2017 – Ein neues Jahr vorbei

Jahresrückblick kaput: “Die ganze Welt rückt nach rechts. Ich muss da nicht mit”

2017, das erste Jahr Trump, keine WM, EM oder Olympia, eine Bundestagswahl, die gefühlt ohne Gewinner und vor allem ohne eine daraus resultierende Regierung auskam. Die ganz große Katastrophe (Atomkrieg) blieb aus – und das in 2016 so beklagte Massensterben von prominenten Musikern schraubte sich wieder auf das Normalmaß der Vergänglichkeit runter. Trotzdem: Es ist sauviel passiert. Die kaput-Autorinnen und -Autoren können etliche Liste dazu schreiben – und haben das auch getan.

 

 Katja Ruge
1.
 The Re-Opening of the Golden Pudel Club in Hamburg.
2.
The Closing of the Club Golem in Hamburg where I did my parties for almost 7 years. R.I.P.
3.  
At Sonar smiling at some older guy and then find out it`s Brian Eno.
4.
Arte Tracks did a story about my Ladyflash photo exhibition. 
5,  „Can Love Be Synth“
– Frank Husemann (Synthesizerstudio HH) and me finally had our first release on  a Compilation out on Bordello A Parigi. The video was made by the wonderful Blaenk Minds Crew in Berlin.

2

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Frank Spilker
Die Idee vom Böhmermann variiert: 2017. Die ganze Welt rückt nach rechts. Ich muss da nicht mit. Wenige sind so klarsichtig wie Father John Misty oder Max Müller. Das tut halt gut.
In diesem Sinn: „I have a penny for your thought – if you keep it for yourself.“

Platten:
– Father John Misty “Pure Comedy”
– LCD Soundsystem “American Dream”
– Mutter “Der Traum vom Anderssein”
– Timber Timbre “Sincerely, Future Pollution”

Filme / Serie:
– “Mindhunter”
– “BoJack Horseman”
– “Fargo”
– “Ozark”

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Thomas Venker
Man mag es angesichts all dessen, was in der Welt um uns herum absurdes und abstoßendes im vergangen Jahr geschehen ist, kaum in dieser Simplizität konstatieren wollen: aber 2017 war ein extrem gutes Jahr, was die Musik angeht. So gut, dass die Reduzierung all der stimulierenden Veröffentlichungen und Auftritte in eine Top 5 natürlich eine Zumutung ist, aber so sind die Regeln nun mal hier bei kaput.
Kleiner Tip aber für all jene, die auf endlose Listen stehen. Der Kurator und Musikjournalist Martin Hossbach pflegt eine leidenschaftliche Long-List, in der sich viel entdecken lässt.
An dieser Stelle aber meine hart verkürzten Charts.

Alben
Princess Nokia „1992 Deluxe“
Honey Dijon „The Best Of Both Worlds“
Errorsmith „Superlative Fatigue“
Nicola Ratti „The Collection“
Jlin „Black Origami“

Songs
Cologne Tape „B1 Welt 3 (Magazine Edit)“ / „Welt 4“ (generell die gesamte „Welt“, aber die Alben sind ja schon voll)
DJ Richard „Path of Ruin“
Liima „Life is Dangerous“
Helena Hauff „Nothing Is What I Know“
Nick Höppner „All By Themselves (My Belle)“

Musik in Raum und Zeit
Midori Takada beim Flow Festival in Helsinki
Christopher Street Day im Berghain mit Ben Klock, Courtesy, Lena Willikens, Relaxer, I-F, Kim Ann Foxman
Yves Tumor beim Resonate Festival in Belgrad
Andrew Weatherall zum Sonar im Moog in Barcelona
– Das Abschlussset des Primavera Festivals von Dj Dustin – überhaupt war das Primavera wieder eine irre Karusellfahrt mit beeindruckenden Auftritten von Grace Jones, Royal Trux, Gas und so vielen mehr.

Persönliche Momente 2017
– Die wunderbare Nachricht, dass mein Freund Martin aus seiner OP bei klarem Bewusstsein und mit einem Lächeln im Gesicht aufgewacht ist.
– Zu wissen, dass man die besten Freunde hat. Freunde, die einem zur Seite stehen die eigenen Träume zu leben. Freunde, die einem helfen, wenn die Dinge mal nicht so gut laufen.
– Mit dem Phantom Kino Ballett einen unvergessliche Herbst in Japan verbracht haben zu dürfen – überhaupt das große Privileg so eng am künstlerischen Prozes von Sarah und Lena dran sein zu dürfen.
– Es ist ein Kalauer zwischen Linus Volkmann und mir, dass ich seit dem wir uns kennen immer am Ende eines Jahres verlauten lasse, dass es das erstmal mit Reisen gewesen sei. Und da man mit guten Traditionen nicht brechen soll, will ich auch jetzt, im Aftermath von fünf rastlosen Monaten, die mich unter anderem nach China, die Usa (wo ich gemeinsam mit dem New Yorker Fotografen Jonathan Forsythe das Land von der Ost- zur Westküste in der Tradition von Studs Terkel durchreist habe) und wie erwähnt Japan gebracht haben, kokett vom Ende meiner Reisesehnsucht sprechen. Aber es ist ja sowieso nicht nur die Sehnsucht, die einen hinaus trägt, sondern vielmehr das Wissen, dass ein Leben mit Kultur nur auf der Straße stattfinden kann. Denn nur dort findet man die Menschen, ihre Geschichten und Artefakte. Insofern: mal sehen, was 2018 an Überrasschungen bietet. Ich bin jedenfalls sehr dankbar für all diese Gelegenheiten. Um es mit Inner City zu sagen: Good Life.
– Das Institut für Populäre Musik der Folkwang Universität der Künste: ein wahnsinnig tolles Labor – für die Musiker_innen, die bei uns studieren, aber auch für uns Lehrende.
Chart – Notes to Consider. Es bedurfte einer Nicht-Verlegers, um mir nach langer Zeit endlich mal wieder das Gefühl zu schenken, jemand zu begegnen, der so richtig Lust hat ein Magazin zu verlegen und sich wissbegierig und neugierig in alle Belänge mit reinbegibt und so Rahmenbedingungen schafft, die in der Abwärtspiralle des Medienbetriebs kaum mehr gekannt werden: faire Honorare, Luft um mit Autor_innen und Fotograf_innen Stories angemesen zu entwickeln und umzusetzen sowie diskursive und produktive interne redaktionelle Abläufe. Die erste Ausgabe trug den Titel „Silence“, die zweite wird „Torture“ zum Thema haben.
– Last but not least: Kaput. Ein weiteres unheimlich stimulierendes Jahr mit kaputen Geist.

