Wenn Aleppo als sicher gilt…
Montag
Fast schon Berlinale Bergfest. Der Eindruck, dass sich die Wettbewerbsqualität in diesem Jahr in Grenzen hält, ändert sich auch heute nicht. In „Helle Nächte”, dem neuen Film von Thomas Arslans, einer der zentralen Figur der sogenannten Berliner Schule, steht ein Vater-Sohn Konflikt: Michael (Georg Friedrich) reist nach dem Tod des eigenbrötlerischen Vaters für das Begräbnis zu dessen Wohnort in Norwegen. Mit dabei sind sein 15-jähriger Sohn Luis (Tristan Göbel – kennt man aus „Tschick“), mit dem er seit der Trennung von dessen Mutter kaum noch Kontakt hatte. Arslan ist ausgewiesener Minimalist: wenig Worte, viel Landschaft. Doch wo wenig mehr sein soll, muss Präzision herrschen. Aber Arslan verliert sich leider in Plattitüden und Alltäglichkeiten, und irgendwann beginnt man sogar, sich über Kleinigkeiten, eine narrative Schwäche hier, ein Logikfehler dort, zu ärgern – ein schlechtes Zeichen.
Sally Potters „The Party“ ist mal wieder Kontrastprogramm: Nur 71 Minuten ist ihr in der intellektuellen britischen Elite angesiedeltes Kammerspiel lang, und erscheint einem ob der kurzweiligen Erzählkunst und des abrupten Endes sogar noch kürzer. Es geht um moderne Lebensentwürfe, Politik, Moral und Kultur. Das Starbesetzte Cast mit unter anderem Kristin Scott Thomas, Patricia Clarkson und Bruno Ganz tobt agil durch die dialogreiche Komödie, die einem vorkommt wie akademisches Boulevardtheater. Endlich kommt mal Stimmung auf bei einer Pressevorführung!
Nach “The Party” suche ich „Mr. Long“ von Sabu auf. Der Japaner hat in den 1990er Jahren einige großartige, parabelhafte Filme produziert. In den letzten 15 Jahren kam jedoch fast keiner seiner Filme in die deutschen Kinos – um so größer die Erwartungen an „Mr. Long“, der von einem Killer erzählt, der fliehen muss und an einen kleinen Jungen, dessen drogensüchtige Mutter und eine handvoll liebenswerter Anwohner gerät. So erfährt er eine kurze Utopie eines friedlichen Lebens. Sabu schmeißt Genres zusammen und überzeichnet und konterkariert Gewalt mit Humor. Das weckt vor allem Erinnerungen an seine alten Filme und Kollegen wie Takeshi Kitano (dessen Meisterwerk „Sonatine“ erzählt von einer ähnlichen Sehnsucht, spielerisch aus der Gewaltspirale auszubrechen).
Dienstag
Der Wettbewerbstag beginnt mit „Die andere Seite der Hoffnung”, dem von vielen sehnsüchtig erwarteten neuen Werk von Aki Kaurismäki – der am Ende mit dem bislang größten Applaus belohnt wird. Der Film ist der zweite Teil seiner Hafen-Trilogie, die längst zur Flüchtlings-Trilogie geworden ist, wie Kaurismäki in der Pressevorführung anmerkt.
Ein syrischer Flüchtling muss untertauchen, nachdem sein Asylantrag in Finnland nicht anerkannt wird, weil Aleppo als sicher gilt. Sicher ist indes nicht mal Finnland, wo Khaled von nationalistischen Schlägern schikaniert wird. Zur gleichen Zeit verlässt der Finne Wikström seine trinkende Frau, verkauft sein Lager mit Hemden und macht sich als Restaurantbesitzer selbständig. Die beiden Geschichten finden bei einer Schlägerei zwischen Mülltonnen zusammen. Danach trinken Khaled und Wikström mit Wattepads in ihren ramponierten Nasenlöchern auf ihre neue Freundschaft.
Kaurismäki hat mit seiner gedeckten Farbfeldästhetik, der kargen Retroausstattung vom alten Lampenschirm bis zum coolen Oldtimer und dem minimalistischen Spiel der Darsteller längst eine Parallelwelt erschaffen, in der er sich seinen Utopien hingeben kann. Schon „Le Havre“, der erste Teil der Trilogie, ging als Märchen durch. Hier ist es ähnlich. Gesellschaftlich und politisch geerdet sind seine mit trockenem Humor durchsetzten Filme aber trotzdem. Nicht nur der Film, sondern auch die folgenden Pressekonferenz war ein Highlight. Kaurismäki brillierte als Humanist, der unangenehme Fragen nach der Islamisierung Europas mit dem Humor seiner Filme abbügelte. Islandisierung? Nein, die fürchte er nicht. Dann animiert er seinen Hauptdarsteller, einen finnischen Tango anzustimmen, um die ärgerliche Frage zu vergessen. Zur Begeisterung der Anwesenden legt dieser mit wunderschöner Stimme sogleich los.
