Abel Ferrara: „We’re filming life, bro!“
BACURAU (BRA 2019, Kleber Mendonça Filho / Juliano Dornelles)
Ich mochte Kleber Mendonça Filhos letzten Film AQUARIUS sehr gerne, in dem Sonia Braga ihr altes Haus gegen Spekulanten verteidigt und sich damit gegen die Gentrifizierung ihres Wohnviertels wehrt.
Um Widerstand gegen Verdrängung geht es auch in BACURAU, den Mendonça Filho gemeinsam mit seinem Freund Juliano Dornelles inszenierte und für den sie in Cannes den Preis der Jury gewannen.
Im gleichnamigen Dorf im heißen, trockenen Nordosten Brasiliens ist die Welt noch einigermaßen in Ordnung. Einzige Sorge: Der Staudamm wurde dichtgemacht, das Wasser muss mit dem LKW angeliefert werden. Die Gemeinschaft hat ein paar mythische Gangster hervorgebracht, die kultige Namen wie Lunga oder Pacote tragen und im Dorf verehrt werden. Einig ist man sich auch im Hass auf den korrupten Lokalpolitiker. Ansonsten wird das friedliche Miteinander auch gerne mal durch eine örtliche „psychotropische“ Droge aufgepeppt.
Mit der Ruhe ist es aber nun vorbei, denn ein Trupp ausländischer Touristen ist angereist, um ein Massaker zu begehen. Die ballerwütigen Fremden haben eine Menschensafari unter Leitung eines diabolischen Deutschen (natürlich Udo Kier) gebucht. Jeder tödliche Schuss gibt einen Punkt. Doch haben die mörderischen Pauschalurlauber ihre Rechnung ohne die Gewaltbereitschaft der Bewohner von Bacurau gemacht.
Kleber Mendonça Filho gilt in Brasilien mittlerweile als einflussreiche Stimme des Kulturbetriebs gegen die Politik des Faschisten Jair Bolsonaro, und so kann sich natürlich auch der Film wunderbar lesen lassen als widerständiges Manifest gegen Ausbeutung, Kommerzialisierung und Gewalt, der die Ureinwohner des Landes mehr denn je ausgesetzt sind. Die Botschaft: You fucked with the wrong Brazilians.
Trotz einiger Temposchwierigkeiten (der Film braucht zu lange, um zur Sache zu kommen und führt sowieso viel zu viele Figuren ein, derer er sich dann oft schnell wieder entledigt) hat mich die Originalität dieses äußerst gewalttätigen SciFi-Satire-Westerns sehr gut unterhalten. Und wie kann man einen Film nicht mögen, der mit der schönen Stimme von Gal Costa eröffnet und einen Capoeira-Tanz mit einem Song von John Carpenter untermalt?
POETRY (KOR 2010, Lee Chang-dong)
Lee Chang-dongs BURNING war der Höhepunkt des Filmfestivals Cologne 2018. In diesem Jahr wurde in Köln der 100. Geburtstag des koreanischen Kinos gefeiert und aus diesem Anlass auch Lees 2010 entstandener Film POETRY gezeigt.
Lee erzählt die Geschichte von Mi-ja (grandios: Yoon Jeong-hee), einer 66jährigen Altenpflegerin, die gemeinsam mit ihrem Enkel in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt. Um in ihrem harten Alltag wenigstens etwas Schönes zu erleben, besucht sie einen Poesiekurs. Sie möchte lernen, wie man Gedichte schreibt. Doch zwei Schicksalsschläge erschüttern ihre Welt: ihre Alzheimer-Diagnose und die Nachricht, dass ihr Enkel monatelang an der Vergewaltigung einer Mitschülerin beteiligt war, woraufhin die sich das Leben genommen hat. Dass die Tat von der Schule unter den Teppich gekehrt und sich die Eltern der Täter von der Schuld freikaufen wollen, stürzt Mi-ja in eine tiefe Krise.
Was leicht als kitschige Schuld-und-Sühne-Geschichte hätte versuppen können, entwickelt sich bei Lee völlig unsentimental über beiläufige Sätze, kleine Szenen und das schmerzerfüllte Gesicht der Protagonistin zu einer bedrückenden Abhandlung über die Rolle der Frau in Südkorea. In einer sich sehr langsam entblätternden Handlung greift Mi-ja zu den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, um sich der Verantwortung zu stellen. Das Finale ist ergreifend.