Misstöne 2017
– Ein Neandertaler names Konstantin. Jedes weitere Wort wäre zu viel.
– Jener Moment, als sich die eh schon oft unerträgliche Atmosphäre der Selbstzufriendheit und Besserwisserei, die das Internet (und allen Orte voran Facebook ) so oft auszeichnet, plötzlich völlig außer Kontrolle geriet und alle die FDP dafür abstraften, dass sie die Große Koalition zum Scheitern gebracht hat, wo es doch ihre Staatstragende Aufgabe gewesen sei diese im Interesse des Landes mit zu tragen – nicht dass wir uns missverstehen: ich hege weder aktuell, noch habe ich dies je getan Sympathie für die FDP: Aber seit wann gilt denn bitteschön das Credo, man müsse im Interesse Deutschlands handeln in unserem Milieu?
Bitcoins Mania: Und plötzlich wollen alle Spekulieren. Oder nein, wollen sie nicht. Plötzlich wollen alle die sichere Rendite. Galt es nicht mal als obszön, sich an dem reinen Geldspiel zu beteiligen? Nennt mich naiv, aber irgendwie ist das doch nicht anderes und besseres, als wenn man in die stabilen Aktien von Bayer und Daimler investiert. Blood on the Dancefloor.
– Apropo: Geht es noch? Am 24. November 2017 widmete die Musikexpress-Redaktion dem Kraftklub Musiker Till Brummer eine News, für die sie die Bild-Zeitung, die wie der Musikexpress im Springer-Imperium erscheint, sowie die Staatsanwaltschaft Chemnitz zitierten. Schon das fühlte sich ungut an. Aber richtig unangenehm wurde es in den Kommentaren der Leser_innen. Soviel kleinbürgerliche Spießigkeit und Moralheuchelei wegen ein bisschen Crystal Meth. Ich hoffe Till Brummer hat erstmal Jan Delays „Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt!“ aufgelegt. Ich will hier jetzt sicherlich keine Bresche für Crystal Meth schlagen, aber es wäre schon angenehm, wenn man das Till Brummers Sache sein lässt und sich nicht als reaktionäres Arschloch bloßstellt.

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Sebastian Ingenhoff

– Buch: Zadie Smith “Swing Time”
– Spielfilm: “Blade Runner 2049”“Personal Shopper”
– Dokumentarfilm: “Parallel Planes” von Nicole Wegner 
– Album: James Holden & The Animal Spirits “The Animal Spirits”
– Konzert: Sega Bodega

 

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Christina Mohr

Alben:
– Sophia Kennedy
“Sophia Kennedy”
– Christiane Rösinger “Liebe ohne Leiden”
– Cherry Glazerr “Apocalipstick”
– Laurel Halo “Dust”
– Ibeyi “Ash”

Songs:
– Beth Ditto “Fire”
– Blondie “Long Time”
– Christiane Rösinger “Eigentumswohnung”
– Downtown Boys “A Wall”
– Lauter Bäumen “Streichle die Katze”

Bücher:
Virginie Despentes “Vernon Subutex”
Robert Forster “Grant & I”
Simon Reynolds “Glam!”
Christiane Rösinger “Zukunft machen wir später”
Guibert/Boutavant “Ariol #7”

 Serien
– “Twin Peaks Season III”

 

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Bianca Xenia Jankovska
Was ich noch sagen wollte: manchmal zieh ich mir lieber vorhersehbaren und in seiner Ausführung perfekt produzierten Indie rein, statt mir ein „experimentelles“ Album Marke Future zu kaufen.
– Auch auf ihrer dritten Platte „Popular Manipulations“ haben The Districts genau das beibehalten, was vergleichbaren Bands im Laufe ihrer Karriere verloren gegangen ist: verzerrte Gitarren und hallende Vocals zum Beispiel.
– Neuentdeckungen: Kelly Lee Owens mit einem self-titled Album, das mit seinem mechanischen Puls genauso zum Spagetti-Essen wie zum Rummachen in der ersten eigenen Wohnung passt.
– Auf Heavy Rotation hatte ich 2017 auf jeden Fall Big Thief mit ihrem Indie-Folk-Album „Capacity“. Wer beim Track „Watering“ nichts spürt, hat kein Herz.
– Das wird noch groß: Lea Porcelain haben auf ihrem Album “Hymns To The Night“ den passenden Track zu dem Moment veröffentlicht, in dem man im strömenden Regen an der Warschauer Straße Richtung S-Bahn läuft und an den Exfreund denkt, mit dem man zum ersten Mal in Berlin war.
– Wo war eigentlich SZA mein ganzes Leben lang? Dass Solana Rowe schon mit Beyoncé und Rihanna gearbeitet hat, merkt man nicht nur ihrem catchy Sound an – einer Mischung aus Chillwave-Vocals, Glitter-Trap und Indie-R’n’B – sondern auch ihrer sassy Ex-Sportlerinnen-Attitüde an.
– Underrated war abseits des Atonal-Festivals mal wieder die Creme de la Creme der diesjährigen Noise-Veröffentlichungen. GAS mit „Narkopop“ zum Beispiel. Auf höchstem Niveau klassisch narkotisch wummern kann er, der Wolferl. Glückwunsch nochmal!

