Sea + Air ... und die legendäre lost Story aus "Lies die Biber!"

Einen Abend lang das Wort Begehren buchstabieren

Beruf… Musikjournalismus.
Warum die Enttäuschung, dass man es mit der eigenen Band nicht geschafft hat, nicht an anderen auslassen?
Warum nicht Hartz IV im Alter?
Hauptsache im Moment ist alles gut. Der Moment ist ja immer so wichtig! „Live for the moment“, ach Quatsch: „be the moment!“ – denke ich und versuche auf Twitter eine Punchline zu droppen, die wenigstens noch deine Mutter interessieren könnte. Plötzlich Schritte auf dem Flur, jemand tritt an meinen Käfig in der Kölner Redaktion heran. Es ist einer der Besitzer unseres Magazins. Offenbar hat er einen Auftrag zu vergeben. Woop-woop-woop, Auftrag! Shalalalala-shalalala!

856472_4320710347559_2142604325_o Musik-Sea-Air-Opulente-HarmonieJetzt nur nicht zu needy gucken. Needy, sagen das die Kids überhaupt noch…  wenn sie Hyper-Dubstep sporten an der Käthe-Kollwitz-Schule? Oder heißen Schulen mittlerweile doch schon eher nach Videospielen? Das GTA-Gymnasium, die Donkey-Kong-High, die Pacman-Hauptschule. Oder war das in „Futurama“? Fuck „Futurama“… guckt das überhaupt noch irgendwer unter 30? Okay, es hilft nichts, ich muss demnächst dringend Selbstmord begehen.
Aber diesen Monat mache ich noch, ist jetzt auch schon egal. Da schreitet die Führungskraft heran mit dem heiß ersehnten Auftrag.
Und kommt tatsächlich zu mir… obwohl ich nicht verhindern kann, so needy zu gucke wie das bedürftigste Tier, das jemals bei „Tiere suchen ein Zuhause“ auf WDR angeboten wurde. Der taube Hund mit zwei Beinen, ohne Fell, geschätzte 20 Jahre alt. Schlechter vermittelbar ist ja nur noch Bin Ladens Chauffeur für eine Spitzenposition im Pentagon.
Doch das Schicksal, es klopft dennoch an die Tür, wie man es von Beethovens Fünfter Symphonie kennt: Ta, ta, ta, TAH! Oh je, bloß keine Verweise auf klassische Musik aufmachen, ich kriege noch meine Essensmärkchen für die Popkultur-Vokü abgenommen. Bei Klopfgeräuschen darf wenn überhaupt auf „Seven Nation Army“ von White Stripes verwiesen werden. Wenn überhaupt! Am besten gar keine Tonfolgen in Text nachahmen, kann kaum jemand nachvollziehen, der Rest fühlt sich eher unangenehm berührt als melodisch beseelt.
Mit seiner massiv goldenen Panzerkette jedenfalls drischt der Auftrag gegen meine Gitterstäbe und Glasknochen.
„Volkmar, jemand zuhause?“
Spuckepartikel treffen mich. Zum Glück bin ich innerlich tot. Wusste ich doch, dass mir das mal zu Gute kommen würde. Das nimmt noch jedem Bürojob den Schrecken.
Also welche Band werde ich heute wohl bedingungslos abfeiern? Äh, welche Band werde ich heute kritisch beleuchten, meine ich.
Der wertvolle Anleiter schlägt mehrfach mit einem Teleskopschlagstock in seine Handinnenfläche.
Ich so: „Ja, um wen handelt es sich denn? Und ich heiße eigentlich Volkmann.“
„Du gefällst mir, Volkmar, du hast Mut. Du bekommst…“ [Kunstpause] „…einen Auftrag“ [Ha, ich wusste es!] „Mach eine Homestory mit diesem sexy Duo, dass so traurige Liebeslieder spielt. Melancholisch – das verkauft sich, Zuwachsraten im hohen dreistelligen für unsere Titel. Der Vorstand will mehr emotions im Magazin sehen!“
Ich bin begeistert. Gefühle habe ich doch so viele. Zum Beispiel seit Tagen Hunger.
„Ja, eine gute Idee, mein Herr. Das mache ich. Homestory ist auch immer total real. Und ich glaube, ich weiß, welches Duo Sie meinen. Sehen so’n bisschen speziell aus und kommen aus Deutschland?“
„Exatamente, Content-Idiot!“
Der Geschäftsführer kramt in seiner Tasche, werde ich etwa bar bezahlt?
„Und diese Band ist groß im Kommen, selbst in den ganzen Kackstädten räumen die hart ab, nicht wahr?“
Die Führungskraft nickt weiter. Wie ermunternd!
„Gell, sie meinen Rosenstolz?“
Wütend packt er seine Geldbörse wieder ein. Scheiße, war wohl doch ein anderes Love-Duo.
„Sea + Air, heißen die, du Bauer. Da fährst hin!“
Ich so: „Ach, so die! Ja, die wollte ich gleich sagen.“