POETRY ist eine geschickt konstruierte Tragödie über Leid und Trauma und ein feministischer Kraftakt gegen beschissene patriarchale Machtstrukturen. Ein wunderbarer, würdiger Abschluss für das Filmfestival Cologne 2019 im kaput Magazin.
Glückwunsch an das Programmteam des Filmfestival Cologne: Ein besseres Programm als in diesem Jahr gab es noch nie. Echte Ausfälle (wie im letzten Jahr etwa die Filme von Paolo Sorrentino, Jan Bonny oder Naomi Kawase) habe ich diesmal nicht miterleben müssen. Und – Hallelujah! – peinliche Q&As mit Steve Blame blieben uns auch erspart. Stattdessen bot das Festival die Luxussituation, sogar vermutlich gute Filme (wie VITALINA VARELA oder BEANPOLE) nicht mögen zu müssen. Vor allem aber durfte ich sehr viele gute und einige herausragende Filme sehen.
Die Highlights:
1. PORTRAIT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN (Céline Sciamma)
2. PARASITE (Bong Joon-ho)
3. THE SOUVENIR (Joanna Hogg)
4. FOR SAMA (Waad al-Kateab, Edward Watts)
5. MONOS (Alejandro Landes)
6. BACURAU (Kleber Mendonça Filho, Juliano Dorelles)
7. ÜBER DIE UNENDLICHKEIT (Roy Andersson)
8. NINA WU (Midi Z)
9. DEERSKIN (Quentin Dupieux)
10. TOMMASO (Abel Ferrara)
Die Latte hängt also sehr hoch fürs nächste Jahr.
Wir sehen uns!
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Und so ging es los beim FilmfestCologne 2019:
Eigentlich ist unser Autor Dirk Böhme nur deshalb nach Köln gezogen, um regelmäßig das jährliche Filmfest Cologne besuchen zu können.
Das Programm 2019 ist tatsächlich wieder sehr vielversprechend, vom koreanischen Cannes-Gewinner „Parasite“ über die gefeierten neuen Filme von Céline Sciamma, Joanna Hogg oder Kleber Mendonça Filho, bis zu düsteren Raritäten aus Russland, Tschechien oder Portugal.
Die Premierenfeier am Donnerstagabend im Foyer des Kölner Filmpalastes (Bussi / Bützje hier, Stößchen da) nutzte Böhme lediglich dazu, Popcorn auf den roten Teppich zu bröseln. Unser Mann möchte doch einfach nur Filme sehen!
Deshalb stand er auch rechtzeitig Schlange für den Eröffnungsfilm, der parallel in gleich drei Kinos gezeigt wurde – ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit für den kuriosen DEERSKIN (Le Daim) von Quentin Dupieux (besser bekannt als Mr. Oizo, Schöpfer des Novelty Hits „Flat Beat“ und der sensationellen Puppe Flat Eric).
Keiner von Dupieuxs bisherigen Spielfilmen (Thema seines Horror-B-Movies RUBBER: ein mörderischer Autoreifen) hat es bislang in deutsche Kinos geschafft. DEERSKIN könnte das nun allerdings gelingen, denn mit Oscarpreisträger Jean Dujardin und Adèle Haenel hat er sogar zwei echte Stars zu bieten.
Dem ausgelutschten Genre „Männer üben Gewalt aus“ fügt Dupieux nun jedenfalls eine neue Facette hinzu.
Dujardin spielt einen Einzelgänger in der Midlife Crisis. Georges ist ungewöhnlich stark von seiner neuen Wildlederjacke fasziniert und führt mit ihr sogar Zwiegespräche. Der gemeinsame Plan: Georges möchte der einzige Mensch auf der Welt sein, der eine Jacke tragen darf. Mit seinem irren Vorhaben beginnt er in einem französischen Gebirgskaff, wo er sich als Filmregisseur ausgibt und Unbeteiligten die Oberbekleidung abnimmt. Zunächst gegen Geld, aber bald auch mit Gewalt.
Ein Serienkiller-Film der etwas anderen Art also: ulkig, aber auch beunruhigend in seiner gnadenlosen Darstellung eines toxischen Jammerlappens, der aus seinen eigenen Unzulänglichkeiten und privater Verzweiflung einen Wahn entwickelt und schließlich in Gewalt gegen Andere verwandelt.