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Mario Lasar
1. The Clientele “Music For The Age Of Miracles”
2. Aldous Harding “Party”
3. Lauter Bäumen: “Mieser in den Miesen”
4. Charlotte Gainsbourg: “Rest”
5. The Jesus & Mary Chain: “Damage And Joy”

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Abel Auer
Charles Manson ist dieses Jahr gestorben – und niemand hat darüber geschrieben, dass er doch ein großartiger Songwriter war, daher sei an dieser Stelle nochmals daran erinnert.
– Apropos American Musik und Politik: das Zeitaltalter der amerikanisch und englischen Kulturhegemonie scheint vorbei zu sein,  Rock und auch der ewige Postpunk sind mittlerweile sehr “diverse” geworden. Hier einige  Beispiele, die das belegen.
Zum Beispiel Fanny Kaplan aus Russland, deren Konzert im Frühjahr eines der  Besten war. Eine musikalisch interessantere Gruppe als Pussy Riout, lieber Kuratoren des Haus der Kulturen der Welt.
– Oder auch Olimpia Splendid aus Helsinki, Zayk aus der Schweiz, die Münchner Damenkappelle und Tôle Froide  aus Lyon, von denen einige Mitglieder auch für KCIDY verantwortlich sind. Alles super Musik und nicht interessant wegen irgendeinem Zeitgeistthema. Panties from Hell…

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Oliver Tepel
Der Charme des Selbstbetrugs. Ich kenne das aus dem Second-Hand-Plattenstapel: irgendwas muss dabei sein, was ich wirklich haben will. Und ist diese eine Platte gefunden, packe ich noch die ein oder andere etwas leichtfertig hinzu, es gibt ja Mengenrabatt. Um ehrlich zu sein, so habe ich auch seit langem meine Jahrescharts gebastelt. Dieses Jahr war für mich leider keine Musik dabei, nichts begeisterte mich wirklich. Seems I’ve got no roots. Aber ich habe ein paar Ausstellungen gesehen.

– Balenciaga, “l’oeuvre au noir”, Musée Bourdelle, Paris
Die schwarzen Kleider und Mäntel, welche von den 40ern bis zu den späten 60ern aus die Kollektionen Cristóbal Balenciagas krönten, inmitten der dramatischen, zum Teil monumentalen Skulpturen des Klassizisten und Frühmodernen Antoine Bourdelle, in dessen ehemaligem Atelier, Lager und Garten. Die Eleganz der Furcht, das schwarzeste Schwarz.
– “Golem! Avatars d’une légende d’argile”, Musée d’art et d’histoire du ‎Judaïsme, Paris
Die Geschichte des vom Wort belebten Freundes, ein schweigender Helfer in der Not, als Mythos, Superheld, Souvenir und Vision einer besseren Zukunft.
– “Comics! Mangas!Graphic Novels!”, Bundeskunsthalle, Bonn
Die Faszination des wahren “Grafischen Kabinetts” des 20. Jahrhunderts. Still und aufmerksam staunten die Besucher.
– “Game, le jeu vidéo à travers le temps”, Espace Fondation EDF, Paris
Die Faszination der neuen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Ausstellung, gleich einem sozialen Experiment.

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Britta Tekotte
 2017 barg für mich einige unerwartete und gleichzeitig wundervolle Überraschungen: neue fantastische Begegnungen – beim wandern, durchs schreiben, durchs musizieren, beim Mauerbier oder Tanken-Jägi –, neue Projekte in Kollaboration sowie daheim-allein, tollste Unterstützung meiner fantastischen Eltern sowie meiner fantastischen langjährigen und neuen Freunde. Und Sebastian, dieses liebenswerte, kluge, facettenreiche, gewitzte Feen-Wesen. Und wenn sein neuer Roman schon endlich veröffentlicht wäre, stünde der auch in meinen Jahrescharts. Und das so objektiv-subjektiv wie ich nur sein kann, denn als ich die erste Rohfassung im Sommer las, war ich wahrscheinlich strenger als wenn es von irgendwem gewesen wäre – ehrlich gesagt hing davon sogar stark meine Sympathie ab (‚Shit, wenn ich das jetzt lese und nur irgendwas davon lasch, dusslig oder verkehrt finde, kann ich den Typen nicht mehr gut finden.’). Glück gehabt. Alles in allem: definitiv eins meiner Lieblingsjahre.

1. Perfume Genius
live, c/o pop, Kulturkirche: auf der Bühne unfassbar zum staunen
2. Robert Wilson’s “Der Sandmann”, Ruhrfestspiel Recklinghausen, D’haus: perfektes Zusammenspiel von dichter Interpretation von E. T. A. Hoffmann’s Erzählung, bombastischer Musik und Bildgewalt.
3. Shabazz Palaces Doppelalbum “Quazarz: Born on a Gangster Star” / “Quazarz vs. The Jealous Machines”: reißt einfach aus allem raus.
4. Elena Ferrante “Die Geschichte der getrennten Wege”: inspirierender Schreibstil, fantastische Übersetzung von Karin Krieger.
5. “Dark”, Fernsehserie von Baran bo Odar: absolut top für Fans von Freud’s “Das Unheimliche” und Zeitmessungsskeptiker.

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Peter Abs

Alben:
Klein “Tommy”
Phew “Voice Hardcore”
Jlin “Black Origami”
Ryuichi Sakamoto “Async”
Amos And Sara “Amos And Sara Sing The Private World Of Amos”

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Florian Kölsch

Alben:

Fleet Foxes “Crack-Up”
Befürchtungen, die Fleet Foxes würden bei ihrem Majorlabel-Debut einen Folk-Sellout à la Mumford & Sons etc. abliefern, wurden bereits mit der Vorab-Single „Third Of May / Odaigahara“ abgewandt. Gott sei Dank! Ein fast neun Minuten langer Longtrack mit einem free-jazzigen zweiten Teil, der fordert, gleichsam erfreut – und auch das Zetrum des Albums „Crack-Up“ darstellt. Auf eben jener dritten Platte führt das Projekt von Robin Pecknold die bereits auf dem Vorgänger „Helpnessless Blues“ stark ausgeprägte Entwicklung hin zu komplexeren Songstrukturen, fließenden Übergängen zwischen Songs und textlichen Leitmotiven weiter. Sicherlich das am schwierigsten zugängliche Album im bandeigenen Oeuvre: Prog-Folk trifft Stream of Consciousness. Das ist erstmal sperrig, wenn man aber einsteigt auch enorm belohnend.

