“Ich habe das alles nicht aus irgendwelchen Büchern gelernt” – Zu Besuch beim Whiskeyräuber
Der ungarische Volksheld Attila Ambrus beging während 1993 und 1999 neunundzwanzig Raubüberfälle auf Postämter, Reisebüros und Banken. Zuerst siebenundzwanzig, dann nach einem Knastausbruch nochmal zwei. Stets sturzbetrunken (Whiskey) und meistens mit guten Manieren wurde er nach anfänglichen Schlagzeilen als Räuberkavalier zum Whiskeyräuber. Er beklaute zwar nicht die Reichen und beschenkte die Armen, sondern verprasste die Knete am Roulette-Tisch, aber was soll’s. Irgendwo muss man anfangen. 2022 feiert Ambrus zehn Jahre Haftentlassung und seinen 55. Geburtstag.
Jessica Kreiger und Roland van Oystern haben ihn auf seinem Anwesen in Esztergom bei Budapest besucht.
In dem zauberhaften Buch »Die Ballade vom Whiskeyräuber« erzählt der amerikanische Schriftsteller Julian Rubinstein Ambrus’ wahre Geschichte über Eishockey, transsilvanischen Pelzschmuggel, Banküberfälle und gebrochene Herzen. Attila Ambrus musste den ganzen Quatsch erst selber erleben. Da haben wir’s gut. Wir dürfen einfach dasitzen und zuhören oder davon lesen.
Was im Budapest der 90er Jahre möglich war! Sechs Jahre hielt der Whiskeyräuber die Gesetzeshüter zum Besten. Während sich der Oberinspektor der Polizei auf eigene Faust mit »Columbo«-VHS-Kassetten schulte, saß der Rest der Truppe aus blanker Ratlosigkeit in der Kneipe neben dem Präsidium. Allerhand Ermittlungsmöglichkeiten, wie das Fingerabdrucknehmen, waren bereits erfunden, nur wusste weit und breit niemand, wie’s geht. Verzweiflung bringt allerdings auch auf Ideen! Nach einer Serie von Überfällen auf Reisebüros, richtete die Budapester Polizei ein gefälschtes Reisebüro ein, in der verwegenen Hoffnung, der Whiskeyräuber möge es bald ausrauben. Nach seinem fünfzehnten Überfall am 29. August 1996, ebenfalls auf ein Reisebüro, allerdings ein anderes, befand man sich in der Behörde auf einem Höhepunkt polizeilicher Verzweiflung, worauf im Geheimverfahren ein Sonderbeauftragter entsandt wurde, um Józsi Barát aufzusuchen, den seinerzeit berühmtesten Hellseher Ungarns. Józsi Barát gelobte, zeitlebens Stillschweigen über diesen Vorfall zu wahren. Um die Banken war’s ebenfalls nicht gut bestellt. »Damals waren die Banken sehr schlecht ausgestattet, was Sicherheit angeht, ich denke, Ungarns Banken heutzutage wären ohne mich nie so sicher, wie sie heute sind«, sagt der Whiskeyräuber Attila Ambrus in seiner Gartenlaube und schenkt uns Bier nach. »Trinkt, bevor’s warm wird!«
Manches Mal war’s knapp. Da hatte der Whiskeyräuber auch mal Glück. Zum Beispiel an dem Tag, als die Bullen irrtümlich das Gebäude neben der Bank stürmten. Oder als er sich auf der Flucht in einem Rosengestrüpp verhedderte und erst Stunden später wieder zu sich kam, bei Nacht, mit einem zerrissenen Geldsack neben sich, in Stille und Frieden, die Sirenen längst verklungen. »Die Bars in der Nähe der Banken, ich habe mir dort praktisch immer Mut angesoffen, wie man sagt, beispielsweise hab ich ein paar Shots bei der einen Bar getrunken, dann bei der nächsten eine ganze Flasche Whiskey, einmal bin ich in einer Bank eingeschlafen und als ich aufgewacht bin, haben die Knarren in meinen Bauch gedrückt, das hat also das eine mal nicht geklappt, weil ich zu dicht war.