Berlinale 2024/1: Reiseverbote, Science Fiction und Natur
Berlinale 2024
Ein Rundgang über die fünfte und letzte Berlinale unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian.
Erste Hälfte des Festivals
Die 74. Berlinale ist die erste nach der Pandemie, die wieder uneingeschränkt stattfindet, und zugleich ist sie die letzte, die Carlo Chatrian als künstlerischer Leiter zu verantworten hat. 2020 übernahm der ehemalige Leiter des Festivals in Locarno die Leitung des deutschen Festivals der A-Klasse während der gerade aufkommenden Pandemie. Seine zweite Ausgabe fand nur Online statt, die dritte sehr eingeschränkt und erst 2023 ging es dann mit fast normalem Programm weiter. Doch da zeichneten sich schon Sparzwänge ab, die dazu führten, dass die nun 74. Berlinale mit stark reduziertem Programm von knapp 200 Filmen von ehemals ca. 350 Filmen startet. Sie beschließt Chatrians kurze Karriere in Berlin.
Die Umstrukturierung der Berlinale durch das Bundesministerium für Kunst und Medien führte zur eventuell einkalkulierten Nichtverlängerung des Vertrags des künstlerischen Leiters. Er sah für sich keinen Platz mehr beim Festival. Die Ernennung der neue Leiterin Tricia Truttle, eine Amerikanerin, die zuletzt das London Film Festival leitete, kurz vor dem Start der Berlinale, begleitet nun seine letzte Ausgabe. In den letzten fünf Jahren lief also einiges nicht rund, nun hoffen alle auf ein zumindest würdevolles Ende der Ära Chatrian, der das schwere, lange Erbe von Dieter Kosslick angetreten war.
Natürlich machen weniger Filme die Planung des Festivalbesuchs einfacher, aber zum Einen sind 200 Filme immer noch eine Menge Filme für zehn Festivaltage, zum Anderen stürzen sich die gleichen Massen an Pressevertreter*innen und Publikum auf viel weniger Tickets. Ausverkaufte Säle sind toll für das Festival, doch auch für Bericht erstattende Pressevertreter*innen heißt es dann häufig – keine Tickets, auch kein Pressekontingent, mehr vorrätig. Das gilt glücklicherweise nicht für die expliziten Pressevorführungen. Also heißt es erstmal, sich dort mit Filmen einzudecken, und zwar vor allem in der Sektion des Wettbewerbs, die traditionell im großen Berlinale Palast gezeigt wird.
Zum Beispiel gleich am ersten Tag, am Donnerstagabend bei „La Cocina“, dem Wettbewerbsbeitrag von Alonso Ruizpalacios. Ein Schwarzweissfilm, in dem eine hektische Kamera auf den ebenso hektischen Betrieb in der Küche des New Yorker Restaurants „The Grill“ blickt. Hier treffen US-Amerikaner*innen auf viele Spanisch sprechende Migrant*innen mit und ohne Papiere. Die Hierarchie ist klar, und wo nicht, wird sie mal mit Humor, mal mit üblen Sprüchen und manchmal auch handgreiflich ausgefochten. Neu ist hier eine junge Frau, die kein Wort englisch spricht. Sie ist eine Bekannte von Pedro, ein Großmaul, das hier seit zwei Jahren auf die Green Card hofft und unsterblich in die us-amerikanische Kellnerin Julia verliebt ist, die nach einer heftigen Liebelei schwanger von ihm ist und das Kind abtreiben möchte. Die Kameraarbeit zieht einen in das hektische Treiben, emotional bleibt man etwas außen vor in diesem multikulturellen Ensemble, in dem kaum jemand wirklich sympathisch ist. Zum Ende wird dann noch recht plakativ eine poetische Message rausgehauen.
Der Freitag beginnt wieder mit dem Wettbewerb, diesmal steht „My favourite Cake“ auf dem Programm. Der iranische Film hatte vorher schon einige Aufmerksamkeit, weil das iranische Regime die Reisepässe der Filmemacher*innen Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha konfisziert und ein Reiseverbot verhängt hat, wie schon bei Jafar Panahi im Jahr 2011 als Jurymitglied, für den Dieter Kosslick seinerzeit repräsentativ einen leeren Stuhl aufstellte.