Dirty Projectors “Dirty Projectors”
Auf Kaput schrieb ich bereits meine Emotionen, die dieses im besten Sinne unvergleichliche Album in mir auslösten, nieder. Dave Longstreth entdeckt Vocoder und RnB-Beats für sich, bereichert seine weirden Indie-Songs nun durch Autotune und vertrackte Glitch-Beats. Nichts weniger als ein Meisterwerk.

Lorde “Melodrama”
Ich würde lügen, würde ich sagen, dass ich immer ein Fan von Lorde gewesen wäre. „Royals“ ging mir damals, 2013, super auf die Nerven, die blutjunge Neuseeländerin erreichte mich damals einfach nicht. Wer da wohl noch zu unreif war? 2017 hingegen holte mich Lorde voll ab; sie sagte „I’m 19 and I’m on fire“ und ich brannte für sie. Jeder Song auf „Melodrama“ ist ein Hit. „Sober“, „Perfect Places“, „The Louvre“, you name it. Und dann wäre da natürlich noch der Albumauftakt „Green Light“, mein Song des Jahres (s.u.), ein Welthit sondersgleichen. „Melodrama“ ist nicht weniger als DAS Pop-Statement des Jahres – und Lorde die neue Genreikone. Da kann Taylor mit ihrem „reputation“ nur müde hinterherschauen.

The War on Drugs “A Deeper Understanding”
Das Lieblingsalbum von dir und deinem Vater. Hier macht Springsteen einen auf Shoegazer während Dylan an der Beatmaschine steht. Mastermind Adam Graduciel nimmt sich 80er Jahre Classic Rock und überträgt ihn in unsere Zeit. Das Kunststück daran: Es klingt nicht gestrig, das Rezept wird lediglich upgedated – ohne dabei den wohligen Comfort-Fakter des Dad-Rocks einzubüßen. Songs wie „Holding On“ erinnern an den richtigen Stellen an die Väter im Geiste (Petty, Springsteen), ohne wie Kopien zu klingen. „A Deeper Understanding“ – ein Album für Sinnsuchende, Nostalgiker mit Momenten zum Tanzen und auch Schmusen.

Wandl “It’s All Good Tho”
Von St. Pölten in die weite Welt: Das, was Lukas Wandl, ein junger Österreicher in seinen frühen Zwanzigern, macht, mäandert irgendwo zwischen Trap, Neo Soul und Soundscapes à la Flying Lotus. Dieses Jahr holte der Niederösterreicher dann seine Beats aus dem hauseigenen Keller (hehe), sammelte sie auf einer Platte und nannte das ganze „It’s All Good Tho“. Darauf singt er von Drogenkonsum, Sex und Einsamkeit, aber auch einfach mal von „Cola“ oder auch Toast. Ein deepes Album für deepe Menschen.

Songs:

The War on Drugs “Pain”
Diese Mischung aus Classic Rock, Noise und Shoegaze holt mich dermaßen ab, dass ich mich diesem Lied nur selten entziehen kann. Sicherlich mein meistgehörter Song des Jahres.

Lorde “Green Light”
Oh Lorde: Ein Großteil der 97 Millionen Aufrufe des „Green Light“-Videos stammt von mir.

Charlotte Gainsbourg “Rest”
Charlotte Gainsbourg hatte die supergute Idee sich für ihr neues Album Guy-Manuel de Homem-Christo von Daft Punk ins Boot zu holen. Für die Leadsingle „Rest“ stellte er Gainsbourg einen Beat bereit, der in seiner Art und Weise stark an den Daft Punk-Song „Veridis Quo“ vom Jahrzehntalbum „Discovery“ (2001) erinnert – eine meiner liebsten Platten. Faszinierend ist ebenfalls, dass sich der immens klischeehaft dahingehauchte Gesang der Französin Gainsbourg nicht so wirklich abzunutzen scheint. Ihr French Chic währt ewig. Muss am Namen liegen.

The National “The System Only Dreams in Total Darkness”
Nach wie vor viel Liebe für diese Band. „Sleep Well Beast“ ist wieder eine sehr gute Platte geworden, den leicht veränderten Sound hieß ich sehr willkommen. Besonders toll hier: Das krachige Gitarrenspiel.

King Krule “Dum Surfer”
Das was der rothaarige Sadboy Archy Marshall aka Edgar the Beatmaker aka King Krule hier abliefert ist irgendwie 00er Indie-Rock gepaart mit Free Jazz gepaart mit UK Downbeat. Etwas Spannenderes als „The Ooz“ hat man dieses Jahr nicht gehört. Und der enorme Wiedererkennungswert der Musik des immer noch jungen Archy liegt nicht nur an seiner Stimme.