Damit geht DEERSKIN vielleicht durch als schwarzhumoriges Gegenstück zu Joaquin Phoenix’ düsterer Interpretation des JOKER, der die Perspektive eines ausgestoßenen Dudes einmal mehr ins Blockbusterkino bringt.
Mit einem netten Twist am Ende beweist Dupieux aber, dass er überhaupt kein Interesse daran hat, zum hundertsten Mal die Geschichte eines missverstandenen Mannes zu erzählen. Als Meta-Satire auf das Filmemachen ist DEERSKIN nämlich viel origineller.
Ein hübscher, knackiger Auftakt für das Festival.
Der erste richtige Festivaltag zehrt bereits kräftig an unserem Autor. Am Ende hat er das Gefühl, die gesamte Last der Welt zu spüren.
BEANPOLE (RUS 2019, KANTEMIR BALAGOV)
Leningrad im Herbst 1945. Zwei Krankenschwestern verbindet eine Liebesbeziehung, die sich allerdings aufgrund der inneren und äußeren Verletzungen nie wirklich wie Liebe anfühlt, sondern nur wie Schmerz.
In seinen Debütfilm TESNOTA (Closeness), der 2017 auf dem Filmfest Cologne zu sehen war, baute der gerade mal 26jährige Kantemir Balagov eine echte Hinrichtungsszene aus dem Tschetschenien-Krieg ein. Das hat mir damals einen ansonsten schönen Blick auf eine junge jüdische Frau im Kaukasus ordentlich versaut.Eine solch grausige Überraschung erspart uns Balagov in seinem neuen Film zwar, setzt aber ansonsten erneut auf Elendskino in Reinform. Euthanasie, ein schrecklicher Kindstod, freudloser Sex – es ist alles dabei, was das Herz nicht begehrt, wenn man Kino als Alltagsflucht begreift und etwas Schönes erleben will.
Am quälendsten sind die ins Endlose gezogenen Szenen verzweifelter Versuche, Nähe zu entwickeln angesichts der erlittenen Traumata. Die Blicke sind starr, die Sprache zerhackt und karg. Die Kriegsgreuel sind in jeder Szene spürbar.
Ein grausamer, zermürbender Film, der mich bleischwer in ein schwarzes Loch gezogen hat. Um den nächsten Balagov werde ich dann wohl doch einen Bogen machen.
VITALINA VARELA (POR 2019, PEDRO COSTA)
Sich auf völlig Neues, Unbekanntes einzulassen, auf Erzählformen und Bilder der anderen Art, dabei auch immer ein Risiko einzugehen, kompletten Quark zu sehen: Das ist der Reiz eines Filmfestivals. Und dann gerät man eben auch einmal in einen Film von Pedro Costa. Es ist ja schon ein revolutionärer Akt, seine Filme ausschließlich mit Migrant*innen zu besetzen und seinen Film mit dem echten Namen der Hauptdarstellerin zu betiteln.
Vitalina Varela ist Vitalina Varela, die nach dem Tod ihres Mannes nach Lissabon barfüßig, aber würdevoll aus dem Flugzeug schreitet und direkt auf der Landebahn von den migrantischen Putzkräften mit Beileidsbekundungen empfangen wird wie eine Königin. Ihre Trauer verarbeitet sie alleine im armseligen Häuschen, das ihr Mann in den Slums von Lissabon gebaut hat (das Dach wurde nie fertig), oder im Zwiegespräch mit einem schwerkranken Priester, der tonnenschwere Sätze sagt wie „Wir sind vereint in der Trauer. Du hast deinen Mann verloren, ich meinen Glauben in diese Dunkelheit.“
Ach ja, die Dunkelheit: Bis auf die letzten zehn Minuten spielt die ganze Geschichte in der Nacht. Die Figuren bewegen sich im Schatten, ab und zu sind die Gesichter im Lichtschein zu erkennen. Das Ghetto ist hier eine Geisterwelt. Was wir sehen, ist das Jenseits der alltäglichen Mühsal und Gewalt, der sich die kapverdischen Einwanderer ausgesetzt sehen.