Anschließend steht Andres Veiels „Beuys“-Dokumentation auf dem Programm. Veiel konzentriert sich auf den gesellschaftlichen Kontext von Beuys rahmensprengendem Kunstbegriff. Der Film ist mit seinen visuellen Einfällen schön gemacht, auch wenn etwas bemüht, im Versuch, eine ästhetische Klammer zu finden.
Aisling Walshs „Maudie“, der ähnlich wie die Wettbewerbsfilme „außer Konkurrenz“ in der etwas undurchsichtigen Reihe „Berlinale special“ läuft, erzählt von dem Leben der naiven Malerin Maud Lewis. In den Hauptrollen sind Sally Hawkins und Ethan Hawke als ungehobeltes, aber liebenswertes einfaches Paar zu sehen. Der recht konventionelle Film changiert zwischen süß und rührseelig.
Mit „Foreign Body“ (Originaltitel: „Jassad gharib“) hat der Tag noch einen kleinen Höhepunkt. Regisseurin Raja Amari begleitet eine Tunesierin, die illegal nach Lyon gekommen ist, bei ihrem Versuch, Fuß in Europa zu fassen. Die Regisseurin packt vielleicht etwas viel in das Drama – San Papiers, Dschihad, Selbstbestimmung der Frauen im Islam – findet aber einen gelungenen Erzählansatz: Die Figuren funktionieren gleichermaßen als Individuen wie als Typen. Die Darsteller, allen voran der palästinensische Arthaus Star Hiam Abbas, überzeugen ebenso wie der gute Soundtrack zwischen arabischem R&B und House. Langsam beginnen die Filme jetzt, untereinander in‘s Gespräch zu kommen. Szenen gleichen sich oder gehen in einen Dialog miteinander, Figuren wie Kaurismäkis Syrer und Amaris Tunesierin ergänzen sich.
Mittwoch
Spätestens zur Halbzeit des Festivals gibt es dann den Moment, an dem man endlich der Vernunft nachgibt, und einmal ausschläft und nach einem vernünftigen Frühstück all die Texte schreibt, die sich angesammelt haben. Und dadurch schweren Herzens den morgendlichen Wettbewerbsfilm verpasst …
Nachmittags geht‘s dann in alter Frische zum dritten Kammerspiel im Wettbewerb – dieses Mal in einer kleinen Bar in Madrid angesiedelt: Álex de la Iglesia lässt in „El Bar“ zwei Hand voll unterschiedlicher Charaktere, vom versifften Obdachlosen bis zum poshen Girl aufeinander los, nachdem einer der Gäste beim Verlassen der Kneipe auf der Strasse erschossen wird. Im nu sind die Straßen leer, und die illustre Gesellschaft ist ganz auf sich gestellt. Langsam bröckelt der zivilisatorische Kitt. Überdreht, slapstickhaft und natürlich auch mit Ekelpotential sieht das Ganze aber leider wie ein besserer direct-to-DVD-Release aus.
Jetzt muss doch noch was kommen! Also schnell zu „From the Balcony“ gerannt. Der Däne Ole Giæver konnte im vorletzten Jahr mit seiner selbstentblößenden Ein-Mann-Komödie „Mot naturen“ überzeugen. Auch sein neuer Film ist von Anfang bis Ende Seelenstriptease – dieses mal aber dokumentarisch. Der Film ist eine Collage aus Videotagebuch des erwachsenen Ole – Bilder seiner Familie, seine Einzelgänge und fiktive Filmskizzen – und alten Familienaufnahmen aus seiner eigenen Kindheit. Unterlegt sind die Bilder hauptsächlich vom Stream of Consciousness des Filmemachers über seine Gefühle, beziehungsweise, das Gefühl, von seinen Gefühlen getrennt zu sein. Er redet von seinen Ängsten und Wünschen, hat aber auch größere, kosmische Gedanken über den Menschen, das Leben und die Welt. Klingt egomanisch und ernst und ist es auch, wird aber immer wieder von einem schön bekloppten Humor abgefedert.
Zum Tagesausklang gibt es den rumänischen Film „1945“ von Ferenc Török, der im Panorama zu sehen ist. Zwei Juden steigen kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem ungarischen Dorf aus dem Zug. Gleich schlägt ihnen Misstrauen von den Dorfbewohnern entgegen, üble Absichten werden ihnen unterstellt. Doch schnell wird klar: Schlechtes Gewissen schürt die Angst. Der Schwarzweiss-Film erzählt altmodisch und klar wie in einem Western, was das Fremde auslöst – und damit vor allem von den Ansässigen. Man könnte „1945“ einen historischen Film nennen, stünde vor dem Berlinale-Palast nicht seit Tagen ein Mann mit den immer gleichen alten antisemitischen Plakaten über die vermeintliche zionistische Weltverschwörung, repräsentativ für einen neuen Antisemitismus vor allem in Europa. Und dieser Film kommt nicht zufällig aus Ungarn.
Drei Filme in sechs Stunden – das muss erst mal reichen. Bis morgen früh, wenn man im Wettbewerb große Hoffnung auf den neuen Film „On the Beach at Night alone“ des Koreaners Hong Sangsoo setzen darf.