Konzerte:
Grizzly Bear @ Huxleys Neue Welt, Berlin
Deafheaven @ Kesselhaus, Wiesbaden
Voodoo Jürgens @ Rabenhof Theater, Wien
Arcade Fire @ Tanzbrunnen, Köln
(Sandy) Alex G @ schon schön, Mainz

Filme:
“Die beste aller Welten” (Regie: Adrian Goiginger)
“Hell or High Water”(Regie: David Mackenzie)
“Baby Driver” (Regie: Edgar Wright)
“Jim & Andy” (Regie: Chris Smith)
“Good Time” (Regie: Safdie Brothers)

Enttäuschungen:
Arcade Fires „Everything Now“
Die Veröffentlichung auf die ich mich dieses Jahr am meisten freute, und die mich dann am meisten frustriert hat. Auf vier sehr gute bis perfekte Alben folgte mit „Everything Now“ das erste schwache Album: Uninspirierte Rockschicken wie „Chemistry“ oder das harmlose „Good God Damn“ stehen hier im Glied mit dem redundanten Doppelsong „Infinite Content“ bzw. „Infinite_Content“ – seinerseits der Tiefpunkt dieser Platte. Konsumkritik wird hier in die hinterletzte Reihe gebrüllt – mit Holzhammerphrasen. Selbst das wunderbare „Electric Blue“ oder die tolle Leadsingle „Everything Now“ können dieses ansonsten sehr mittelmäßige Album nicht retten.

Taylor Swifts „reputation“
Ich beichte: Von Taylor Swifts „1989“ war und bin ich Riesenfan. Selten wurde ein perfekteres Popalbum veröffentlicht, selten gab es eine höhere Hitdichte auf einer Platte als auf dieser. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an den Nachfolger „reputation“. Spoiler: Sie wurden nicht erfüllt. Wenige Songs können diese hohe Messlatte mitgehen („Call it what you want“ oder „New Year’s Day“ z.B.), der Rest des Songkollektivs ist oft zu überproduziert, kommt zu gewollt daher. Die eigene „reputation“ will wohl zu sehr verteidigt werden, als dass man sich auf das Songwriting fokussiert.

Tourabsage von Bon Iver
Dass eine Tour abgesagt wird, kann immer passieren. Traurig war es trotzdem allemal – und beim Hören der (wirklich wundervollen) Alben des Justin Vernon aus Wisconsin schwingt nur immer diese bittersüße Note der spontanen Tourneeabsage mit. Schade!

Bücher
Robert Menasse “Die Hauptstadt” (Suhrkamp)
Hendrik Otremba “Über uns der Schaum” (Verbrecher)
Oskar Roehler “Selbstverfickung” (Ullstein)

Serien
“Better Call Saul”
“Das Verschwinden”
“Fargo”

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Julian Gerhard

Jede Jahresrückblickshow braucht diese düsteren Momente – das Studiolicht wird runtergefahren,
der Moderator beißt sich auf die Unterlippe und erinnert dann, um Fassung bemüht, noch einmal an
ein besonders tragisches Geschehnis. Das Niveau von Tim Bendzkos Vorjahres-Nervhit „Maschine“
wurde mit diesem omnipräsenten „Ich brauch’ frische Luft (…) Nehm’ meine Jacke und lauf’
einfach los“ noch einmal unterkellert und ich bin langsam müde, zu lethargisch um zu kotzen oder
zumindest den Namen des Typen der dahinter steht zu googlen und mir eine halbwegs gute Pointe
oder Verleumdung auszudenken. Jetzt aber wieder zurück zu den guten Momenten der Verkaufs- und
„Indiecharts“ 2017 – präsentiert von jemanden, den wir verdient haben: Bernhard Hoëcker.

MGMT “My Little Dark Age”

RIN “Bass”

Danny Brown “Ain’t It Funny”

Das Paradies “Goldene Zukunft”

John Maus “Teenage Witch”

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Saskia Timm

#metoo
Nicht nur nachdem das Times Magazin #metoo zur „Person of the Year“ kürte, dürfte auch der letzte Depp oder Eierkratzmacho nicht mehr drum herum kommen einzusehen, dass Feminismus doch mehr ist als ein „Trend“ (und von frustrierten „Femnazis“ ausgeübt wird) um das starke, das schöne, das mächtige Geschlecht zu knechten, dass es eventuell doch etwas mehr ist also eine Art nervende Fliege, die man wegwedeln kann oder die irgendwann von selbst schon wieder den Weg aus dem Fenster findet. Von der schwarzarbeitenden asiatischen Aushilfskellnerin bis zur angesehenen, hochdotierten amerikanischen Schauspielerin, von der Parlamentsabgeordneten bis zur Kassiererin im Laden neben an – fast jede von Ihnen hat und hatte Geschichten zu erzählen, frei von Scham, voll von Wut und solidarisch untereinander. Alpha-Männer fallen wie Dominosteine, fast jeden Tag kommt eine neue schaurige Geschichte ans Licht über Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe, Bloßstellungen und Entwertungen, nicht selten gefolgt von Drohungen, wenn man denn wagen würde etwas zu erzählen, DANN ABER!… Damit ist jetzt Schluss, Ende, Aus. Wir sind viele, wir schweigen nicht, wir hören zu, wir helfen. Es wird ein langer, weiter Weg, aber der Wagen rollt. Und für das Patriachat und Mackertypen heißt es nun: bitte anschnallen, Extrarunde! PS: und die Hände künftig bitte über der Decke lassen (bzw. an den eigenen Körperteilen).

Abhauen
Sad but true, dieses Jahr war es das erst Mal, dass ich länger als gewohnt weg war, fast 4 Wochen. Peinlich eigentlich, wenn man bedenkt, dass jede/r 20-jährige/r sich nach dem Abi erstmal in ein Ashram oder sowas verkrümelt, in Australien von Farm zu Farm tramped oder sich beim Interrail ein Jahr lang nicht so doll um Körperhygiene kümmert. Aber mit einem 40 Stunden Job und relativ straffer Freizeit bleibt da oftmals nicht viel über um das schöne Leben zu kosten. Aber: auch wenn ich heute ab und an hochschrecke im Schlaf und mein Kontoauszug wie eine Isis-Fahne vor meinem inneren Auge weht: wegfahren, abhauen, sich verpieseln, Ciao sagen, den Abmarsch machen, etc. ist das Beste was ein Mensch für sich tun kann. Nichts erfrischt und beglückt die Seele, das Gemüt, das Herz mehr als dieses sogenannte Deutschland so oft wie möglich zu verlassen und die Augen der Schönheit des Fremden und Neuen gegenüber zu öffnen. Entscheidungen zu fällen wird plötzlich ganz leicht, man wird mutiger, entspannter und eine wunderbare LMAA Haltung löst den klemmigen, am Handy hängenden, zynisch-gestressten Alltagstypus ab. Der super 345 Zoll LED 3D Fernseher und das tolle neue Auto gehen irgendwann unweigerlich in den Arsch… Den Anblick des kleinen, versteckten Wasserfalls, den man ganz alleine zu Zufall im Yosemite Park gefunden hat oder den der kreischenden Seemöwen die sich gegen einen blutroten Himmel abzeichnen, während man von warmen Wind an einem kalifornischen Strand umweht wird, nimmt man mit ins Grab.

