Berlinale 2024/2: explosive Katz und Maus-Spiele & die Kunst sich kurz zu fassen
Ein Rundgang über die fünfte und letzte Berlinale unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian.
Zweite Hälfte des Festivals
Nach der Hälfte des Festivals spürt man langsam die gesteigerte Müdigkeit und merkt, dass die Filme ab und an in ein Gespräch miteinander treten. In dem schlichten Beziehungsfilm, der nun auf dem Programm steht, reden aber vor allem die beiden im Titel benannten Protagonist*innen miteinander. Unauffällig und unaufgeregt inszeniert ist „Matt and Mara“ von Kazik Radwanski mit Deragh Campbell, Matt Johnson. Die Geschichte kreist innerhalb einiger Wochen elliptisch um die Literaturdozentin Mara, die mit ihrem Mann, Musiker in einer Underground-Band, und dem gemeinsamen, kleinen Kind zusammenlebt. All das gerät ins Wanken, als Mara ihren Ex Matt trifft, ein inzwischen erfolgreicher Schriftsteller.
Radwanski erzählt diese Geschichte einer Irritation des gut funktionierenden Alltags komplett unprätentiös. Der Film springt ohne Überleitungen von Szene zu Szene, ohne dass man sich verloren vorkommt. Im Gegenteil: die Figuren nähern sich dem Publikum mit einer Selbstverständlichkeit, die einen komplett in dieses Szenario fallen lässt. „Encounters“ heißt die Reihe, in der „Matt and Mara“ läuft, und soll nach der Idee der Berlinale Erwartungen, nach denen die anderen Sektionen kategorisieren, unterlaufen. Das passt allerdings weder zu dem Film, noch zu den anderen Sektionen, weil man nur selten versteht, warum welcher Film wo läuft.
Das ist hier einmal die Ausnahme: Im Forum läuft der dreistündige Essayfilm „Henry Fonda for President“ von Alexander Horwath, Autor, Kurator und Filmexperte, Direktor der Viennale (1992–97) und des Österreichischen Filmmuseums (2002–17) sowie Kurator des documenta 12-Filmprogramms (2007), und da gehört die kurzweilige Geschichtsstunde, die die Geschichte der USA mit der von Henry Fonda und seiner Familie wie in einer Art Doppelhelix mit viel Erkenntnisgewinn und nicht ohne Humor umkreist, auch hin.
Am nächsten Tag wird es heftig im Wettbewerb: „Des Teufels Bad“ von Veronika Franz und Severin Fiala entführt uns ins Jahr 1750. Die hochsensible und melancholische Naturliebhaberin Agnes heiratet Wolf und zieht mit ihm in eine kleines Steinhaus im Wald. Ihr Mann ist freundlich, doch schlichter Natur. Als er sich ihr im Bett verweigert, befallen Agnes Selbstzweifel und sie zieht sich immer mehr zurück. Schließlich ist sie so verzweifelt, dass sie sich umbringen will. Doch das ist von Seiten der Kirche eine weitaus schlimmere Sünde, als jemand anderen zu töten. Auf die Todesstrafe führt beides hinaus, doch Selbstmörder*innen kommen in die Hölle, während Mörder*innen nach der Beichte verziehen wird.
„Des Teufels Bad“ erinnert in ruhigem, erdigem Naturalismus an ein kaum bekanntes Kapitel, in dem vor allem Frauen zu hunderten in ihrer Verzweiflung dazu getrieben werden, um der Gnade willen, nicht sich, sondern jemand anderes, vorzugsweise Kinder, zu töten. In der Hauptrolle dieser konsequent inszenierten Ulrich Seidl-Produktion ist die Schauspieldebütantin Anja Plaschg mit einer beeindruckenden Verkörperung der zunehmend depressiven und religiös besessenen Agnes zu sehen. Als Soap & Skin ist Plaschg hingegen eine hinlänglich bekannte, anfangs als Wunderkind titulierte Musikern. Sie spielt in „Des Teufels Bad“ nicht nur die Hauptrolle, sondern hat auch die dräuende bis bedrohlich erdrückende Musik geschrieben.
Für einen Film von Hong Sang-soo ist der Wettbewerbsbeitrag „A Traveller’s Needs“ mit seinen 88 Minuten schon eher lang – meist liegen die Filme des Koreaners unter der 80 Minuten-Marke. Das obligatorische Besäufnis in seinen Filmen hält sich dafür in Grenzen, wenn der Film nur einen Nachmittag lang eine geheimnisvolle Französin dabei beobachtet, wie sie in Korea ihre neue Fremdsprachenlernmethode, die ihren Erfolg über die emotionale Verbindung zu den gelernten Sätzen hervorbringen will, an Kundinnen austestet. Dabei wiederholen sich die Gespräche auf sehr drollige Art mehrfach. Ebenso prägen ständig Missverständnisse beziehungsweise große Verwunderung über die kulturellen Differenzen die Kommunikation. Ein verwunderlicher, kleiner Film, für alle, die noch nie einen Film des Regisseurs gesehen haben. Für alle anderen einfach wieder ein neuer, fein beobachtender kurzweiliger Film von Hong Sang-soo, der bereits zum dritten Mal mit Isabelle Huppert zusammenarbeitet.