Warum auch „My favourite Cake“ zu einem Reiseverbot der Filmemacher*innen führte (die beiden Hauptdarsteller*innen Lily Farhadpourn und Esmail Mehrabi durften zum Festival reisen), ist schnell klar: Kritik am Regime gibt es reichlich, eine Szene zeigt die sogenannte Sittenpolizei, wie sie versucht, ein junges Mädchen zu verhaften – die 70-jährige Protagonistin Mahin stellt sich erfolgreich dagegen. Mahin erlebt in ihrem Alltag ansonsten nicht viel: Telefonate mit ihrer im Ausland lebenden Tochter und dem Enkelkind sind ein Höhepunkt und ganz selten kommen ihre weit verstreuten Freundinnen vorbei. Dann redet man über Krankheiten und die leider oder glücklicherweise fehlenden Männer. Inspiriert von einer dieser Freundinnen, macht Mahin kurz darauf die Bekanntschaft mit dem gleichaltrigen Esmail und es kommt zu einem ungewöhnlichen Abend zu zweit.
Ein unspektakulärer Film, der zudem ohne Spannungsbogen auskommt. Vor dem politischen Hintergrund des Alltags im Iran entfaltet „My favourite Cake“ natürlich eine ganz andere Radikalität, als man dem unscheinbaren Film zunächst ansehen kann.
„A different Man“ von Aron Schimberg ist da schon wesentlich offensichtlicher in seiner Radikalität. Der Film erzählt die Geschichte von Edward, der an einer seltenen Gesichtsdeformation erkrankt ist und ein stark entstelltes Gesicht hat. Er sagt, er ist Schauspieler, aber eigentlich hat er bislang nur an einem Spot für mehr Sensibilität gegenüber Menschen mit derlei Behinderungen am Arbeitsplatz mitgespielt. Edward lebt in einer billigen Wohnung, die jedoch sein Refugium ist, sein Safe Space vor den neugierigen, mitleidigen, spöttischen Blicken seiner Mitmenschen. Als ein Experiment Heilung verspricht, nimmt er an dem Versuch teil. Und tatsächlich bilden sich seine Verformungen am Kopf zurück. Nun scheinen Edward alle Türen zu einem normalen Leben offenzustehen, auch zu seiner heimlichen Liebe zu der neuen Nachbarin. Aber die erkennt ihn nicht mehr, und auch sonst scheint sein Leben nun gar nicht zu funktionieren, wie er es erwartet hatte.
Edward wird von dem Hollywood-Beau Sebastian Stan gespielt, während die Figur des Oswald, der ebenfalls an einer Gesichtsdeformation erkrankt ist, von Adam Pearson dargestellt wird, der tatsächlich an einer solchen Krankheit leider. Es ist nicht unwichtig, die Hintergründe dieser Besetzung zu kennen. Denn sowohl Oswald, als auch Alex Pearson, der ihn verkörpert, scheinen im Gegensatz zu Edward mit ihrem Schicksal gut klar zu kommen.
Schimberg realisiert seinen Film mit einer Anmutung eines B-Movies inklusive Splattereffekten, und ohne die Beteiligung von Adam Pearson und dem Regisseur, der selber mit einer beidseitigen Gaumenspalte geboren wurde, könnte man das Ganze als Exploitation abwerten. So hingegen ist es eine sehr selbstbestimmte Reflexion über das eigene Schicksal einer solchen Erkrankung und des eigenen Umgangs damit.
Ganz unaufgeregt und leicht kommt „Hors du Temps“ von Olivier Assayas um die Ecke. Der vielleicht letzte Pandemie-Film ist sehr autobiografisch angelegt und erzählt davon, wie zwei Brüder im idyllischen Landhaus der verstorbenen Eltern, in dem sie groß geworden sind, gemeinsam mit ihren Freundinnen den Lockdown erleben. Mit vielen philosophischen, literarischen und musikalischen Exkursen angereichert, geht es um den Stillstand während des ersten Lockdowns, das Innehalten, die neu gewonnene Muße, aber auch die Angst vor der Überforderung und die Reflexion auf den sonst für Reflexionen zu schnelllebigen Alltag. Ein schöner, sommerlicher Film.
