Berlinale 2019, Teil 1.: System- sprengerinnen & verschwommene Grenzlinien
Die für den Mittag angesetzte Pressevorführung des Eröffnungsfilms am Donnerstag zu schaffen, wenn man am selben Tag im Westen des Landes in den Zug steigt, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit – vorher muss man ja auch noch den Koffer los werden und die Akkreditierung abholen. Doch dieses Mal war es nach gefühlt nächtlichem Reisebeginn eine Punktlandung.
Nur, wofür?
Lone Scherfig tragikomischer Reigen “The Kindness of Strangers” um einige in New York gestrandete einsame Seelen ist ein zuckriges Sozialdrama, das hier und da alle möglichen Knöpfchen der Zuschauermanipulation drückt – bei mir und der Mehrheit aller Kolleg_innen doch sehr erfolglos. Warum so etwas als Eröffnungsfilm derart repräsentativ gezeigt wird, bleibt eines der großen Rätsel von Dieter Kosslick letzter Berlinale.
Am Freitag gibt es mit sechs Filmen gleich die volle Packung. Es geht morgens los mit dem deutschen Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt. Der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag begleitet die Odyssee der neunjährigen Benni, die wegen ihrer Wutausbrüche von einer Pflegefamilie zur nächsten und von einem Heim ins nächste kommt. Nichts kann das traumatisierte Mädchen stoppen. Mit ihrer unbändigen Wut hält sie eine Heerschar hilfloser Sozialarbeiter und Psychologen in Schach. Weil sie zu jung für die Psychiatrie ist, wissen sich die Erwachsenen nicht mehr zu helfen. Bennie bringt sie und das System bis an seine Grenzen. Ein Film, der so enervierend ist wie die grandios von Helena Zengel gespielte Protagonistin. Mal dem Realismus verpflichtet, oft aber mit Kamera und Musik die Nervösität und Aggression von Benni aufgreifend. Und mitunter tauchen wir akustisch und visuell komplett in Bennis Wahrnehmung ein. Ein erster Höhepunkt!
Ganz anders der neue Film von François Ozon. Er widmet sich mit seinem Wettbewerbsfilm „Grâce à Dieu“ – „Gelobt sei Gott“ – einem in der Wirklichkeit tatsächlich noch laufendem Prozess um Kindesmissbrauch und unterlassener Hilfeleistung innerhalb der katholischen Kirche in Lyon. Entsprechend schnell ist der Film gedreht, und weil es darum geht, das jahrzehntelange Schweigen einer ganzen Reihe betroffener Männer zu brechen, wird viel geredet. Der Film wirkt beinahe dokumentarisch und hat eine überraschende Struktur, in der wir mehrmals die Hauptfigur wechseln: die Erzählperspektive wird wie ein Staffel von einem der Männer zum nächsten übergeben und damit werden auch unterschiedliche soziale Hintergründe durchdekliniert. Puristisch sicherlich, und einige werden hier mangelnde Kinoqualitäten monieren. Doch mit dieser Konzentriertheit verpflichtet sich Ozon voll und ganz seinem Thema. Und das in einer Aktualität, die man dem Kino eigentlich nicht zutraut.
Der mongolische Wettbewerbsbeitrag „Öndög“ von Wang Quan‘an („Tuyas Hochzeit“) genießt die Weite der mongolischen Steppe in vollen Zügen. Und ihre Langsamkeit! Eine nächtliche Querfeldein-Tour der Polizei stößt auf eine nackte Tote mitten im Nirgendwo. Ein Jüngling muss die Leiche in der Nacht bewachen. Eine alleinstehende Frau soll ihn unterstützen. Die ruft wiederum ihren Ex zu sich, wenn geschlachtet werden muss oder ein Kalb geboren. Einsame, aber gar nicht mal so traurige Seelen vor einsamer Landschaft könnte man dieses Szenario nennen, das nicht ohne Humor in eine fremde Welt entführt, die so faszinierend ist wie sie einen auch ratlos zurücklässt.
Nicht minder fremd ist einem Renaud Barrets Trip nach Kinshasa. Der Franzose hat schon Dokus über die örtliche Musikszene gedreht. Mit „Système K“ widmet er sich nun der vibrierenden Kunstszene der riesigen, desolaten Stadt, die vor allem mit Straßen-Perfomances im Alltag in Erscheinung tritt und so Kritik am Zustand des Landes übt: Als Elektroschrott zertrümmernder Berserker oder in blutgetränkter Badewanne durch die Straßen rollendes Mahnmal. Der Film reiht die einzelnen Künstler etwas konzeptlos hintereinander auf. Die jedoch sind so spannend in ihren Geschichten und mit ihrer Kunst, dass das nicht weiter auffällt.
Am Ende des Tages ein absolutes Highlight! „Bait“ des Briten Mark Jenkin erzählt eine kleine Geschichte aus einem Fischerdorf in Cornwall. Hier hat in den letzten Jahren der Tourismus Einzug gehalten und zugleich die Einheimischen ins Abseits gedrängt. Zumindest die, die sich nicht den Touristen unterordnen wollen. Dazu zählt ein knurriger Fischer, der inzwischen ohne Boot die Netze nur noch am Strand auswerfen kann. Sein Bruder hingegen nutzt das väterliche Boot für Kurztripps für prollige Touris. Und das gemeinsame Elternhaus ist längst als Feriendomizil an reiche Großstädter verkauft. Gedreht wurde in schwarzweiss, der Film von Hand entwickelt. Entsprechend grob und wechselhaft ist das Ergebnis. Auch der Ton schwankt zwischen laut und dumpf oder verweht.