« Gelegentlich hat er kurz vorm Überfall in der Kneipe noch seine allerletzten Münzen am Münzspieler verdrückt. »Ich war spielsüchtig und habe sehr viel Geld verprasst, ich habe Weiber geliebt sowie exotische Orte, ich war in fast achtzig Ländern. Und ich dachte, es ist unlogisch, ein Haus zu bauen oder so was, denn solche Sachen konnten mir weggenommen werden, von daher habe ich es verprasst und gelebt.«
Er holt noch mehr Bier und rumänischen Palinka, und bietet uns an, in der kasachischen Jurte zu schlafen, falls wir zu besoffen werden … Wir trinken den Schnaps, er gießt uns extra mehr ein und schenkt nochmal Bier nach. Er sagt seiner Frau Réka Bescheid, dass sie noch Bier holen soll. Wir gehen alle aufs Klo. Wieder zurück in der Laube fragt Roland nach den Bildern mit den Panzern und Réka darauf, die er auf dem Weg an der Wand entdeckt hat. »Für Rékas 30. Geburtstag habe ich ihr einen Tiger Panzer besorgt, eine Replikation, die statt dem Original, 80 Tonnen, nur 40 Tonnen wiegt. Ich habe die aus einem Museum besorgt und sie hat ihn dann auch gefahren und sie hat es gut gemacht.«
Kennengelernt haben sich die beiden auf einem Markt. Die beiden sind öfters auf Märkten. Attila bietet selbstgestaltete Keramik an, Réka handgemachte Täschchen. »Sie hatte lustigerweise schon denselben Nachnamen.« Jetzt sind die beiden verheiratet und zwei kleine Töchter purzeln durch den Garten. »Das Vatersein hat mich unglaublich verändert, denn jetzt bin der Mittelpunkt meines Lebens nicht mehr ich selber, sondern die Kinder. Ich bin von morgens bis abends mit ihnen beschäftigt und meine Kleine, die Ältere, ist sehr anspruchsvoll und sagt gerne ihre Meinung, das mag ich an ihr.« Er vergleicht seine Tochter mit Hitler. Hitlervergleiche gefallen uns natürlich. Und Kinder sind Diktatoren tatsächlich sehr ähnlich, sowie umgekehrt. Auch Hunde wuseln herum. »Sie sind sehr gehorsam.«
Mit der Keramik ging es vor 16 Jahren los. »Im Gefängnis habe ich es erlernt, ich habe auch meinen Schulabschluss dort nachgeholt. Mit meiner Frau lebe ich schon seit sechs Jahren hier (in den Bergen von Esztergom), davor hatten wir eine Wohnung gemietet und nach einiger Zeit konnten wir uns eben dieses Haus kaufen und auch die Werkstatt, wo ich meine Keramik mache. Ich habe auch eine zweite Werkstätte, in der Keramik hergestellt wird, in einem Vorort von Budapest, und da habe ich drei Angestellte.«
Auf den getöpferten Trinkgefäßen seht 67%. Vielleicht ’ne Vorgabe? Wir versäumen es, zu fragen. Einige der schönen Motive sind aus dem Leben geschöpft, zum Beispiel das Doppel-A-Emblem aus Eishockeyschlägern (Attila Ambrus war Torhüter in rumänischen und ungarischen Mannschaften), zusammen mit seinem Motto: BÁRMIT CSINÁLSZ, AZT CSINÁLDJÓL! (WAS IMMER SIE TUN, TUN SIE ES GUT!) Vom Whiskeyräuber gibt’s auch ein Motiv. Alles auf Märkten erhältlich, aber auch im Internet: ambrusattilakeramia.hu Zugreifen! … und am besten zusammen mit Julian Rubinsteins wunderbarem Wälzer an jemand Nettes verschenken.