Um Pedro Costas Filme angemessen würdigen zu können, muss man sich einlassen können auf ihre formale Strenge ebenso wie auf die lebensmüden Dialoge und religiösen Motive. Ich gebe offen zu, dass mir das nicht wirklich gelungen ist und ich daher schwer erschöpft aus dieser Spätvorstellung gestolpert bin.
Der Festivalsamstag entschädigt für die Qual des Vortags, denn er bietet ein wuchtiges Programm mit Top-Unterhaltung. Unser Autor sieht gleich drei umwerfende Filme von Filmemacher*innen auf der Höhe ihres Schaffens.
PARASITE (COR 2019, Bong Joon-ho)
Schon mit seinen beiden letzten Filmen SNOWPIERCER und OKJA verstand es der Koreaner Bong Joon-ho, Gesellschaftskritik unterhaltsam ins Action- oder SciFi-Genre zu verpacken. Mit PARASITE hat sich Bong nun selbst übertroffen und gewann dafür die Goldene Palme in Cannes. Entsprechend rappelvoll war auch der größte Saal des Filmpalasts Köln bei der Deutschlandpremiere, die sich auch die gesamte Belegschaft des koreanischen Konsulats nicht entgehen ließ.
PARASITE erzählt von einer mittellosen Familie, die sich trickreich ins Haus eines schwerreichen Unternehmers einschleicht und in verschiedenen Funktionen für dessen Familie arbeitet. Dass der Plan von der erfolgreichen Teilhabe am Wohlstand nicht dauerhaft aufgehen kann, zeigt sich alsbald mit dramatischen Folgen.
PARASITE ist ein kolossal unterhaltsamer, als Groteske erzählter Thriller, in dem wirklich alles stimmt. Das Tempo ist atemberaubend, die Story entwickelt sich völlig unvorhersehbar, und sämtliche Figuren sind brillant gezeichnet und dargestellt. Darüber hinaus bekommen wir eine außergewöhnliche Satire auf Klassenunterschiede geboten. Dass der Kapitalismus nur wenige Gewinner produziert und sehr viele Verlierer, ist bekannt. Aber so präzise wie Bong hat selten ein Filmemacher auch die seelischen Verletzungen, die den Betroffenen durch die berüchtigte „Schere zwischen Arm und Reich“ zugefügt werden, beobachtet. Er verzichtet auf platte Zuschreibungen und ist mit der Wahl seiner symbolischen Mittel auch deutlich wirkungsvoller als etwa Jordan Peeles thematisch verwandter Horrorversuch US aus diesem Jahr.
Ein völlig verdienter Kassenschlager.
PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN (F 2019, Céline Sciamma)
Auch Céline Sciamma, die sowieso noch keinen schlechten Film gedreht hat, zeigt sich auf der absoluten Höhe ihrer Kunst und uns die schönste Liebesgeschichte seit vielen Jahren. Seit CAROL von Todd Haynes hat mich ein Liebesfilm nicht mehr so berührt.
Im späten 18. Jahrhundert reist die Malerin Marianne im Auftrag einer reichen Witwe auf eine Insel vor der Bretagne, um deren Tochter Héloïse zu malen. Das Gemälde soll dem künftigen Ehemann in Mailand dienen, einen ersten Blick auf seine unbekannte Braut zu werfen.
Héloïse will diese Heirat nicht und verweigert sich daher dem Projekt auch zunächst. Doch nach und nach nähern sich die beiden jungen Frauen an.
Wie Sciamma, in Zusammenarbeit mit ihren grandiosen Hauptdarstellerinnen Noémi Merlant und Adèle Haenel, diese sich langsam entwickelnde Liebe inszeniert, mit eindrucksvollem Gespür für Blicke, Körpersprache und die richtigen Worte zur richtigen Zeit, ist nichts weniger als sensationell.
PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN ist dabei viel mehr als eine lesbische Liebesgeschichte vor historischer Kulisse: Sciamma erzählt außerdem von weiblicher Solidarität, wenn bei existenziellen Problemen Hilfe notwendig ist, oder auch vom unbeschwerten Genuss eines abendlichen Kartenspiels oder der Lektüre von „Orpheus und Eurydike“ – es ist vor allem die Abwesenheit von Männern, die dieses gemeinsame Glück unter Frauen ermöglicht.
Ein Film, der noch lange nachwirkt und den ich sofort wiedersehen möchte.