The Breeders
Häh? Die gibt’s noch? Ja, klar gibt’s die noch. Kriegt nur kein Schwanz mehr mit! So war ich ganz ‚stunned‘, als es wie aus dem Nichts eine neue Single gab und kurz darauf Facebook allen Ernstes sagte, The Breeders würden in Berlin spielen. Kurzfassung: so leicht, so fröhlich, so EXCITED war ich ewig nicht mehr auf einem Konzert, schon garnicht wenn man mit der Band eigentlich schon längst nicht mehr gerechnet hat. Gefühlt 75% Frauenanteil, kein Geschubse oder drängeln, ein paar ältere Typen und Ladies die gemütlich Ihren Krümeltabak in zerfledderten Indieband-Longsleeves wegbarzten, die wunderbaren Deal-Schwestern (plus Rest in Originalbesetzung, eine bockstarke Setlist, kleine Improvisationen: das alles war so unfassbar sympathisch, unanstrengend und overnice, dass dieses kleine Konzert prompt zu einem Highlight des Jahres wurde. Und meine Begleitung und ich uns das Grinsen 2 Tage später noch mit einem Meissel aus der Fresse hauen mussten (was sicherlich auch daran lag, dass wir Kim Deal noch am Merchstand trafen und nervös wie kleine Kätzchen um ein Foto baten – und bekamen!).

sas

#Stuttgart
Dank der eisernen Knute des VV-Regimes (Volkmann / Venker) ist es ja nur gestattet eine schmale Top 5 zusammenzuhauen. Na danke! Zum Glück oder hahaha, kam mir da Kollege Krach zuvor und hatte FAST genau meine Idee, die ich ihm daher einfach klaue (siehe LINK!): einfach mal n paar Leute abhudeln die sich grob zusammenfassen lassen unter: „die Stuttgarter“. Selbstverständlich ist der Begriff nicht korrekt und teils obsolet (vergl. Hamburger Schule), aber auch 2017 kam so schnell so unfassbar viel hochwertiger und spannender Scheiß von dem Mob, daß es eine reine Freude war. Platten, Singles, Konzerte oder Projekte von Bands bzw. Mitgliedern von Die Nerven, Karies, Wolf Mountains, All Diese Gewalt, Levin Goes Lightly and whatnot, waren stets ein Highlight und wurden immer anstandslos begeistert aufgenommen und instantly geliebt. Herausragend hierbei das All Diese Gewalt / Levin Goes Lightly Konzert im Hamburger Westwerk. Problem an der Geschichte: vor lauter Freude bin ich meist immer relativ schnell und doll blau wenn mal eine Veranstaltung ansteht, daher möchte ich mich hiermit offiziell noch mal bei allen Betroffenen entschuldigen. ICH BIN HALT FAN, EY!

#Hey Du / 1993
Längere Geschichte, aber auch alte Geschichte. Wird ja wohl nochmal gesagt werden dürfen, aber: Tocos sind halt die Besten! Für immer („Doro“)! Ja nanu, da war ja plötzlich AUCH eine Single, quasi wie bei den Breeders, quasi aus dem Nichts und quasi back to the roots nach dem (zauberhaften!) ‚roten Album‘. Und dann war da die Rede von irgendwas mit erstmals autobiografisch. Spannend! Ich kann es offen zugeben, der erste Durchlauf der 7“ erfolgte in der U2, morgens um acht im Berufsverkehr. Dachte ich so: och. Hörte dann 1-2 Tage später nochmal rein und dachte so: Och joah. Nachdem dritten Versuch dann endloses Dudeln, die ganze Nacht Seite a, Seite b, Seite a, Seite b, große Freude, großer Durst. Gehe seit nun mehr 3 Wochen mit dem Satz „die Haare im Gesicht, der Wind von Altona“ (‚1993‘) ins Bett und aus dem Bett wieder hinaus. Und wenn man dann seine neue Platte auch noch ganz unprätentiös „Die Unendlichkeit“ nennt, dann weiß ich: hier bin ich zu Hause. Und 2018 kann garnicht so schlecht werden, egal was da so kommt, weil von Lowtzow, Müller, Zank und McPhail alles wieder gut machen werden was schief läuft. This Girl is Tocotronic!

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Lisa Schmidt-Herzog

Jahresrückblicke sind ein tolles Unterfangen – ich wiederhole und ergänze: ein ganz ganz tolles Unterfangen. Sie zu schreiben, macht mir immer wieder bewusst, von welch bemerkenswerter Ereignislosigkeit das eigene Leben geküsst ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, wäre ich überzeugt davon, die letzten zwölf Monate im Bett verbracht zu haben. Ohne Musik, Bücher, Filme und Facebook versteht sich. Wenn ich dann aber einen mutigen Scroll durch meine diversen Feeds wage, stelle ich erleichtert fest, dass dem ja doch nicht so sein kann. Auch in diesem Jahr habe ich offenbar Bücher gelesen, Musik gehört, Filme gesehen und Ausstellungen und Theatervorführungen besucht. Glück gehabt. Sogar in eine Oper bin ich gefallen. Für ein paar tafelfertige Serviervorschläge reicht es also aus, so here we go:

(Musik) Die Sterne “Mach’s besser”

