockerer macht, doch genau das ist, was wir brauchen. Auch wenn der krasse Rechtsruck, die Spaltung der Gesellschaft und die spätkapitalistische Hölle in den Songs auf „Primes“ nicht explizit benannt werden, so ist doch in jedem einzelnen Text allein durch das ganze Genderzeug genug Haltung, um einem AfD Wähler (würde er zuhören, was die ja meistens eh nicht können) gehörig den Tag zu verderben. So gesehen würde ich auch nicht sagen, dass „Primes“ aus der Zeit gefallen ist, auch wenn es Raum- und Zeitstrukturen erzählerisch aufhebt und auf direkte aktuelle Bezüge verzichtet. Wie ich persönlich mit all dem umgehe? Einerseits durch gezieltes Engagement, grade hier im ländlichen Raum, wo sich langsam aber sicher bürgerkriegsähnliche Szenarien andeuten, die man so erstmal gar nicht vermuten würde. Andererseits aber auch, indem ich die Beschäftigung mit prekären Themen so gut es geht dosiere und mich da nicht 24/7 reinziehen lasse. Eine nicht immer leicht zu bewältigende Challenge.

Danke fürs Gespräch, Tom!

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Das Interview führte Olaf Zelewski

Das Album “Primzahlen in Bardo” von Tom Liwa erscheint am 21.07.2024 bei Bandcamp

Und hier findet sich: www.tomliwa.de

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