THE SOUVENIR (UK 2018, Joanna Hogg)
England in den frühen Achtzigern. Die aus wohlhabendem Haus stammende Filmstudentin Julie lernt den deutlich älteren Anthony kennen und geht mit dem tadellos gekleideten und sehr kultivierten Regierungsbeamten eine Beziehung ein. Während Julie in ihrem Studium die Arbeiterklasse portraitieren will, zu der sie sonst kaum Kontakt hat, speist sie mit Anthony in schicken Restaurants oder reist nach Venedig. Doch seine Heroinsucht belastet ihre Beziehung und damit auch ihre Arbeit.
Joanna Hoggs Filme sind immer auch Klassenstudien, und erneut bietet sie uns ein realistisches Bild der britischen Upper Class – privilegiert, gelangweilt, ziellos. Dass es diese Upper Class ist, die seit Jahrzehnten das eigene Land in den Ruin treibt, macht THE SOUVENIR nur noch interessanter.
Es ist sowieso Hoggs bisher bester Film: ein (autobiographisches) Künstlerinnenportrait mit vielen schönen Details über das Filmstudium, eine Liebesgeschichte, ein Beziehungsdrama, ein sozialrealistisches Zeitportrait der frühen Thatcher-Jahre, mit ihren steifen, angespannten Tischgesprächen und den Autobombenattentaten der IRA.
Hoggs kühle, elegante Inszenierung mag viele abschrecken oder langweilen, aber im Unterschied zu ihren etwas sperrigen früheren Filmen empfand ich diesen als sehr zugänglich und einnehmend, was besonders an der schönen naturalistischen Fotografie (David Raedeker) und den beiden grandiosen Hauptdarstellern lag: Honor Swinton-Byrne und Tom Burke sind ein wirklich glaubwürdiges Liebespaar in einer schleichend toxischen Beziehung, und wie Swinton-Byrne die neugierige, etwas unsichere, aber gleichzeitig künstlerisch sehr zielgerichtete Studentin spielt, ist extra beeindruckend.
Hogg hat schon zwei Fortsetzungen angekündigt, um die Geschichte ihres Alter Egos Julie weiterzuerzählen. Es dürfen Wetten angenommen werden, dass Tilda Swinton (hier noch als Mutter ihrer leiblichen Tochter besetzt) später die ältere Julie spielen wird.
Natürlich verbringt unser Autor auch einen sommerlich warmen Sonntag im Kino und sieht dort zwei intensive Filme aus Kolumbien und Taiwan.
MONOS (COL 2019, Alejandro Landes)
Als „APOCALYPSE NOW trifft auf HERR DER FLIEGEN“ wird MONOS angekündigt, und treffender kann man es kaum beschreiben. In mächtigen Bildern erzählt der kolumbianische Regisseur Alejandro Landes von einem Trupp sehr junger Guerilleros, die in den Anden eine amerikanische Geisel bewachen. Zunächst überwiegt die jugendliche Unbeschwertheit in Kombination mit hormoneller Unausgeglichenheit und erotischer Spannung. Es wird gerauft, geknutscht, geballert. Doch Disziplin und Glaube an die Mission gehen spätestens verloren, als sich die Gruppe in den Dschungel flüchtet. Außerdem steigt die Gewaltbereitschaft.
Uns Zuschauer wirft Landres unvermittelt ins Geschehen (und am Ende auch wieder heraus); Herkunft und Motivation der Protagonisten (die Kampfnamen tragen wie Bigfoot, Lady oder Rambo) bleiben unklar, ebenso wie jeglicher militärischer oder politischer Hintergrund des Kampfes. Was wir erleben, ist reiner Überlebenskampf in einer prachtvollen, brutalen Umgebung. Der Dreck, der Schweiß, die Schmerzen sind unmittelbar zu spüren.
Ob Landes uns über die Form hinaus etwas mitteilen möchte (vielleicht: gebt Kindern keine Waffen? Ok naja nun gut, wer hätt’s gedacht!), habe ich nicht verstanden, aber die grandiose Fotografie macht in Verbindung mit einem wieder gleichermaßen verstörenden wie betörenden Score von Mica Levi (UNDER THE SKIN) aus MONOS ein sehr intensives Erlebnis für die Sinne.
Klischee, aber: Den muss man im Kino sehen.