Die Sterne feiern in 2017 ihren 25. Geburtstag! Sie sind so groß geworden, groß und stark und liebenswürdig, und zur Feier des Jahres hat sich die Himmelskörperkapelle was sehr Feines ausgedacht. Anstelle eines „Best of“-Albums, das ja eh immer scheiße ist – weil voll langweilig – wird das Repertoire der Hamburger auf „Mach’s besser“ stattdessen von 23 Friends und Kompagnons rausgeschmettert. Das ist sehr bezaubernd, weil sich die gesamte Mann- und Frauschaft so arg Mühe gibt, dass es einem die Herzlichkeit schnurstracks unter die Haut krabbelt. Von dort aus wandert der Flow aber gleich weiter ins Tanzbein, z.B. mit Björn Betons „Depressionen aus der Hölle“. Ansonsten erwiesen den Freundschaftsdienst ebenso: Stereo Total, Isolation Berlin, Peter Licht, Kreisky, Egotronic, Der Bürgermeister der Nacht, Fehlfarben u.a.. Cover me neatly <3

Was sonst noch schön war an neuer Musik: At The Drive In “In-ter a-li-a”, Der Ringer “Soft Kill”, Maurice und die Familie Summen “Bmerica”, FJAAK “FJAAK”, Björk “Utopia”, Hercules & Love Affair “Omnion”, Grandbrothers “Open”, Andreas Dorau “Die Liebe und der Ärger der Anderen”

(Buch) Diedrich Diederichsen “Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste”

„Diedrich Diederichsen, wir lieben dich/ Aber deine Texte verstehen wir nicht/ Sie sind so introvertiert und originell/ Wir kaufen sie und stellen sie ins Büchergestell“, sangen Saalschutz mal vor 13 Jahren. Stimmt auch, haha. Manche Dinge ändern sich nie. Wer sich trotz vermeintlich intellektueller Hürden für Kunst seit den 60ern und ihre „nachpopuläre“ Machart interessiert, der wage doch den Sprung in Diederichsens literarischen White Cube. „Nachpopulär“ deshalb, weil die Entstehung neuer technischer Klang- und Bildaufzeichnungseffekte für ein Sterben der tradierten Unterscheidung in E- und U-Kultur gesorgt habe. Daraus ergaben sich nach Diederichsen gleichsam ästhetische Veränderungen unserer visuellen Kultur. Eine These lautet: Immer seltener sind Lust und Unlust Thema der Kunst (ob im Film, Theater oder in der Musik), immer häufiger treten Sex und Gewalt an ihre Stelle. Stellenweise streitbar, aber gepflegtes Streiten ist Kulturtechnik.

Was sonst noch schön war und mit Buchstaben: Didier Eribon “Rückkehr nach Reims”, Tristan Garcia “Das intensive Leben. Eine moderne Obsession” Almut Klotz “Fotzenfenderschweine”, Hendrik Otremba “Über uns der Schaum”, Studio Braun “Drei Farben Braun”

(Bühnenkunst) Mondparsifal Beta 9-23

So, jetzt die angekündigte Oper. Wenn man noch niemals einen Fuß in eine solche gesetzt hat, ist der „Mondparsifal Beta 9-23“ von Jonathan Meese vielleicht nicht das ultimative Lehrstück, aber: Von den Bayreuther Festspielen exkommuniziert werden, leidenschaftlichen Wagnerianer-Hass auf sich ziehen und den alten Antisemiten derbe durch den Kakao ziehen waren der Gründe genug, einen kräftigen Atemzug Hochkultur zu inhalieren (die es ja laut Diederichsen gar nicht mehr gibt, mh ja). Komponiert von Bernhard Lang und dirigiert von Simone Young schlug das Stück teils sogar recht starken Kurs auf klassische Wagnerinszenierungen ein (habe ich mir sagen lassen), verarschte sie aber gleichzeitig kolossal. Dazu Spongebob, Mangamädchen, prall ausgefüllte Adidas-Anzüge und das Abbild von Meeses Mutti als gigantisches Ei im Becher. Mitreden, wenn’s um Oper geht, kann ich durch diese Erfahrung nicht, dafür wache ich manchmal in der Nacht auf, weil mir ein verkündigendes „HE HO“ in den Ohren klingelt. Gurnemanz, bist du’s?

(Ausstellung) Singular/Plural. Kollaborationen in der Post-Pop-Polit-Arena in der Kunsthalle Düsseldorf Großausstellungen, Jubiläen, Retrospektiven, Geburts- oder Todestag: In der Kunst gibt’s ja immer was zu feiern. Aber das „Superkunstjahr“ 2017 – so nennt man das jetzt – hat natürlich in Sachen Kulturpomp alle vorangegangenen Semikunstjahre vollkommen platt gemacht. In die Bestandsaufnahme gehören Doppeldocumenta, Biennale Venezia und Skulpturprojekte, aber es ging auch eine Nummer kleiner, z.B. in der Düsseldorfer Kunsthalle, die zum 50-Jährigen eine schöne Ausstellung mit schlimmem Titel auf die Beine gestellt hat. Diese war sehr witzig und bunt, esoterisch, politisch und vom Geist einer Szene getragen, die sich im Nachgang der zukunftseuphorischen 68er in einem Klima aus Repressionen, Subkultur und Pop formte. Ironische Comic Art Gemälde von Sigmar Polke gab es zu sehen, assoziative Videoarbeiten von Ulrike Rosenbach und auch ums Musikalische wurde sich gekümmert. Ohrwurm, der mit nach Hause genommen wurde: Kalacakra “Nearby Shiras”!