Dem folgte als Betthupferl am zweiten Festivaltag eine erste große Enttäuschung. Julia von Heinz’ („Und morgen die ganze Welt“) „Treasure“ erste internationale Produktion mit Stephen Fry und Lena Dunham in einer der Hauptrollen, erzählt von einer New Yorker Frau Mitte 30, die nach dem Tod der Mutter gemeinsam mit dem Vater nach Polen reist, um die von der Shoah geprägte Familiengeschichte zu erkunden. Der Film spielt im Jahr 1991 und wirkt genau so alt. Sowohl die Story als auch ihre Umsetzung erfüllen keinerlei Wunsch nach neuen Perspektiven auf Geschichte.
Ein Genrefilm, ein Science Fiction im Wettbewerb! „Another End“ von Piero Messina erzählt von einer Zukunft, in der es einem die Technik – und psychologische Effekte – ermöglichen, sich auch nach dem plötzlichen Tod von Angehörigen noch einmal von ihnen zu Verabschieden. Sals (Gael García Bernal) Frau ist bei einem Autounfall gestorben. Seine Schwester Ede (Bérénice Bejo), die in der Institution arbeitet, die diese neue Technik ermöglicht, kann sein Leiden nicht länger mitansehen und überredet ihn zu dem Programm. Dabei wird eine lebende Person (Renate Reinsve) mit den Erinnerungen der Verstorbenen ‚gefüttert‘, so dass sie als körperlicher Host denkt, sie sei die verstorbene Person.
Vom ‚eigenen‘ Tod weiss die Person aber natürlich nichts. Sal wiederum erkennt durch die entsprechenden psychologischen Effekte (man sieht, was man glaubt zu sehen bzw. sehen will) trotz des anderen Körpers in dem Host seine Frau. Nach mehreren ‚Sitzungen’ muss das Programm enden, da sonst der Host durch die Überpräsenz der anderen, toten Person, psychologisch Schaden nehmen würde. Doch Sal will das nicht akzeptieren und sucht die anonyme Frau, die als Host seiner Frau engagiert war. Messina inszeniert seinen Film konsequent in tiefer, grauer Melancholie, die eine große Einsamkeit und latente Verzweiflung transportiert, wie man sie aktuell auch in dem Kinofilm „All of us Strangers“ erfahren kann. Die ästhetische Konsequenz erzeugt eine beinahe monolithische Wirkung, die einen sehr in diese emotionale Zukunft hineinzieht.
Noch ein Science Fiction im Wettbewerb, aber der Kontrast zu „Another End“ könnte kaum größer sein:
„L’èmpire“ („Empire“) ist der neue Film von Bruno Dumont („France“). Wie die meisten seiner Arbeiten ist auch sein neuer Film in seiner Heimatregion in einem bretonischen Dorf angesiedelt und zum Teil mit Laiendarsteller*innen besetzt, zum Teil aber auch mit französischen Stars wie Fabrice Lucini. Dass es in diesem unscheinbaren Küstendorf um den Endkampf zwischen Gut und Böse geht, würde man kaum vermuten. Tatsächlich wurde hier aber ein Baby geboren, dass den finalen Kampf der „Einser“ und „Nuller“ um die Menschheit auslöst.
Die Guten haben Raumschiffe wie gotische Kathedralen, die der Bösen sehen aus wie Versailles. Das Ganze ist eine Mischung aus Dumonts durchgeknallten Serien „Kind Kind“ oder „Quak Quak“ mit Star Wars – also Lo Budget-Irrsinn trifft Dank eines 8 Millionen-Budgets auf Blockbuster-High Tech. Eine überraschende Groteske auf sämtliche Schwarz-Weiss-Kategorien. Der Film hat sogar schon einen deutschen Verleiher gefunden.