NINA WU (TWN 2019, Midi Z)
Der taiwanesische Beitrag zu #metoo begegnet uns hier in Gestalt eines verfilmten Alptraums / Traumas.
Nina Wu lebt in Taipei und verdient sich ein bisschen Geld mit einem Internetstream. Als Schauspielerin durfte sie mal ein Wort in einem Hollywoodfilm sagen. Als ihr ein Casting für die Hauptrolle in einer großen Produktion vermittelt wird, muss sie sich zunächst entscheiden, ob sie eine lange Sexszene spielen möchte. Sie stimmt zu. Was folgt, ist erniedrigend und zerstörerisch.
Regisseur Midi Z orientiert sich mit seiner nicht-linearen Erzählweise und einigen zermürbend langsamen und verstörenden Szenen recht eindeutig vor allem an David Lynchs MULHOLLAND DRIVE. Anders als bei Lynch, dessen labyrinthische Alptraumwelten man nie vollständig erschließen kann, verbirgt sich hinter NINA WU, hat man die verwirrende Struktur einmal aufgedröselt, allerdings eine eher simple Geschichte. Bis zum schockierenden Schluss muss man viel Geduld mitbringen. Die fließende Bildsprache macht die Unterscheidung zwischen Realität und Halluzination zu einer Herausforderung.
Höchster Respekt geht an die Hauptdarstellerin Wu Ke-xi, die hier einiges durchmachen und eine ziemlich breite Palette spielen muss.
Am Festivalmontag ließ sich unser Autor einem soliden Hollywoodfilm aufklären und von einem rumänischen Spaßvogel verarschen.
THE REPORT (USA 2019, Scott Z. Burns)
In der großen Tradition des liberalen Aufklärungskinos aus Hollywood steht diese Verfilmung der wahren Geschichte von Daniel Jones, eines Mitarbeiters der US-Senatorin Dianne Feinstein, der gegen die Machenschaften der CIA infolge von 9/11 ermittelte. Dass wir heute genau wissen, was sich hinter dem Euphemismus „Detention and Interrogation Program“ verbarg, nämlich brutalste Foltermethoden wie das „Waterboarding“, ist auch der Arbeit von Jones zu verdanken.
Filme dieser Art stehen immer vor der besonderen Herausforderung, sehr viele Details verständlich vermitteln zu müssen und dabei auch noch zu unterhalten. Die journalistische Herangehensweise des Films sorgt dafür, dass wir hauptsächlich Menschen in Meetingräumen, vor Bildschirmen oder beim Laufen durch lange Gänge sehen, die für den weiteren Verlauf der Geschichte unglaublich wichtige Informationen austauschen. Das ist durchaus konventionell, nicht wirklich spannend, aber doch temporeich genug inszeniert, und das Ausmaß der Verbrechen wird außerdem immer wieder durch grausame Rückblenden in CIA-Folterkammern veranschaulicht.
Adam Driver ist die Idealbesetzung für den beharrlichen Staatsangestellten, der einfach nur die Wahrheit ans Licht bringen will. Dass es aber bei der Veröffentlichung eines derart heißen Reports auch immer politische Winkelzüge zu beachten gilt (und dabei nicht nur die CIA oder die Republikaner als Gegenseite dargestellt werden, sondern auch die stets taktisch agierende Obama-Regierung), verschweigt THE REPORT nicht.
LA GOMERA (RUM 2019, Corneliu Porumboiu)
Gleich die erste Szene wirft die Frage auf, ob der Regisseur uns eigentlich verarschen will: Da wird eine Überfahrt mit der Fähre allen Ernstes mit Iggy Pops totgedudeltem Hit „The Passenger“ unterlegt.
In der Folge präsentiert uns Corneliu Porumboiu eine Hommage an den Film Noir, natürlich inklusive einer Femme fatale (die tatsächlich „Gilda“ heißt wie Rita Hayworth im gleichnamigen Klassiker), einem verwirrenden Plot und sehr vielen Filmzitaten. Im Kino läuft John Fords THE SEARCHERS, es gibt einen schrägen Vogel in einem einsamen Motel, und die finale Ballerei findet buchstäblich in einem verlassenen Filmstudio statt. Subtil geht anders. Porumboiu ist außerdem überhaupt nicht interessiert daran, uns mit einem stringenten Thrillerplot zu fesseln.
