Berlinale 2019

Berlinale 2019, Teil 3: Acid, Blut am Auto – und der Goldene Bär für …

„Synonymes“ (Regie: Nadav Lapid)

Der letzte Text endete mit dem durchwachsenen „Elisa y Marcela“ von Isabel Croixet. Doch es soll nicht unterschlagen werden, der Mittwoch hatte noch einiges mehr an Filmglück zu bieten.

Zum Beispiel den dritten Wettbewerbsfilm des Tages: „Synonymes“ von Nadav Lapid erzählt leicht autobiografisch von einem Israeli, der seinem Land entflieht. Warum genau, wird nur vage klar: Die geforderte Linientreue ging dem Ex-Soldaten wohl an die Substanz. Von Frankreich macht er sich hingegen eine wunderbare Vorstellung: Kultur, große Altbauwohnungen, schöne Frauen und die Meinungsfreiheit.
Doch direkt nach der Ankunft wird ihm all sein Habe geklaut. Ein junges, gutbürgerliches, intellektuelles Paar nimmt ihn auf. Von nun an irrt er durch die Stadt auf der Suche nach seinem Wunschbild einer anderen Heimat und vielleicht auch einer anderen Identität. Seine alte versucht er demonstrativ los zu werden, indem er sich weigert, Hebräisch zu sprechen und stattdessen Schimpfworte lernt, um damit seine Heimat zu titulieren. Worte als Grundlage für Identität spielen hier eine große Rolle.
Nicht nur wegen der Präsenz der Worte fühlt man sich bei Lapids Film an den jungen Godard erinnert, der in den späten 50er und frühen 60er Jahren voller Ideen und Humor bestehende Kinoregeln attackierte. Und tatsächlich erinnert der Hauptdarsteller Tom Mercier auch an den jungen Belmondo. So eine radikale Wirkung kann heute ein solcher Film nicht mehr entfalten, aber nach diesem schnellen, wilden, freien Film ist man zumindest beglückt und völlig außer Atem.

„Kislota“ (Regie: Alexander Gorchilin)

Eine Überraschung ist auch ein russischer Film im Panorama-Programm: „Kislota“, was so viel wie „Acid“ heißt. Er stammt von dem erst 26 Jahre jungen Schauspieler Alexander Gorchilin, der mit seinem Film über eine orientierungslose russische Jugend seinen erstaunlich souveränen Einstand als Regisseur gibt. Die gut behütete Jugend schliddert zwischen Party, Drogen, Sex und allerlei Unsinn ziellos umher. Väter gibt es keine: Sie leben, so Gorchilin im anschließenden Q&A, entweder getrennt von ihrer Familie, sind im Gefängnis oder Tod. Vielleicht kann deshalb einer wie Putin als Übervater eine solche Macht entfalten. Auf dieser Ebene kann man Gorchilins Hinweis auf den Regisseur Kirill Serebrennikow („Leto“) auch lesen. Der steht unter Hausarrest und sieht einem unfairen Prozess entgegen. Serebrennikow ist Gorchilins künstlerische Vaterfigur. Sein eigener erster Film erinnert zu Beginn ein wenig an „Trainspotting“, fängt sich dann aber und wird eine genau beobachtete Gesellschaftsstudie. Eine erstaunliche Leistung für ein Debüt und einen derart jungen Regisseur.

“Di jiu tian chang“ („So long, my Son“) (Regie: Wang Xiaoshuai)

Der Donnerstagmorgen empfängt die Pressemeute mit dem dreistündigen chinesischen Wettbewerbsbeitrag “Di jiu tian chang“ („So long, my Son“) von Wang Xiaoshuai. Es ist ein breit angelegtes Familiendrama, das zugleich über mehrere Jahrzehnte die Geschichte Chinas spiegelt: Yaojun und Liyun verlieren ihren Sohn, als er beim Spielen in einem Stausee ertrinkt. Der Sohn ihrer besten Freunde war dabei und fühlt sich seitdem ebenso wie dessen Eltern mitschuldig.
In Elipsen, deren Zeitbrüche kaum gekennzeichnet sind und zur ständigen Aufmerksamkeit mahnen, kreist der Film behutsam durch die Jahrzehnte – von den ersten Jahren nach Maos Tod Ende der 70er Jahre bis in die Gegenwart und zurück – und schildert gleichermaßen das ganz private Glück und Unglück der Familien wie auch die großen politischen und gesellschaftlichen Hintergründe und zeigt, wie sehr beides miteinander verbunden ist. Ein toller, sehr reichhaltiger Film, der alleine von der Länge her schon eine Miniserie sein könnte. Am Schluss wird dann vielleicht der ein oder andere lockere Faden zu viel sauber verknüpft und auch die Zeitebenen werden zum Ende nicht mehr so anregend vermischt – aber das ist Kritik auf hohem Niveau.
Die Kulturrevolution Maos ist nicht konkret Thema des Films, eher die Zeit danach. Die Kulturrevolution hätte hingegen Altmeister Zhang Yimou mit seinem neuen Film „Yi miao zhong“ („One second …“) in den Wettbewerb getragen. Am Montag hieß es, aus technischen Gründen falle der Film aus. Kurz vor der Eröffnung wurde bereits „Better Days“ von Derek Tsang aus dem Programm genommen. Angeblich ist die Produktion aus Hong Kong und China nicht rechtzeitig fertig geworden. Als Wang Xiaoshuai auf der Pressekonferenz die Zensurbestimmungen in China erläutern will, geht die Produzentin dazwischen …