Sonst noch schön zu gucken:
Jil Sander. Präsens (Museum Angewandte Kunst Frankfurt), Alexander Kluge. Pluriversum (Museum Folkwang Essen), The Discovery of Mondrian (Gemeentemuseum Den Haag), Harun Farocki Retrospektive (an verschiedenen Orten in Berlin), Marina Abramovic (Moderna Museet Stockholm)

(Film) “Der lange Sommer der Theorie”
Zugegeben, der ein oder andere Dialog in Irene von Albertis Film ist in Sachen Authentizität vielleicht nicht so das Gelbe vom Ei, aber erstens muss Authentizität auch nicht immer das schlagende Qualitätsmerkmal sein und zweitens bieten die 80 Minuten trotzdem genügend Identifikationspotenzial. Jung sein in 2017, um politische Haltungen ringen, Position beziehen wollen und sich selbst beim Schwafeln erwischen, kennt man alles, findet man anstrengend, aber selten im Spielfilm gezeigt. Dort sind normalerweise alle Figuren meinungsstarke Widerstandskämpfer, radikale Underdogs. Dass sich moralische Dilemmata aber auch dort auftun, wo man einerseits eifrig gegen Kapitalismus polemisiert und andererseits ein florierendes Airbnb-Geschäft betreibt, wird auf der Leinwand seltener thematisiert. Der Film macht auch mal diejenigen Alltagsmiseren explizit, die keinem Fontane’schem Tugend-und-Laster-Schmerz gleichkommen, aber trotzdem nerven. Außerdem ist der Soundtrack ganz fantastisch und er endet im Berliner Schlusspanorama mit der Instrumentalversion von Chris Imlers „Ausziehen“. Fand ich so schön, dass ich mich kurz vergessen und meinen Nebenmann im Kino fast erschlagen hab. Aufrichtiges Sorry nochmal. (Just, als ich diese Zeilen tippe, veröffentlicht Herr Imler übrigens einen neuen Track und kündigt das dazugehörige Album an! Zufall? ICH DENKE NICHT!!!)

Was sonst noch schön war in Sachen Film: „The Square“ von Ruben Östlund, „Hidden Figures“ von Theodore Melfi, „Die Mitte wird nicht halten“ von Griffin Dunne, „Körper und Seele“ von Ildikó Enyedi, Die Reihe „Schund ist schön“ auf Arte: http://cinema.arte.tv/de/dossier/schund-ist-schoen

Jetzt bin ich noch dazu angehalten, in Postkartencharakter aufzuschreiben, wie mir das Jahr 2017 gefallen hat: Liebes 2017, du wirst mir fehlen. Keine Sorge, so schnell ersetzt dich keiner, weißte selbst am besten. Ich sag’ derweil beim Abschied leise „Servus“. Lisa ❤

 

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Linus Volkmann

(Gerade schon nicht kapiert, wie Thomas diesen Trenner zwischen die einzelnen Protagonisten gesetzt hat. Egal, mache einen Screenshot vom Balken, wird schon irgendwie gehen!)
Wer bisschen Einblick hat hinter die Kulissen meiner stählern fröhlichen Social-Media-Inszenierung wird wissen. dass das kein Jahr as usual für mich darstellte. Bisschen was dazu erfährt man in dem Jahresrückblick-Podcast, den ich bei Christian Destroy und Aethervox Ehrenfeld aufgestellt habe.
Meine persönlichen Jahrescharts (Songs) bespiele ich aktuell gerade noch täglich auf instagram in den Storys.

Liebste neue Serie: “Star Trek – Discovery”

Liebster Film: “Star Wars – The last jedi” (Screw you, haterz!)

Liebster Youtube-Blogger: Dieser geile Österreicher, Schilling mit dem Account “Spieletrend”

Liebstes altes Gericht: Kartoffel-Chili (am liebsten gleich für drei Tage ansetzen)

Liebstes neues Gericht: Kleine Kartoffeln als Pralinen sehen und dazu bisschen Fett und Zuchini.

Tollster Song, den ich aber in meinen Jahrescharts vergessen habe: Die Mausis “Was kann ein Mausi dafür”

Liebsten Song, den ich noch nirgendwo anders unter die Leute gebracht habe: Veedel Kaztro “Frank und die Jungs”

Danke allen Freundinnen, Freunden, danke für die viele Unterstützung, die unser sondergeiles Tretboot kaput von so vielen Seiten erhält. Der Kampf geht weiter, Kuss mit Zunge!

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Rinko Heidrich

2017 ist das Jahr, in dem ich endgültig mit kaput verschmolzen bin. Eine IHK-Prüfung bestanden, dann einen Monat später in dieser hässlichen ehemaligen Bundeshauptstadt gefeuert werden. Ich lebe das Motto Insolvenz & Pop derzeit mal real aus.

Alben
01 Lana Del Rey “Lust for life”
02 Destroyer “Ken”
03 Jonwayne “Rap Album Two”
04 King Gizzard & The Lizard Wizard “Murder Of The Universe”
05 Die Shitlers “This is Bochum, Not L.A.”

Bücher
Ich fange Bücher nur an und lese sie nie zu Ende.

Filme
Ich gehe nicht mehr ins Kino und schaue mittelprächtige 0.99 Euro-Filme im Amazon-Angebot.

Songs
01 Lana Del Rey “Love”
02 Drake “Can’t Have Everything”
03 The Big Moon “Silent Movie Susie”
04 Daughter “Burn It Down”
05 Kendrik Lamar “Humble”

Serien
01 Westworld
02 4 Blocks
03 Rick & Morty
04 Thirteen Reasons Why
05 Masters Of None

Klassiker-Lüge des Jahres, von mir selber benutzt
– “Danke für den Tipp! Da schaue/höre/lese ich morgen mal rein!”

Popkultur und so
Die 80er wiederholen sich auch 2017 ewig in der Popkultur und da die 90er die 80er wiederholt haben, werden wir bei einem 90er-Revival die 80er bekommen. Ich danke vor allem Linus und Thomas, aber auch den Kaput-Mitschreibern, dass so etwas wie Idealismus und Unabhängigkeit im Musikjournalismus möglich ist. Ich schließe mit den Worten von Kool Savas: “Hör auf zu zweifeln, denn gestern ist Vergangenheit und morgen ein Rätsel, doch heut’ vielleicht noch der beste Tag deines Lebens”

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