Berlinale Streifzug 2018 Teil 2: „Filgia mia“, „Last Child“, „Utøya, 22. Juli“, „3 Tage in Quiberon“, „Ang Panahon ng Halimaw“

Trauerarbeit, Terroralarm & Trauerlied

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Ang Panahon ng Halimaw | Season of the Devil | In Zeiten des Teufels (© Giovanni D. Onofrio)

Filmische Trauerarbeit in Echtzeit-Realismus und als Singspiel

Das italienische Kino hat zwar einen hervorragenden Ruf, doch der baut vor allem auf den neorealistischen Filmen der Nachkriegszeit auf. Erst in den letzten Jahren haben Regisseure wie Paolo Sorrentino den guten Ruf des italienischen Films aktualisiert. Laura Bispuri steht der Tendenz mit „Figlia mia“ („Meine Tochter“) nicht im Weg: In einem kleinen italienischen Fischerdorf mit ein klein wenig Tourismus ist die Geschichte um die zehnjährige, auffallend rothaarige Vittoria angesiedelt. Sie lebt mit ihrer fürsorglichen Mutter und ihrem freundlichen Vater wohlbehütet auf, ist aber eine Außenseiterin. Vielleicht wegen der roten Haare, die weder ihre Mutter noch ihr Vater haben. Und komisch, dass Angelica, die komplett abgestürzte Freundin ihrer Mutter, die einsam auf einem verwahrlosten Bauernhof lebt, ihr viel ähnlicher sieht. Unter dieser wackeligen Prämisse, dass in zehn Jahren niemand auf der Insel sieht, dass natürlich Angelica die biologische Mutter von Vittoria ist, ächzt der Film. Aber das emotionale Hinundher, in das Vittoria gerät, als sie Angelica näher kennenlernt und in ihr schließlich ihre trinksüchtige und verarmte Mutter erkennen muss, und die tollen Leistungen der Darstellerinnen,tragen den Film ganz gut. Die Plausibilität leidet zwischendurch, aber die Atmosphäre ist stimmig.

Viel ruhiger geht es hier zu: „Last Child“ von dem Koreaner Shin Dong-seok schaut einem Ehepaar dabei zu, wie es den Verlust des eigenen Sohnes verarbeitet. Der ist bei der Rettung eines Schulfreundes selber in einem Fluss ertrunken. Dem von Schuld gebeutelten überlebendem Jungen die Rückkehr ins Leben zu erleichtern, hilft schließlich auch den trauernden Eltern. Doch als sich die Todesumstände ihres Sohnes schließlich als doch ganz anders geartet herausstellen, zieht ihnen das regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Fast ohne Dramatik ist „Last Child“ vor allem ein Film, der beobachtet und dem Zuschauer Zeit lässt, genau hinzusehen, wie Trauerarbeit funktioniert – oder auch nicht. Letztendlich kann das Debüt aber nicht zu einem Meister des leisen Erzählens wie Hirokazu Koreeda („Nowbody Knows“) aufschließen.

Terroralarm am Montag: Gleich zwei Wettbewerbsfilme setzten sich mit dem Thema Terror auseinander. „Utøya, 22. Juli“ von Erik Poppe widmet sich dem Massaker, das Anders Breivik in einem Jugendcamp auf der Oslo vorgelagerten Insel Utøya angerichtet hat. Poppe greift sich exemplarisch einen (fiktiven) Teenager heraus: Kaya ist mit ihrer jüngeren Schwester Emilie im Camp. Als die ersten Schüsse fallen, sind sie wegen eines Streits getrennt. Im folgenden begleitet der Zuschauer Kaya bei ihrem Versuch, zu flüchten und gleichzeitig ihre Schwester zu finden. Nah dran, aber dadurch sehr auf ein Individuum konzentriert, streift Poppe unterschiedliche traumatische Momente und erfasst die Panik und Hilflosigkeit der Teenager gut. Insgesamt fehlt aber der übergeordnete Gedanke, der den Film aus einem besseren Reenactment mit Spannungsmomenten erhebt. Das ist etwas gemein und verkürzt, denn was bei dieser schrecklichen Tat alles zerstört wird, transportiert der Film tatsächlich (inklusive einer bestürzenden Sterbeszene), aber wohin diese Schau des Leidens führen soll, wird nicht klar. Der narrative Twist am Schluss ist dann richtig ärgerlich und vollkommen unpassend.

Mit „3 Tage in Quiberon“ erzählt Emily Atef von einem Zusammentreffen zweier Journalisten vom Stern mit Romy Schneider in einem französischen Kurhotel im Jahr 1981. Schon rein physiognomisch ist Marie Bäumer die Idealbesetzung, und auch den für Romy Schneider so eigenen, zarten Sprachduktus hat sie sich angeeignet. Die Reporter sind abgeschmackt und übergriffig, wie man es befürchten muss, und nutzen Schneiders offensichtlich labilen Zustand aus, um tief in ihrer Seele zu graben. In geschmackvollem Schwarzweiss ist der Film gedreht, und auch das Ambiente ist stimmig. Bäumer verkörpert einen zwischen verzweifelter Lebenslust und deprimierter Selbstaufgabe schwankenden Weltstar.

Am Abend steht „Ang Panahon ng Halimaw“ („In Zeiten des Teufels“) von Lav Diaz auf dem Programm. Nachdem im letzten Jahr ein achtstündiges Werk des wohl radikalsten Vertreters des Slow-Cinema im Wettbewerb lief, kommt sein neuer Film nur auf vier Stunden. Die Ärztin Lorena verlässt den Dichter Hugo, um in einem Dorf eine Armenklinik aufzubauen. Das Dorf wird von Paramilitärs der Marcos-Diktatur terrorisiert, die Oppositionelle und Kommunisten einschüchtern, schikanieren und auch verschleppen und töten. Als Hugo Lorena nachreist, ist sie verschwunden … Im Gegensatz zu Erik Poppe versucht Lav Diaz gar nicht erst, das Grauen realistisch auf die Leinwand zu bannen. Sicherlich beeinflusst von Joshua Oppenheimers grandioser Dokumentation „The Act of Killing“, wo vergleichbare Ereignisse in Indonesien – so irre das klingt – von den damaligen Tätern als Musical im Reenactment inszeniert werden, ist Diaz‘ Film ein Singspiel, das durch Dauer und Wiederholung seine Wirkung entfaltet. Ein vierstündiges Trauerlied für sein Mutterland und die Opfer dieser Geschichte.

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