Die einzige wirklich originelle Idee des Films ist der Einsatz von „El Silbo“, einer uralten Pfeifsprache auf der Kanareninsel La Gomera, die sich die dortige Mafia zunutze macht. Diese Sprache soll unser Held, der stoische rumänische Polizist Cristi (Vlad Ivanov), lernen. Er ist da nämlich in etwas hineingeraten und soll jemanden aus dem Gefängnis holen.
Wie „El Silbo“ dann im Lauf des Films tatsächlich eingesetzt wird, ist in seiner vollkommenen Quatschigkeit wirklich schön anzusehen. Das verhinderte allerdings auch nicht, dass mich die tarantinoeske Zitathuberei des Regisseurs, ebenso wie der penetrant ironische Unterton des Films, so weit von der Geschichte und den Figuren ferngehalten hat, dass mir einfach auch egal war, was da passiert.
Die Eingangsfrage (Will der uns eigentlich verarschen?) würde ich abschließend also mit „ja“ beantworten.
Am fünften Festivaltag bilden vier sehr unterschiedliche Arbeiten die gesamte Gefühlspalette des Festivalansatzes ab. Um existenzielle Krisen geht es allerdings eigentlich immer.
ÜBER DIE UNENDLICHKEIT (S/D/NOR 2019, Roy Andersson)
Peinliches Geständnis: Ich habe noch nie einen Film des schwedischen Festivallieblings Roy Andersson gesehen, auch nicht seinen großen Erfolg „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“, mit dem er 2014 in Venedig den Goldenen Löwen gewann. Umso mehr habe ich seinen knackig-kurzen (79 Minuten, herrlich!) neuen Episodenfilm genossen.
ÜBER DIE UNENDLICHKEIT ist ein tragikomisches Mixtape, in dem unglaublich schlecht gekleidete Menschen in zeitloser, beigebrauner Kulisse versuchen, mit dem Leben und seinen absurden Situationen klarzukommen:
Ein Priester verzweifelt daran, seinen Glauben verloren zu haben und erhofft sich Hilfe von seinem Hausarzt (!).
Die letzte Stunde im Führerbunker.
Ein Mann bricht im Bus in Tränen aus.
Ein Erschießungskommando.
Ein Zahnarzt hat einen schlechten Tag.
Eine Frau kämpft im Einkaufszentrum mit einem kaputten Schuh.
Zwischendurch fliegt ein Liebespaar über das zerbombte Köln.
Das ist in seiner extremen Hoffnungslosigkeit oft genau so absurd wie es sich liest; eine Mischung aus Kaurismäki, Bergman und Helge Schneider – zwischen grotesk, todtraurig und komisch.
Jede Szene besteht aus einer langen Einstellung, keine endet mit einer Pointe. Überall herrscht Tristesse. Es gibt keine Erlösung, keine Erklärung für den Zustand. Man muss einfach irgendwie das Beste daraus machen.
BOOKSMART (USA 2019, Olivia Wilde)
Das Regiedebüt der Schauspielerin Olivia Wilde könnte der neue Lieblingsfilm aller Teenagerinnen in den USA werden – eine poppig und unterhaltsam inszenierte High-School-Komödie über zwei BFFs (Kaitlyn Dever, gerade auch in der starken Miniserie UNBELIEVABLE auf Netflix zu sehen, und Beanie Feldstein, die Entdeckung aus LADY BIRD), die sich nach Jahren des Strebertums am Vorabend der Abschlussfeier endlich mal eine große Party gönnen möchten. Dass da so einiges drunter und drüber geht, kann man sich ja wohl denken!
Von den herkömmlichen Beispielen des Genres unterscheidet sich BOOKSMART eigentlich nur durch die zeitgemäße Gestaltung der beiden Hauptfiguren (beide sind Feministinnen, die eine liebt Frauen), ansonsten folgt der Film einer klassischen Drei-Akt-Struktur, sind viele Gags eher überdreht und die Darstellung jugendlichen Begehrens auch großraumkinotauglich und bieder (untenrum frei, aber der BH bleibt bitte dran!)
Das ist dann doch angesichts der Vorschusslorbeeren aus den USA, und gerade im Vergleich zu großartigen High School-Filmen der jüngeren Vergangenheit wie Greta Gerwigs LADY BIRD oder Bo Burnhams EIGHTH GRADE, ein bisschen wenig.