„Sterben“ – und das 180 Minuten lang! Keine kleine Ansage von Matthias Glasner, und auch die Darstellerriege mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Ronald Zehrfeld, Lilith Stangenfeld und Robert Gwisdek will Größe suggerieren. Das Projekt, das als intimes, autobiografisches Schreiben des Regisseurs nach dem Tod seiner Eltern begann, wurde Dank diesen Stars und dem damit akquirierten Budget dann zum zu großen Film, der seine Geschichte nur in Teilen auch trägt. Eidingers Tom erzählt von Sprachlosigkeit in der Familie, künstlerischer Arbeit und biologischer Reproduktion in mitunter intensiven Szenen ein. Doch ganze Handlungsstränge und Figuren des überlangen Films hätte ein gewissenhafter Produzent herausstreichen sollen, da der thematische Fokus als auch die Tonalität bis zur blutigen und vollgekotzten Albernheit entgleitet und die ansonsten in dem Film platzierten Themen in ihrer Ernsthaftigkeit torpedieren.
Bei so viel wankelmütiger Qualität im Wettbewerb – schauen wir doch mal in die anderen Sektionen: Die schweizerisch-rumänische Produktion „Săptămâna Mare“ („Holy Week“) von Andrei Cohn läuft in der Sektion „Forum“ und spielt 1905 zur Osterzeit in Rumänien auf dem Land. Wir sehen eine Art Gasthof, betrieben von einer jüdischen Familie. Der Streit mit einem Mitarbeiter eskaliert, als der Gehilfe in Wut droht, er würde die Familie während des Osterfestes töten. Mit ihrer Sorge findet die Familie kein Gehör bei den Mitmenschen, auch nicht bei der Polizei. Der Konflikt schürt die Vorbehalte gegenüber den Juden, die Vorbereitungen für das christliche Osterfest tun ihr Übriges, um den Konflikt anschwellen zu lassen, bis das jüdische Familienoberhaupt eine fatale Entscheidung trifft.
„Holy Week“ ist nicht der einzige Film des Festivals, der in präzisem Naturalismus das Leben vergangener Tage einfängt. Hier geschieht es mit erzählerischer Konzentration und filmischer Zurückhaltung, die dazu führt, dass der Konflikt und die Hilflosigkeit der jüdischen Familie auf der Leinwand sehr präsent ist. Die Tatsache, dass hier ein Jude nicht nur als Opfer, sondern in Folge der Bedrohung, fehlender Solidarisierung und Ausgrenzung auch als Täter erscheint, hat auf dem Festival für einigen Diskussionsstoff gesorgt.
„Sasquatch Sunset“, der in der nicht genauer definierten Sektion „Berlinale Special“ läuft, geht noch dichter an die Natur heran: Die Zellner-Brüder Nathan und David („Kid-Thing“) haben gemeinsam mit Jesse Eisenberg dieses ungewöhnliche Familienporträt realisiert. Eisenberg spielt auch eine der vier Hauptrollen, ist aber kaum zu erkennen, da er wie auch die drei anderen Darsteller*innen, darunter Riley Keough, unter ihrer Ganzkörpermaske eines Sasquatch – das ist die Kanadische Bezeichnung des Fabelwesens Bigfoot, also eine nordamerikanische Version eines Yetis – verschwinden. Eine Naturmeditation, die zwischen Schönheit, Tragik, Brutalität und Komik changiert und die Zuschauer*innen auf einen sehr ungewöhnlichen Trip mitnimmt.
Kurz vor der Festivalhalbzeit kommt mit „Langue Étrangère“ von Claire Burger noch ein Wettbewerbs-Highlight. Ein wie man so sagt ‚kleiner‘ Film, der ohne Spektakulären Aufhänger von einem deutsch-französischen Schülerinnenaustausch erzählt. Die Eine ist ein schüchternes Mobbingopfer aus Straßburg, die andere eine politisch aktive Leipzigerin. Sie kommen sich nach anfänglichen Schwierigkeiten doch näher, nicht zuletzt durch ihr gemeinsames Erleben der gescheiterten und verlogenen Elterngeneration. Eine zarte, queere Coming of Age-Geschichte. Die beiden Mütter werden von Nina Hoss und Chiara Mastroianni gespielt, die beiden Mädchen mit ihrem jeweiligen inneren Wandel ganz hervorragend von Lilith Grasmug und der Debütantin Josefa Heinsius.
Christian Meyer-Pröpstl