***

Einige Stunden später am Rechner. Wer hätte es gedacht, dass es unter „Sie Und Er“ so verdammt viele Treffer auf google gibt? Google, das einzig verbliebene journalistische Recherchetool der Jetztzeit. Die angebotenen Links kann ich unmöglich alle abklappern. Einige klingen auch eher abwegig:

  • Sie und Er „Dessous und Mode im wunderschönen Buxtehude“
  • Sie und Er „Was Frauen wollen, was Männer wollen: Unsere Kolumnistin Paula beugt sich über den Rücksitz – und ihr Freund Peter schaltet in den fünften Gang. Sex im Auto“

Oh, Gott, das kann doch alles nicht gemeint sein. Aber wie soll ich das unseren Aktionären erklären? „Sorry, Graf von Salem Priesnitz, die Homestory über Sie Und Er muss ausfallen. Wird wohl nichts mit ihrem Sommerhaus aus Marbella!“
Doch Augenblick… es gab noch eine weitere Möglichkeit, sich journalistischen Herausforderungen zu nähern: Kommissar Zufall! Ha, waren die ganzen Jahre als Pfandsammler nahe der Henri-Nannen-Schule nicht umsonst gewesen.
Und doch schlägt jener auch schon ein:
Auf Facebook postet jemand (hässliches Profilbild) ein wunderschönes Lied. Es singt: „The Heart Of The Rainbow“. Ein Duett.
Der Typ sieht aus wie Luigi aus Super-Mario und die Frau wie ein schlanker R2-D2 mit Perücke. Krass, mit was man heutzutage schon ins Internet kommt. Aber das Stück ist magisch – sicherlich eine Coverversion, das haben diese Freaks doch niemals selbst gebastelt.
Und der Name der Band…
Sea + Air.
Sea + Air?!
Ach so, das ist einfach so ein „origineller“ Name, der bloß klingt wie „Sie Und Er“ – dann ist das die Band für die Homestory?
Ey, wie ich diese Idioten jetzt schon hasse!

***

bib

Dieser Erlebnisbericht über eine Homestory bei Sea + Air war ursprünglich vorgesehen gewesen für Kurzgeschichtenbuch “Lies die Biber!” Aus marktstrategischen Erwägungen fiel er jedoch raus. Und blieb unentdeckt. Bis heute!

Ich sitze eine geraume Zeit im Zug nach Berlin, da erreicht mich eine Nachricht von Daniel Benjamin, dem schnurrbärtigen Typ der Band. Der Inhalt der SMS mal kurz zusammengefasst: „Wir wohnen in der Schwäbischen Alb.“
Nun diese Information wurde mir bereits im Vorfeld angedient – nur hielt ich sie schlichtweg für einen Scherz. Ironie, was denn auch sonst? Ich meine, welche arme Sau von Band wohnt wirklich in der Schwäbischen Alb? Bei Daniel Benjamin muss es sich einfach um eine Art Spaßvogel handeln.
Ich rufe besser mal an: „Wird Neu-Kölln mittlerweile die Schwäbische Alb genannt? Aus Hass auf die vielen zugezogenen Ba-Wüs? Das Thema kommt bei uns oft in den Redaktionssitzungen dran, Gentrifikation. Wird im Interview mit euch nachher gern durchgenudelt. Lippenbekenntnisse, Pseudo-Politik und Wiederholungen, mein Schwerpunkt!“
Daniel Benjamin unterbricht meine interessanten Ausführungen. Schade, dabei höre ich mich doch so gern reden. Gerade in überfüllten Zügen. Denke, da hinten bei den defekten Toiletten hat noch nicht jeder mitbekommen, dass ich was mit Medien mache.
„Nicht Berlin. So begreifen Sie doch!“
Aha?
Nur die Schwäbische Alb würde Schwäbische Alb genannt beteuert der Künstler noch. Vor so viel Absurdität muss ich kapitulieren, verlasse auf freier Strecke den Zug und schlage mich nach Süden durch.

***

Unterwegs erfahre ich durch weitere irrwitzige Zufälle, die ich aus Gründen des Quellenschutz leider nicht näher benennen kann, dass Sea eigentlich Eleni heißt, aus Griechenland kommt und dass Air gern telefoniert.
Und dass beide seit Jahrzehnten ein Paar sind. Ach verfickt, hoffentlich ist das wenigstens eine Lüge – nachdem schon die Schwäbische Alb keine war.
Schließlich lebt man sich selbst schon mit seinem Geliebten auseinander, nur wenn man mal eine halben Abend im selben Raum verkehrt. Sea + Airs Antwort indes auf monatelange verkaterte, hysterische Reisen im Viehwagen der Indieszene, auf Tinnitus und auf Veranstalter, die mal wieder die Plakate aufzuhängen „vergessen“ haben und auf Scheiß mit Reis jeden Tag – auf all das ist die Antwort von Sea + Air also: Liebe?
Widerliche Streber! Allürenlose Patienten! Wer ohne ein gestörtes Riesen-Ego Bühnen erklimmt, nimmt den echt genialen Vollspinnern doch nur Platz weg.
Love, love, das werde ich ihnen schon austreiben. Mit missgünstigen desinformierten Fragen, die sie gegen die Welt und einander aufbringen. Doch Vorsicht, Schlange! Sie und Er ihr Name (Notiz an mich selbst: VHS-Kurs Grammatik doch noch mal in Erwägung ziehen), also Sie und Er ihr Name erinnert nicht einfach so an das biblische Urpaar. Den Dämonen meiner Leser sei ausgeholfen: Gemeint sind Adam und Eva.
Sea + Air (dritte große Recherchequelle: Hörensagen) seien sehr christlich, Daniel Benjamin eine Art Jesus Freak. Das dürfte seinen Glauben an die Liebe in der Band noch mal festigen. Wo ist der jüngste Tag, wenn ihn braucht?