„Jessica Forever“ von Caroline Poggi und Jonathan Vinel ist dann wieder mal ein Film, bei dem einem ständig die Kinnlade runter fällt. In einer nahen Zukunft werden Waisen von Kampfdrohnen gejagt und getötet. Ob die Teenager erst „schlimme Dinge“ gemacht haben, wie wiederholt angedeutet wird, und sie deswegen gejagt werden, oder andersherum? Klar ist: Jessica sieht trotz allem das Gute in ihnen. Die junge Frau hat ein dutzend zu Kampfmaschinen mutierte Teenager um sich geschart und kümmert sich liebevoll um sie. Das heißt auch: gemeinsamer Mittagsschlaf, Geschenke, zärtliche Umarmungen und aufmunternde Worte.
Der Film ist ein wilder Mix aus Game-Ästhetik, Vorort-Tristesse, Villen-Cleanheit, Werbe-Chic, Fantasy und Videoclip und dann noch so was wie ein Sozialarbeiterdrama mit einer Art Jeanne d’Arc im Mittelpunkt, unterlegt von Black Metal, Drones und anderem Zeugs …

Nach einigen Tagen reden auf einem solchen Festival nicht nur die Kritiker über die Filme, die Filme beginnen auch untereinander einen Dialog. Zum Beispiel die französische Truppe aus „Jessica Forever“ mit den jugendlichen Guerillas aus dem kolumbianischen Film „Monos“ oder den sizilianischen Teenie-Mafiosi aus „La Paranza die Bambini“ und sogar mit den russischen Jugendlichen aus „Acid“. Die Filme sind letztendlich ganz unterschiedlich und auch ganz unterschiedlich gut. Aber wo kommen die ganzen Kinderbanden plötzlich her? Nicht zu vergessen die neunjährige Einzelkämpferin aus „Systemsprenger“!

Freitag, das Finale!
Da Zhang Yimous Film ausfällt, gibt es heute keinen echten Wettbewerbsfilm mehr. Nur einen aus dem immer noch rätselhaften Konstrukt „Wettbewerb (außer Konkurrenz)“: „Amazing Grace“ verwendet nach über 45 Jahren Filmmaterial, das Sydney Pollack für Warner Brothers gedreht hat, aber aus technischen Gründen nie veröffentlicht wurde. Gedreht wurde während der Aufnahmen zu Aretha Franklins Gospelalbum „Amazing Grace“, das erfolgreichste Gospelalbum aller Zeiten. Aufgenommen wurde es mit dem Southern California Community Choir unter der Leitung von Reverend James Cleveland an zwei Tagen im Jahr 1972 in der New Temple Missionary Baptist Church in L.A. Verwendet wird für den Film ausschließlich Originalmaterial von Pollacks Dreh, das mit seiner Körnung sehr schön aussieht.
Aber wenn man weder mit Gospel noch mit Religion etwas anfangen kann, ist man bei diesem reinen Konzertfilm außen vor. Denn Kontextualisierung jenseits der üblichen Konzertfilm-Bilder – Techniker laufen umher und stöpseln Kabel ein und Ähnliches – gibt es hier nicht viel. Die Publikumsreaktionen zu beobachten, macht eine Weile Spaß (einmal taucht kurz der Kopf von Mick Jagger auf, der zu dieser Zeit mit dem Rolling Stones-Album „Exile on Main Street“ selber wieder tief im Erbe schwarzer Musik wühlte). Warum der Film im Wettbewerb, wenn auch außer Konkurrenz, läuft, bleibt unklar.

„Woo Sang“ (Regie: Lee Su-jins)

Nach neun Tagen, 27 Filmen und zwei halben (ja, manchmal muss man mittendrin auch mal die Segel streichen) und einem inzwischen sehr großen Bedürfnis, draußen das wunderbare Sonnenwetter zu genießen (selten gab es eine solch frühlingshafte Berlinale) steht mein letzter Film der diesjährigen Berlinale an – und kein leichter. Im Panorama läuft das Gegenteil von Frühling und Sommer: Lee Su-jins düsterer Thriller „Woo Sang“ begleitet einen Politiker, der nach einer Reise seine Frau in der Garage vorfindet, wo sie Blut vom Auto abwäscht – daneben eine Leiche. Der Sohn hat einen Passanten überfahren. Gegen den Widerstand seiner Frau stellt sich der fahrerflüchtige Sohn. Wie sich danach in zweieinhalb Stunden auf der Leinwand die Geschichte immer wieder dreht, wendet, an unerwarteter Stelle neu öffnet und dann wieder abbiegt, lässt kaum Zeit, sich den zwischen allerlei Intrigen und Brutalitäten fein eingewobenen Gefühlszeichnungen dieses südkoreanischen Films hinzugeben. Da bleiben einige Fragen offen.

Für die Berlinale bleibt indes nur noch die große Frage nach den Bären offen.
Warum welche Filme in dieser oder jener Sektion laufen wird das ewige Geheimnis der Kuratoren bleiben. Vielleicht wird das Profil mit dem neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian, der ab 2020 vom Locarno Film Festival kommend Dieter Kosslick ablöst, etwas klarer. Vielleicht im Wettbewerb auch etwas besser. Aber auch wenn viel Mittelmaß ohne visionäre ästhetische Konzepte im Wettbewerb lief, die Highlights waren da. Und wem das nicht reichte, der konnte bei 400 Filmen auch viele bemerkenswerte und begeisternde Filme in den anderen Sektionen erleben.

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