Die beiden Hauptdarstellerinnen sind aber super (ihre erste Szene: Knaller), der Abspann ein einziger Spaß, und einen sehr guten Soundtrack (kuratiert von Dan The Automator) hat BOOKSMART auch.

FOR SAMA (UK 2019, Waad al-Keteab / Edward Watts)
Der erschütterndste Film des Festivals ist das Videotagebuch der Journalistin Waad al-Keteab aus dem belagerten und bombardierten Aleppo im Jahr 2016. Al-Keteab begann schon 2012, die Revolution in ihrer Heimatstadt mit der Kamera festzuhalten. Sie heiratet den Arzt und regimekritischen Aktivisten Hamza, die Tochter Sama wird geboren. Als Assads Truppen beginnen, Aleppos regimekritische Viertel anzugreifen, ist Sama drei Jahre alt. Später folgen Bomben der russischen Luftwaffe.
Die junge Familie ist mittendrin. Al-Keteab hält vor allem die Arbeit ihres Mannes fest, der bald das letzte noch funktionierende Krankenhaus in Ost-Aleppo leitet. Die Zustände sind katastrophal. Doch beiden ist ihre Arbeit zu wichtig, deshalb entscheiden sie sich gegen die Flucht.
Die Bilder, die wir sehen, sind fast unerträglich. Wir erleben die Einschläge und das Chaos mit. Wir sehen schwerste Verletzungen. Und immer wieder weinende Kinder, schreiende Kinder, tote Kinder.
Sama ist dagegen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Mutter dokumentiert alles für sie und damit auch für uns, die ganze Welt.
Ein wichtiges Zeugnis aus einem fürchterlichen Bürgerkrieg, das man sich nicht ersparen sollte. Das ganze Kino hat geheult. Ich musste anschließend erstmal einen schweren Drink nehmen.
TOMMASO (ITA 2019, Abel Ferrara)
Abel Ferrara war persönlich zur Vorstellung seines neuen Films anwesend und bekräftigte im anschließenden Q&A das, was wir sowieso gesehen hatten: „We’re filming life, bro!“.
Der titelgebende TOMMASO ist ein amerikanischer Filmemacher auf Alkohol- und Drogenentzug, der mit seiner jungen Freundin und ihrer gemeinsamen kleinen Tochter in Rom lebt. Tommaso ist Abel Ferrara ist Willem Dafoe oder besser: ein Amalgam aus beiden.
In quasi-dokumentarischen Bildern (von Werner Herzogs Kameramann Peter Zeitlinger) begleitet der Film Tommasos Alltag: der Entwurf eines Storyboards für den nächsten Film, Yoga, die abendliche Expat-Selbsthilfegruppe, Meditation, Sprachunterricht, Kochen, Theaterkurse, der Gang mit der Tochter auf den Spielplatz.
Die Beziehungskrise mit der jungen, nach Unabhängigkeit strebenden Cristina (Ferraras Frau Anna spielt sich einfach selbst) löst in dem tief verunsicherten Künstler, der sich nach einem geordneten Familienleben sehnt, eine (weitere) Existenzkrise aus. Er kann nämlich auch nicht die Finger von seinen hübschen Schülerinnen lassen und fantasiert daher aus Schuldgefühl von Betrug, Gewalt, christlicher Erlösung.
Wenig Neues im Staate Ferrara also: Wer seine düsteren New York-Meisterwerke THE KING OF NEW YORK, THE FUNERAL oder natürlich BAD LIEUTENANT kennt, weiß, worauf er sich einlässt. Geändert haben sich nur Schauplatz und Produktionsweise. Für ein sehr geringes Budget ließ Ferrara einfach direkt im eigenen Apartment drehen und hielt die Kamera auf (den in Ferraras Nachbarschaft in Rom lebenden ) Willem Dafoe als Surrogat-Familienvater beim improvisierten Spiel im Café oder an der Straßenecke mit einem Obdachlosen.
Weil Dafoe bekanntlich ein fantastischer Schauspieler ist, kann man diesem fast zweistündigen, mit kräftigen Symbolen angereicherten Wiedergänger des neorealistischen Kinos einigermaßen interessiert folgen. Viel mehr als eine schön fotografierte und gut gespielte Nabelschau ist TOMMASO allerdings dann doch nicht.