Ästhetisch erinnert „Bait“ mit seinen beschädigten Bildern, aber vor allem den betont und absichtlich (und humorvoll) angelegten grob geschnitzten Vereinfachungen an Abenteuerfilme der 50er Jahre mit starker, überzeichneter Protagonisten / Antagonisten-Dichotomie. Und irgendwie auch an Tatis „Die Ferien des Monsieur Hulot“.
Einer meiner bisherigen Favouriten! Jetzt heißt es aber kürzer treten, sonst endet die Berlinale schnell im Krankenbett.
Den Samstag eröffnet der österreichische Wettbewerbsbeitrag „Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer. Die extrem durchorganisierte und erfolgreiche Unternehmensberaterin Lola, Anfang 30, wird mit den psychischen Problemen ihrer älteren Schwester konfrontiert, als diese nach einem Selbstmordversuch in die Psychiatrie kommt. Lola reagiert mit noch mehr zwanghafter Ordnung, aber irgendwann gerät auch sie aus dem Gleichgewicht. Es gibt gar nicht viel an diesem Film auszusetzen, der in sich stimmig ist und gut funktioniert. Alleine das Thema und vor allem die etwas plakative Ausschmückung der Karrierefrau, die man in letzter Zeit so ähnlich nicht nur in „Toni Erdmann“ sehen konnte, erscheinen etwas abgenutzt. Pia Hierzegger als Lolas kranke Schwester, Mavie Hörbiger als Lolas Geliebte und allen voran Valerie Pachner als Lola vermitteln trotzdem die angespannte Dringlichkeit ihrer Figuren, die zwischen Ordnung und Chaos nicht den gesunden Mittelweg finden.
Fatih Akins neuem Film ist sein Ruf bereits vorausgeeilt: „Der goldene Handschuh“ gibt nach der Buchvorlage von Heinz Strunk einen Einblick in das abgründige Leben des Serienmörders Fritz Honka. Der massive Alkoholiker lebte Anfang der 70er Jahre auf der Reeperbahn am Rande der Gesellschaft. Dass er unbemerkt vier Frauen töten konnte, liegt vor allem daran, dass seine Opfer noch mehr im Abseits der Öffentlichkeit als teils obdachlose Gelegenheits-Prostituierte existierten.
Das akribische Setdesign lässt die 70er Jahre zwischen dem Elend in seiner Dachkammer und dem Elend in seiner Stammkneipe wiederauferstehen. Gerade die Kneipenszenen bemühen sich auch um eine gesellschaftliche Perspektive. Doch insgesamt bleibt die Frage, warum dieser Film? Zwischen gutem Ausstattungshandwerk, Elendstourismus und Splatter ohne Suspense, bleibt nicht viel mehr als diese Taten eines Individuums.
In der Pressekonferenz erzählt der äußerst sympathische auftretende Akin, dass er Honka Würde verleihen wollte. Aber erstens misslingt das, wenn man ihn wie Quasimodo auf das Set stellt, und zweitens: Warum muss man ihm überhaupt Würde verleihen – und nicht vielmehr den Opfern? Backstories, wie sie es in Strunks Buch gibt, fallen im Film allesamt raus.
Sonntag ist natürlich kein Ruhetag, aber mit zwei Filmen fällt der Tag für mich überschaubar aus:
Doe Protagonistin im mazedonische Wettbewerbsfilm „God exists, her Name is Petrunja“ von Teona Strugar Mitevska, Petrunja, ist vielleicht kein Gott, aber vielleicht auch eine Systemsprengerin. Zumindest wird im Film die Frage gestellt: „Was, wenn Gott eine Frau wäre?“
Dann gäbe es den Konflikt des Films nicht. Denn die arbeitslose 32-jährige Petrunja, gerade auf dem Heimweg eines wieder erfolglosen Bewerbungsgesprächs, schnappt sich bei einer Zeremonie ein geheiligtes Holzkreuz. Eigentlich dürfen nur die Männer in den Fluss springen, und danach tauchen. Aber sie springt kurzer Hand in die Fluten und hält plötzlich das Kreuz in ihren Händen. Und will es nicht mehr her geben. Das entfacht einen zuweilen satirischen, dann wieder tragischen Blick auf die Frage nach Recht und Gesetz zwischen Kirche und Staat in dem kleinen Balkanstaat.
Ein pointiertes, politisches und feministisches Statement mit einer tollen Zorica Nusheva in der Hauptrolle.
Weil ein Agententhriller mit Diane Kruger außer Konkurrenz im Wettbewerb keine Option ist, geht es zum Panorama-Film „Monos“. Was für eine gute Entscheidung! Alejandro Landes variiert das „Lord of the Flies“-Thema mit seiner paramilitärischen Kindertruppe im kolumbianischen Hochland und dem Regenwald bild- und tongewaltig. Ein dröhnender Soundscape, der an „Arrival“ erinnert (die Komponistin Mica Levi nennt als Assoziation die Sounds bei einem EDM-Track, die vor dem Drop kommen) und fantastische Bilder ziehen einen in diese anfangs spielerische, aber zunehmend existentielle Extremsituation des Guerilla-Kriegs, in dem alle Grenzlinien verschwommen sind …