Wie fühlst du dich von Julian Rubinsteins Buch eigentlich getroffen? Magst du das Buch? »Es gibt zwei Seiten der Story. Erstens mal hat Julian Rubinstein drei Jahre an dem Buch gearbeitet, er veröffentlicht Artikel für die New York Times, Rolling Stone et cetera, also handelt es sich um einen guten Schriftsteller. Von der Story her, wie er es geschrieben hat, habe ich kein Problem, da passt alles, aber es ist der moralische Aspekt, mit dem ich ein Problem hab. Für das Buch hat Julian Rubinstein 800.000 Dollar bekommen, ich jedoch 1.000 Dollar und ein paar Turnschuhe. Deshalb hat er mir damit ziemlich in den Rücken gestochen. Als ich den Vertrag unterschrieben habe, konnte ich kein Englisch und auch heute noch kaum. Ebenso hat er das übersetzte Interview, das er mit mir damals gemacht hat, für 5 Kilo an Warner Brothers verkauft, davon habe ich überhaupt nichts abgekriegt, er ist halt ein guter Business Man.« Der US-amerikanische Schauspieler Johnny Depp hat sich die Filmrechte gesichert. »Ja, Johnny hat die Filmrechte gekauft, jedoch wurde er ausgeschlossen von der Planung und allem, auch wegen seinem schlechten Ruf derzeit in der Öffentlichkeit, seine Schwester Christina Depp hat das übersetzte Interview gekauft und die beiden, also Johnny und seine Schwester, haben die Rechte und alles in der Hand, das heißt, wenn ein Film zustande kommt von ihnen, dann müssten sie mich kontaktieren und einen Vertrag verhandeln et cetera. Die Frage ist, ob das jedoch überhaupt zustande kommt, das weiß ich nicht, vielleicht nachdem ich tot bin, das liegt also nicht in meiner Hand, ob da noch was kommt oder nicht.«
Ein Skript für einen Hollywoodadaption existiert bereits. Der East-Bay-Punkrocker und Drehbuchautor Rich Wilkes hat es verfasst. Wenige Tage vor unserem Besuch beim Räuber, schrieb er uns auf unsere Nachfrage zum Stand der Dinge, dass ihm das Projekt nach wie vor am Herzen liegt und er es immer noch gerne umgesetzt bekäme, und außerdem, dass ihn interessieren würde, wer den Whiskeyräuber in der Hollywoodadaption Attilas Ansicht nach spielen sollte, Adam Driver? »Adam Driver? Nie gehört. Die Sache ist die, ich bin kein Filmproduzent und habe keine Ahnung, wer dafür geeignet wäre, das entscheidet der Produzent. Vor allem auch, weil es einen jungen Schauspieler bräuchte. Aber wenn man mich fragen würde, wäre Al Pacino eine Wahl für mich, da er mein Lieblingsschauspieler ist, aber erst ist offensichtlich zu alt, von daher, wie gesagt, ein erfahrener Filmproduzent kann das am besten entscheiden.«
Aus dem Jahr 2017 gibt ist eine ungarische Spielfilmproduktion des ungarisch-amerikanischen Filmemachers Nimród Antal (Drehbuch und Regie): »A Viszkis« (»The Whiskey Bandit«). Es ist der zweitmeist gesehene ungarische Film. »Der erstmeist gesehene Film ist ›Kincsem‹, da geht es um ein Pferd.« Kincsem heißt so was wie Schatzi. »Der hat 3 Milliarden Forint gekostet (ca. 7,5 Millionen Euro) und meiner hat die Hälfte gekostet, also 1,5 Milliarden Forint (3,75 Millionen Euro).« Im Whiskeyräuberfilm hat Attila einen Gastauftritt als Taxifahrer, weil viele der Fluchten nach den Überfallen mit Taxis gemacht wurden. Es ist der schönste Moment in dem Film.
In seiner Danksagung am Ende der »Ballade vom Whiskeyräuber« schreibt Julian Rubinstein, dass er gerne einmal noch einen mit Attila Ambrus trinken gehen würde. Dazu ist es bis jetzt nicht gekommen. »Nein, aber wenn ich ihm irgendwo mal begegnen sollte, werde ich ihm seine Ohren abschneiden, weil die Slovaken haben das Buch auch veröffentlicht, dort gab es eine Vorstellung vom Buch und sie wollten ihn einladen und ich war auch dort eingeladen, aber er ist nicht dazu gekommen, wenn ich ihn sehen würde, würde ich ihn definitiv verprügeln.« Von Esztergom aus kann man über eine Brücke gehen und schon ist man in Slowenien. Für einen Moment überlegen wir, ob »Julian kriegt die Ohren ab« eine gute Überschrift für unseren Beitrag sein könnte, Attila hat dazu keine Meinung, aber später fragen wir auch bei Rubinstein nach, wie er die so fände … »… well, I guess I won’t be going to see him. It’s been a huge bummer to hear those things of course. I worked for four years on the book for less than $50K, and tried to get Attila into the film option but he’d already signed a deal with someone else. In any case, sorry he feels that way. I think / hope the book has helped him in other ways.«
Wenigstens unseren Besuch hat es ihm eingebracht. Attila schenkt Bier und Palinka nach. Uns immer doppelt so viel wie sich selbst. Profi halt.