***

In der Schwäbischen Alb angekommen mustere ich Straßen und Menschen. Wenig Styler, viele Rentner. Irgendwie erinnert es an Köln, bloß mit mehr Grün und größeren Autos.
Nach einiger Zeit (Fußmarsch ist das neue Taxi, Spesenquittungen nur noch ab drei Orden aufwärts) erreiche ich die genannte Straße. Intuition – die Arroganz der einfachen Menschen – macht mich glauben, ich müsse nach einem Hippie-Bungalow Ausschau halten, oder einer Anti-Folk-Wellblechhütte.
Doch es finden sich nur Prachtbauten. Aus Gründen der Anonymität darf der Straßenname hier selbstverständlich nicht genannt werden. Am Donauufer 16. Ja, fuck, jetzt ist es raus. Verklagt mich doch (auch noch)!
Fenster gehen zu, ein Hund bellt mich an, ein junges Mädchen wechselt auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ich komme ja nicht so gut an in der Schwäbischen Alb.
Endlich, das hier muss es sein. Wow, Wellblechhütte mein Arsch. Dieses Luxus-Appartement lobt die Schöpfung. Mir wird ganz sakral, als ich im Lift den obersten Knopf drücke. Penthouse, Penthouse!
Einige Augenblicke später öffnet sich die Tür. Endlich treffe ich auf Sea, auf Eleni. Ich habe ihr ein paar Begrüßungsfloskeln mitgebracht. Doch nachdem sie mir zum dritten Mal ihren grotesk schwierigen griechischen Nachnamen wiederholen muss, merke ich, dass sie mich für einen Rassisten hält.
Das fängt ja gut an. Dabei sind die ersten Sekunden einer Begegnung doch die entscheidenden. In diesem Zwinkern wird klar, ob man miteinander Sex haben wird oder nicht. Eleni rollt mit den Augen. Ich glaube, sie will mich doch. Aber play it cool, Volkmar. Ihr Partner Daniel kommt hinzu, der spirituelle Zweimetermann strahlt auf der einen Seite etwas sehr Warmherziges aus, auf der anderen wirkt es, als wolle er einem gleich eine reinhauen.
Immer diese Widersprüche.
Missmutig bietet Eleni mir eine Bionade an. Bei allem Widerwillen – Sex wird irgendwie wohl doch nix – ist sie immer noch Gastgeberin durch und durch.
Die Bionade ist Geschmacksrichtung „Holz“, ganz was Feines!
„Ach, entgegen dem Rockstar-Klischee trinkt ihr also keinen Alkohol?“ Das ist meine erste Frage. Blitzschnell die Lage antizipiert.
„Ja, genau“, entgegnet Eleni mit schwerer Zunge –ich kann ihre Fahne bis zu mir riechen.
Daniel sieht bereits zur Uhr. Ich verstehe. Dann mal raus mit weiteren investigativen Fragen. Wir sind ja hier nicht die Bäckerblume: „Die neue Platte, ist das jetzt eure Beste?“
„Ja.“
Mist, Anfängerfehler. Keine „geschlossenen“ Fragen stellen. Aber diese Unzulänglichkeit bringt mein Game zum Stocken. Ich höre nur noch die Antworten der beiden. Meine Fragen dazu will ich mir kaum ausmalen.
„Nein, mehr als eine Bionade können Sie nicht bekommen. Sie wissen doch, was das kostet.“
„Nein, wir möchten Sie nicht Duzen, auch wenn das hundertmal ‚so üblich ist‘ ‚im Biz‘!“
„Ja, sie dürfen gespannt sein auf unsere zukünftigen Platten.“
„How much is the fish? Das waren Scooter, fragen Sie die!“
„Hören Sie mal, das mit dem besten Album haben Sie jetzt schon mehrfach gefragt!“

***

Der Versuch in ihre Kleiderschränke zu fotografieren und ein bisschen Schmutzwäsche mitzunehmen – wir reden hier schließlich von einer Homestory – endet kurz darauf in einem Handgemenge. Das wäre mir bei Sie und Er „Dessous und Mode im wunderschönen Buxtehude“ nicht passiert.
Doch gegen die rohe Gewalt – ausgeübt von Eleni – habe ich nichts entgegenzusetzen.
Ich verlasse unsanft das Loft. Ich habe ja auch genug gesehen. Trotz allem – vermutlich mein bestes Interview bis dato.

(Info für Musikfans: Gerade erschienen Sea + Air “Evropi” (Glitterhouse / Indigo)

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Foto: Jo Henker

 

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