Pisse für immer: Schnipo Schranke „Satt“

Schnipo Schrank
„Satt“
(Buback, 2015)
Eine einzige Platte als größte Wegmarke des neuen Jahrtausends benennen? Geht’s noch schwieriger, Kaput!? Aber gut, das ist nun mal die Aufgabe, die wir uns hier gestellt habe. Und auch wenn man nur einen Act highlighten kann, weiß doch jede*r, dass es hinter der einen immer noch unzählige weitere tolle Alben gäbe – und es ist ja auch ziemlich lustvoll im Überfluss zu schwelgen.
Ich zum Beispiel könnte auf jeden Fall auch das Debüt von Jens Friebe nehmen: „Vorher Nachher Bilder“ hat 2004 für mich ganz viel eingefangen von dem popmusikalischen Aufbruch des neuen Jahrtausends. Oder sicherlich auch eine Platte von Egotronic, denn die Präsenz (und das Fehlen nach seinem Tod Ende 2023) von Torsun Burkhardt ist für mich ganz stark mit den letzten 25 Jahren verbunden. Oder Finna oder The Thermals oder Mitski?
Mit dieser Aufgabe hier fühle ich mich wie ausgehungert am Büffet stehen – mit einem viel zu kleinen Teller in der Hand. Da wird man doch niemals satt!
Satt. Ist das jetzt eine smoothe Überleitung oder so konstruiert, dass selbst der Trottel von ChatGPT „denkt“, das hätte der Alte mal besser machen können? Egal, ich lasse es stehen. Denn mein Album der Epoche ist „Satt“ von Schnipo Schranke.
Es führt mich eine Dekade zurück. Ich erinnere mich, dem Jahre 2015 skeptisch gegenübergestanden zu haben. Risse in der Zivilisation konnte man auch damals schon konstatieren, aber dennoch kein Vergleich zur Erosion heute zehn Jahre später. Wer hätte gedacht, dass man auf 2015 wirklich mal so seufzend nostalgisch blicken würde? Aber ich bin ja beim Soundtrack der letzten 25 Jahren und das hier soll also kein Doomscrolling werden sondern die Anbetung einer ganz besonderen Platte.
Und so ging es los in jener Zeit: Ich werde kurz hellhörig, lief da gerade wirklich die Zeile „Hab dein Handy mit den Arschbacken gehalten / nur um dich zu unterhalten“? Ich habe beim Aufräumen den Sampler „Keine Bewegung“ aufgelegt – teils pflichtschuldig, teils neugierig. Die Platte, die auf den Labels Staatsakt beziehungsweise Euphorie erscheint, versammelt brisante ältere wie auch brandneue Acts aus dem Underground des deutschsprachigen Big-Styler-Pops. Alles cool, manches sogar richtig gut, aber auf diesen letzten Song der zweiten Vinyl-Seite muss ich die Nadel jetzt doch noch mal zurücklegen. Und bereits bei diesem zweiten Umlauf ist unausgesprochen klar, dieses Stück „Pisse“ wird bis auf Widerruf mein absolutes Lieblingsding der nächsten Zeit werden.
Aber wer zur Hölle ist das? Aha, es handelt sich um Daniela Reis, die zusammen mit Freundin Fritzi Ernst die Band Schnipo Schranke unterhält. Schlagzeug, Tasteninstrument, fertig. Klingt wie nichts anderes. Ich stelle sicher, dass ich unter den ersten 300 Fans der Band bei Facebook bin – am Ende von Schnipo Schranke werden es auf dieser Plattform 22.000 sein.
Letztere Zahl wirkt gar nicht so beeindruckend, oder? Der Song „Pisse“ hat aber immerhin acht Millionen Aufrufe auf YouTube – das spiegelt das Phänomen schon angemessener wider.
Ich bin nicht gerade ein Pop-Trüffelschwein, aber ich fühle, was ich feiere – und so bin ich mir nach den ersten Umläufen von „Pisse“ sicher, dass aus diesem Duo „was wird“. Mist, mir fällt allerdings auf, dass ich gerade meinen Job in einem Musikmagazin (#Intro) gekündigt habe. Wo soll ich denn jetzt über dieses zauberhafte Phänomen berichten?
Na, beim kaput-mag. Zusammen mit Thomas Venker habe ich diese ganz eigene Popkulturplattform erschaffen. Sie soll geiler und wendiger sein als der zum Schluss von mir eher als dröge und schematisch empfundene „offizielle“ Popjournalismus. Dementsprechend wollen Thomas und ich auch kein schriftliches Interview sondern eines für YouTube mit Schnipo Schranke führen. Am besten vor der offenen Klotür im Hamburger Vertreterhotel Pacific – das wär’s. Es wird mein erster selbstgeschnittener Clip werden, alles technisch noch sehr rudimentär, aber es klappt und zählt heute sechsstellige Aufrufzahlen. Darauf bin ich schon ein wenig stolz, muss ich zugeben.
Schnipo Schranke machen den Spaß neugierig und unerschrocken mit. Sie haben sich ja selbst erst gerade auf die Rennbahn geschickt und Bock auf alles, was da kommt. Die beiden besitzen dabei etwas von den Beatles aus dem Bällebad, zumindest handelt es sich bei Dani und Fritzi auch um zwei gleichwertige Songwriterinnen, die sich gegenseitig zu Höchstleistungen hochorgeln. Denn der zweite große Hit des Debüt-Albums „Satt“ – das dann ein halbes Jahr nach dem Alarmstart mit „Pisse“ folgt – heißt „Cluburlaub“ und wird nun von Fritzi Ernst gesungen. Man hört, dass es ein anderes Feeling besitzt als die Lieder ihrer Partnerin, aber auch das ist überwältigend. Das Duo chargiert in dieser Anfangszeit beseelt zwischen Selbstbefreiung, Dilettantismus und Versiertheit (beide haben sich immerhin bei einem Musikstudium kennengelernt).
„Satt“ beginnt gleich mit zwei selbstreferentiellen Stücken – und macht Ansagen, als wäre man ein Rap-Act, der zu Beginn des neuen Albums erstmal großmäulig sein Revier fordert: „Wir sind Schnipo Schranke / Lieblingsschulfach Tanke / Körbchengröße Schlafsackfutter / Gewicht zu zweit wie deine Mudder“. Die beiden können in dieser Zeit einfach alles machen – und tun es auch. So verwirklichen sie sich den Fan-Traum, die Platte mit Ted Gaier von den Goldenen Zitronen aufzunehmen. Der macht seine Sache gut und stellt den sehr charakteristischen Klavier-Drum-Sound nicht unnötig mit Kram zu, nur manchmal reichert Fritzi Ernst eine Passage mit der Blockflöte an. Während deutschsprachiger Pop sich sonst gerade von Acts wie Max Giesinger oder Tim Bendzko in Frührente sedieren lässt, kratzt der eigenwillige und gern mal obszöne Entwurf von Schnipo Schranke fast am Mainstream. Dafür sind sie dann aber doch zu schräg – was ja auch nur für sie spricht.
Nach dem zweiten Album „Rare“ implodiert das hinreißende System allerdings ohne Vorwarnung. Fritzi und Daniela unkittbar verstritten wie es sonst bloß die Ramones oder Black Sabbath nach Jahrzehnten schafften. Auch eine Leistung – aber vor allem sehr schade. Dieser kreative Zusammenschluss brannte wohl einfach zu hell für die Langstrecke.
Linus Volkmann