Als Kind las Attila Ambrus gerne über Ronny Biggs, auch im TV war der zu sehen. »Vor circa sechzig bis siebzig Jahren hat der einen der besten, beziehungsweise krassesten Überfälle gemacht, den großen Postzugraub, und er ist aus dem Gefängnis geflohen und der Scotland Yard hat ihn gesucht et cetera, und dann ist der nach Brasilien, wo er ein Kind bekommen hatte, und von daher konnten sie ihn nicht aushändigen. Daher denke ich, er ist ein Genie. Aber er hat einige Millionen Dollar erbeutet. Er war oft im Fernsehen und er hat auch mit vielen Interviews et cetera Geld verdient, so wie ich in der Art.« Ambrus hat durch seine Überfälle insgesamt 195.745.000 Forint erbeutet (dem Umwechslungskurs von 1999 nach 775.000 Euro). Unser Interviewdeal besteht darin, für 200 Euro Keramikprodukte zu kaufen. (Um Weihnachten 2022 müssen sich Jessica und Roland keine Sorgen machen!)
Legale Berufe liefen bei Attila Ambrus ins Leere, zum Beispiel der als Totengräber, wo die ungünstige Kombination aus unendlich viel Graberei und ähnlich viel Suff schon mal dazu führen konnte, dass am nächsten Tag die Grube zu klein für die Kiste war. Macht schlecht Vibes bei so einer Beerdigung, keine Frage! Erste Kriminnalitätsversuche als Jugendlicher in Rumänien noch (spektakuläre Flucht aus diesem Land in den 80ern, unter einen fahrenden Zug geklammert, über eine Strecke von 40 Kilometer), waren nicht von besonders gutem Erfolg gekrönt. Zusammen mit ein paar anderen klaute er Musikinstrumente aus einer Schule und inserierte sie nachher in der Lokalzeitung. Der Unfug hat ihm zwei Jahr Jugendarrest eingebracht. In seinem Roman »Haramia« (2015) schreibt er über diese Zeit: »Mehr als einmal habe ich gesehen, wie die dünnen, ängstlichen Jungs den großen Jungs einen geblasen haben. Da drehte sich mir der Magen um. Das Szenario war ganz einfach: Der ältere Bastard wies auf das Ziel hin und forderte ihn nachts in sein Bett, wo er ihm seinen Schwanz in den Mund steckte. Wenn der arme Kerl sich wehren würde, würde er verprügelt werden. Und in den Duschen hielten sie die, die sie in den Arsch ficken wollten. Es gab kein Entkommen.« Worum geht’s in »Haramia«? »In Haramia geht es um eine übertriebene Version meiner selbst. Es geht praktisch um meine Pläne, die ich in meinem Kopf geschmiedet habe, böse Sachen, die ich vorhatte umzusetzen, und diese drücke ich in diesem Buch aus. Es ist offensichtlich eine Fiktion, aber ich war mal an dem Punkt, an dem ich vorhatte, dies umzusetzen, ich wollte sehr viele Leute unter die Erde bringen und jagen, also ich wollte ernste Sachen machen, und im Kopf hatte ich das auch geplant, aber ich hatte nicht die richtigen Leute dazu, um dies umzusetzen.« Im Vorwort schreibt er: »Das Bild, das man oft sieht, ist falsch. Ich lächle auf Fotos, gebe sanfte Erklärungen in Interviews ab, während ich insgeheim neue Aktionen plane, um wieder reich zu werden. Denn Geld motiviert mich, Geld bewegt mich, Geld macht mich skrupellos.« Das literarische Pendant zu seinem treusten Komplizen Gábor Orbán (dreizehn gemeinsame Überfälle) wird auf den letzten Seiten von den Bullen niedergestreckt. Gabi, auch bekannt als »kleiner Whikseyräuber«, veröffentlichte ein Jahr später, also 2016, eine Autobiographie mit dem niedlichen Titel »A Viszkis és ÉN« (»Der Whiskeyräuber und ICH«). »Gabi, er ist in England und arbeitet als Putze, als der Film rauskam, hat er mich kontaktiert und wollte ein Stück vom Kuchen, ich habe zu ihm gesagt, er solle mit dem Filmproduzenten reden, der meinte, er soll zur Hölle fahren, seitdem hasst er mich. Und als er das Buch veröffentlicht hat, na ja, sind halt ein Haufen Halbwahrheiten, na ja, es stimmen einige Sachen aber er hat auch viel reininterpretiert und auch Falsches hinzugefügt, damit sich das Buch eben verkauft, weil er nichts vom Film abbekommen hat.«