Fein ist an dem italienischen Wettbewerbsbeitrag „Gloria“ von Margherita Vicario kaum etwas. Der Film um eine Musikschule mit Waisenmädchen, die das zu der Zeit neue Klavier für sich entdecken und eine Komposition für den Papst schreiben nimmt nicht nur inhaltlich jedes Klischee, sondern auch in der Umsetzung jeden Effekt mit, der billig zu haben ist, inklusive elektronischem Beat unter der Musik der Mädchen – Baz Luhrmann lässt grüßen. Aber kann man überhaupt adäquat über einen Film schreiben, dessen Vorführung man vorzeitig verlassen hat? Wahrscheinlich nicht. Dass Kolleg*innen von Buh-Rufen nach dem Screening zu berichten wussten, legt aber nahe, dass der Film sein Konzept bis zum Ende durchgezogen hat.
Für „Spaceman“, der als Berlinale Spezial zu sehen ist, reisten auch Komödienstar Adam Sandler und Carey Mulligan nach Berlin. Johan Renck appelliert an Sandlers ernstes Potential und nutzt die Einsamkeit im All für Reflexionen über … Einsamkeit. Beziehungsweise den Wunsch nach Zweisamkeit und die Schwierigkeiten, ihn zu erfüllen in Angesicht der eigenen Egozentrik. Im Verhältnis zum intellektuellen und emotionalen Gehalt unternimmt Renck mit Cast und Crew überraschend viel Aufwand in Kauf.
Ähnlich konzentriert auf eine Raum-Zeiteinheit ist der skandinavische Wettbewerbsbeitrag „Vogter“ von Gustav Möller. In einem Gefängnis entfaltet sich zwischen einer Wärterin (sehr beeindruckend Sidse Babett Knudsen, bekannt aus der Serie „Borgen“) und einem Gefangenen in einem Hochsicherheitstrakt ein spannendes, explosives Katz und Maus-Spiel. Anfangs weiß nur die Wärterin um die Hintergründe, dann kann auch das Publikum zunehmend den Kontext erfassen, bis schließlich zum Finale auch der Insasse weiß, was hier gespielt wird. Die raumzeitliche Begrenztheit führt in Möllers Inszenierung auch zu einer inhaltlichen Fokussierung, die einen zusammen mit der bedrohlichen Körperlichkeit der Handlung sehr in den Bann zieht. Als mir am folgenden Tag der Darsteller des für Mord einsitzenden Häftlings im Pressezentrum der Berlinale entgegen kommt zucke ich spontan förmlich zusammen – bevor mir klar wird, wen ich da vor mir habe: den ganzkörper-tätowierten Darsteller Sebastian Bull, der ein wenig so aussieht, wie er heißt.
Kritiken schreiben, wenn man nicht bis zum Ende im Kino geblieben ist, ist fragwürdig. Und auch die Rahmenbedingungen des Sichtens sollten berücksichtigt werden. „Black Tea“ von Abderrahmane Sissako, der mit „Bamako“ (2006) und „Timbuktu“ (2014) seinem Ruf als spannende Stimme des afrikanischen Kinos gerecht geworden ist, thematisiert hier das Zusammenleben einer afrikanischen Diaspora in China. Aber nicht nur kulturelle Feinheiten wie die Teezubereitung sind hier der Kern der Erzählung, sondern auch zurückliegende Lieben und der damit verbundene Schmerz sowie der Versuch, diesen Schmerz aufzulösen. In statischen Einstellungen zeigt der Film verschiedene Figuren in einem chinesischen Stadtteil, die um ihre Gefühle zueinander und zu ihrer Vergangenheit kreisen, aber irgendwie hat man das Gefühl, der Film kommt zwischen seinen Protagonist*innen und ihren Schwierigkeiten nicht so recht auf den Punkt.