Attila Ambrus’ letzte große Verhaftung Ende 1999 brachte ihn nach Sátoraljaújhely in den sichersten Knast Ungarns. Auf Whiskey musste er selbst dort nicht verzichten. Zumindest Anfangs nicht. »Meine Ex, die Eva, hat Alkohol in den Weichspüler verpackt, sie hat den Alkohol in eine Plastiktüte reingetan, verschlossen in den Weichspüler, und den Weichspüler wieder in die Flasche reingekippt. Somit hatte ich auch dort noch Whiskey. Sie haben mich jedoch erwischt und seitdem hat das dann nicht mehr funktioniert. Sie haben teilweise meine ganze Zelle durchwüstet und durchsucht, sie haben in meine Zahnbürste geschaut, ob da was versteckt war, mein Essen, wie zum Beispiel eine Wurst haben sie aufgeschnitten, all solche Sachen.«
Um nicht dem üblichen Gefängnisfraß ausgesetzt zu sein, ist Attila während der Haft zum islamischen Glauben umgewandelt. Darauf war er der einzige, der separat bekocht wurde. »Ich bin kein Fan von Religion, weder der katholischen Kirche et cetera. Diese Menschen tun schlimme Dinge im Namen der Religion und das ist für mich nicht zu vereinbaren. Der katholische Glauben hat so viele Zivilisationen ausgelöscht und auch heute im Vatikan passieren meiner Meinung nach schlimme Dinge, sprich Kindesmissbrauch, sexueller Missbrauch et cetera. Ich hasse sie, ich toleriere jeden, der religiös ist, und jedem soll auch das Seine sein, aber für mich ist das nichts. Marx hat gesagt, »die Religion ist das Opium des Volkes«, und jeder Mensch braucht irgendeinen Halt im Leben, aber ich möchte jedoch kein Teil irgendeiner Religion sein. Gott hat mir lange genug auf den Kopf geschissen. Ich bin damals zum muslimischen Glauben umgewandelt, weil ich dadurch qualitatives Essen erhalten habe, wie zum Beispiel Eier, Bundás kenyér (in Ei getunktes Brot/Arme Ritter), Rindfleisch, ich habe praktisch dem Gefängnis einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Doktorin im Gefängnis war auch aus Siebenbürgen und sie hat mit mir sympathisiert und wir haben uns gut verstanden, deshalb hat sie es praktisch aufgetragen, beziehungsweise es durchgehen lassen, dass das Gefängnis sieben Jahre lang nur für mich frisches Essen kocht, und das hat kein anderer erhalten.«
Attila bekam bei seiner Verhandlung 15 Jahre aufgebrummt, bei einer Wiederaufnahme wurde auf 17 hochgeschraubt. Einer seiner Zellengenossen hatte 13 Jahre dafür erhalten, jemanden geköpft und angezündet zu haben. »In Ungarn gibt es Präzedenzfälle, daher bekam er 13 Jahre, aber wenn jemand es sich mit der Regierung verhaut, dann kann es hohe Strafen geben. Sie haben mich sechs Jahre lang gesucht und wussten gar nichts von mir. Also selbst einem Mörder würden sie keine 17 Jahre geben, aber sie haben mich halt gehasst und wollten mich hart bestrafen. Die Polizei und die Regierung hat mich gehasst, ich hab sie praktisch sechs Jahre lang verarscht.«
Wegen guter Führung und so weiter kam der Whiskeyräuber Attila Ambrus nach 13 Jahren frei.
Roland: »Du meintest mal, dass du es für 50 Millionen Forint nochmal mit Verbrechen probieren würdest.«
Attila: »Ja, aber Verbrecher zu sein ist kein leichter Beruf, heute würde ich das nicht mehr tun, 200 Millionen, Minimum (scherzelt). Aber ich bin zu alt dafür und ich habe Kinder, von daher.«
Jessica: »Was war das erste, das du gemacht hast, nachdem du aus dem Knast gekommen bist?«
Attila: »Ich hab jede Frau im Umkreis von einem Meter gefickt (lacht). Ich hatte ja 13 Jahre keinen Sex. Somit war es das erste, was ich gemacht habe, mich viel mit Frauen getroffen und Sex gehabt.«
Attila fragt, ob Roland jemals im Knast war. Roland sagt, er sei maximal harmlos. Attila fragt, ob Roland jemals was geklaut hat. Nein, nichts ernstes. Er schenkt uns Bier nach, er fordert uns auf, weiter zu trinken.
Wir trinken noch einen Shot.
Roland fragt, wo das »Tippi« ist.
Attila: Es ist eine Jurte, 500 Meter von hier entfernt. Meine Frau Réka hat sie errichtet, weil sie eine buddhistische Ausbildung gemacht hat und es wollte. In der Jurte meditiert sie gerne, und das ist ein Ort zum entspannen und um in sich zu kehren, und auch die Kinder sind dort gerne zum spielen et cetera. Auf dem Grund haben wir auch Apfelbäume, manchmal ernte ich zwei Tonnen Äpfel, das verarbeiten wir dann zu Apfelsaft und er ist auch Bio und alles. Dort ist auch ein Haus, in dessen Keller ich Alkohol, Wein und Schweinefleisch aufbewahre, weil ich auch ab und an Schweine schlachte und das Fleisch dann räuchere. Ich habe also viele verschieden Einkommen. Ich biete auch Ausflugstage, beziehungsweise Gruppenbildungstage für Firmen an. Die kommen und besuchen mich, ich backe Brot, grille Fleisch, wir gehen in die Jurte, ich halte Vorträge und wir trinken Palinka und machen Keramik. Es sind auch schon japanische Firmen gekommen, also von aller Welt eigentlich. Vor zwei Jahren ist mich Pfizer besuchen gekommen, da waren circa 40 Leute da, die haben sich allesamt in die Jurte gesetzt, es war lustig. Und das war kurz vor Corona. Sie haben einen Gruppenbildungstag gehabt, das machen Firmen um ihr Team stärker zusammen zu bringen. Ich werde auch öfters von Tesco besucht (Supermarkt). Und ich werde auch eingeladen zu Vorträgen, an Firmen, Motivationsvorträge. Ich rede auch viel darüber, wie ich mir nach dem Knast ein neues Leben aufgebaut habe und das interessiert viele. Und ich habe damit auch überhaupt kein Problem, ehrlich zu sein, meine Fehler zu offenbaren und darüber zu reden, was ich erlebt habe. Denn ich habe das alles nicht aus irgendwelchen Büchern gelernt, sondern das sind meine eigenen Erfahrungen und ich habe mir erfolgreich ein neues Leben aufgebaut und viel aus meinen Fehlern gelernt. Denn ich bin mit 30.000 Forint aus dem Knast gekommen, das sind circa 80 Euro, ich hatte also gar nichts und auch niemanden, der auf mich gewartet hätte. –
Also!«, sagt Attlia, »wollt ihr noch ein Bier oder sollen wir zur Jurte starten?«
Wir drucksen ein bisschen rum. Eigentlich ja voll super, beim Whiskeyräuber in der Jurte pennen. Kriegt man nicht alle Tage, so ’ne Einladung. Also stimmen wir zu. Attila: »Ich bestell euch noch Pizza! Und Cola. Und Bier.« Jessica weißt auf unseren Veganismus. »Oha«, sagt Attila, »ich dachte mir schon, dass Roland ein wenig dünn ist.«
Bis zum Eintreffen des Bringdienstes gluckern wir noch ein bisschen was weg und kaufen in er Keramikwerkstatt ein. Die Pizza geht aufs Haus, obwohl wir bezahlen wollen, und zack heißt’s ab in den Jeep. Attila fährt. Hier oben, in den Bergen von Esztergom, geht’s auch ohne Fahrerlaubnis. Den kurzen Weg lang kriegen wir von allen möglichen Leuten nett zugewinkt. Voll schön irgendwie hier. Im Schweinfleischkeller gibt’s zur Zeit keine Schweine, aber eine Flasche Demonerovka (oder so ähnlich). Die lassen wir rumgehen. Letzte Runde mit dem Whiskeyräuber! In der Jurte wohnt ein Gecko. Es gibt darin Peitschen, lustige Hüte und Kinderspielzeug. Wir verabschieden mit vielviel Danke von Attila Ambrus.
Voll in Ordnung, dieser Whiskeyräuber.
Ein waschechter Kavalier.
Interview: Jessica Kreiger und Roland van Oystern
Danke auch: Veronika Ronai (für die Vermittlung), Réka Ambrus (fürs Kutschieren vom Bahnhof und zurück), Julian Rubinstein (für die Kommunikationsbereitschaft und natürlich das Werk!), Rich Wilkes (fürs Rich Wilkes sein) und Thorsten Nagelschmidt (fürs aufmerksam machen auf die »Ballade«).
Anmerkung zum letzten Clip: Der Whiskeyräuber und Ganxsta Zolee auf dem Sziget Festival 2012. In einem Theaterstück über den Whiskyeräuber, das noch zur Zeit der Überfälle aufgeführt wurde, wurde Attila von Zana József Sándor, dem Papa von Ganxsta Zolee, gespielt. Attila selbst saß im Publikum und amüsierte sich bestens.