„Mé el Ain“ („Who do I belong to“) ist ein tunesischer Beitrag im Festival. Es ist das Langfilmdebüt von Meryam Joobeur, die sich den Traumata durch den IS auf eine ungewöhnliche Art nähert. Die beiden älteren Söhne von Aicha sind plötzlich weg. Als einer von ihnen wieder auftaucht, hat er eine Frau bei sich, die immer Nikab trägt und kein Wort spricht. Schnell ist klar, dass sich die Brüder zu IS-Kämpfern haben ausbilden lassen und der zweite Bruder tot ist – doch wer die geheimnisvolle Frau ist, kann auch Aicha in ihren ahnungsvollen Träumen nicht erkennen. Durchzogen von geisterhaften Momenten entfaltet der Film eine unausweichliche, unheilvolle Stimmung. Das Grauen und der Schmerz durch den IS wird nur in den wortkargen, leeren Augen transportiert. Mitunter schwebt der Film etwas bedeutungsschwanger symbolisch und schwelgerisch über den Dingen und bleibt dabei sehr vage und abstrakt, dann wieder überzeugt er mit seiner Darstellung der Hilflosigkeit gegenüber dem gedanklich und emotional kaum verkraftbaren Hintergrund.
Wiederum als Berlinale Spezial, also in jener merkwürdigen Reihe, die es dem Festival erlaubt, einige Stars auf den Roten Teppich zu holen, läuft „Seven Veils“ von Atom Egoyan. Egoyan ist mit seinen Filmen schon oft im Wettbewerb gelaufen, und auch sein neuer Film mit Amanda Seyfried ist kunstvoll verschachteltes Arthauskino.
Jeanine (Seyfried) übernimmt die Inszenierung von Richard Strauss’ „Salome“, die einst ihr gerade verstorbener Mentor und ehemaliger Liebhaber Charles erarbeitet hatte. Während der Proben entstehen spannungsreiche Konflikte zwischen ihr, den Sänger*innen, der Leitung des Opernhauses und der stark involvierten Witwe von Charles. Die Zooms mit dem Vater ihrer Tochter und dessen neuer Liebschaft tun ihr Übriges, um Jeanine in eine Überforderung aus der gegenwärtigen Aufgabe und vergangenen Traumata nicht zuletzt durch ihren eigenen Vater zu stürzen. Klingt überladen? Ist es irgendwie auch, doch andererseits meistert Egoyan dieses schwer belastete Gefühlsgeflecht souverän, spiegelt in seiner Dramaturgie ständig die Ebenen und baut auch noch eine Reflexion der Medien ein. Und doch wird das Ganze nicht allzu heavy, denn immer wieder huscht auch eine leichte Note oder ein kleiner Witz durchs Bild.
Mit dem letzten Wettbewerbsbeitrag „Shambhala“ reist die noch anwesende, aber bereits deutlich dezimierte Presseschar für zweieinhalb Stunden ins nepalesische Hochland. In teils extrem langen Einstellungen wohnen wir dem Alltag in einer von der Zivilisation abgeschiedenen Berggemeinde bei. Einziges Merkmal der Gegenwart bleiben eine digitale Armbanduhr und ein Plastikspielzeug – ein Flugzeug. Der nepalesische Filmemacher Min Bahadur Bham studierte buddhistische Philosophie und Politikwissenschaft. Sein erster Spielfilm war nepalesischer Oscar-Beitrag, „Shambhala“ ist der erste nepalesische Film, der auf der Berlinale im Wettbewerb zu sehen ist. Die großartige Thinley Lhamo spielt Pema, die Tashi heiratet, und damit automatisch auch dessen Brüder, den Klosterbruder Karma und Darwa, der als Kind noch zur Schule geht. Als Tashi mit der Handelskarawane für Monate fort muss, freunden sich Pema und Dawas Lehrer Ramm Si an. Schnell gibt es Gerede, und als Pema schwanger wird, verbreitet sich das Gerücht, das Kind sei von Ram Si. Davon erfährt in der Ferne auch Tashi, der daraufhin verschwindet. Die schwangere Pema macht sich nun auf, ihn zu finden. Nicht nur nach vielen Filmen und zunehmender
Übernächtigung erscheint der Film wie eine Meditation über traditionelle Werte und feministisches Selbstverständnis. Den buddhistischen Hintergrund des Filmemachers sollte man bezüglich der schlichten, mitunter schematischen Dramaturgie mit einbuchen.
Zum Zeitpunkt des Schreibens rückt die Preisverleihung in die Nähe. Und als es dann soweit ist, muss man feststellen, dass trotz aller Fleißarbeit der Goldene Bär ausgerechnet an einen Film geht, den man leider nicht sehen konnte – der Dokumentarfilm „Dahomey“ von Mati Diop über die Rückgabe von kulturellen Schätzen, die in der Kolonialzeit geraubt wurden. In einem Wettbewerb mit einigen überlangen Filmen ist es mit 67 Minuten Laufzeit ausgerechnet der kürzeste. Auch das ist eine nicht zu unterschätzende Kunst: sich kurz fassen!
Im kommenden Jahr dürfen wir uns dann auf eine erste Berlinale unter der neuen Leiterin Tricia Truttle freuen.