„Talking to NRW“ – Doris & Irmgard

Doris: „Wir sind zwei aufsässige Alte“

Irmgard (li) und Doris (re)                                                                  Photo: Frederike Wetzels für “Talking to NRW”


Doris und Irmgard begegnen uns im Kölner Stadtgarten – obwohl, eigentlich begegnen uns zu erst ihre beiden Hunde, die jegliche Corona-Auflage ignorieren in ihrem aufgeregten Spiel-Habitus. Die idealen Icebreaker für unser Gesprächsanliegen. Wobei man Doris sowieso nicht groß bitten muss, sie teilt gerne ihre Ansichten mit anderen Menschen.

 

Wie haben Sie das gesagt? Sie sind zwei?

Doris: Was hab ich gesagt? Wir sind zwei aufsässige Alte – wir sind nicht wie andere. Wir sind einfach anders. Mein Sohn sagt immer: „Mama, es liegt nicht an den Anderen, es liegt an uns.“ Weil wir sagen, was wir denken. Sofort gerade raus, nicht hinter dem Rücken.

Das reicht heutzutage schon, dass man aneckt?

Doris: Die Leute sind ja alle so verklemmt. Wir hauen es raus. (schaut ihr Freundin an) Du weniger, ich mehr. (lacht laut)

Und was hauen Sie da raus?

Doris: Alles. Was mir nicht gefällt, das sage ich sofort. Ich kann zu meinem Nachbarn sagen: „Das gefällt mir nicht“ – wenn ich etwas unschön finde. Das habe ich aber gelernt, erst mit 60.

Erst mit 60? Davor ging das nicht?

Doris: Ne, meine Generation ist ja die unterdrückte, die hat ja immer schnell gehört, was der Mann gesagt hat – waren ja andere Zeiten. Wir wurden ja nicht selbstständig erzogen. Und mit 60 war ich zur Kur und habe eine ganz tolle Therapeutin kennengelernt – als ich dann nach Hause gekommen bin, habe ich gesagt: „Jetzt wird alles anders! Jetzt lebe ich mein Leben!“ 
Und fünf Jahre später habe ich gedacht – ich bin aus dem Emsland, Entwicklungsland –, jetzt gehe ich nach Köln, ich will im Cafe sitzen, ich will mich unterhalten. Und dann bin ich abgehauen.

Damals haben Sie sich auch beruflich verändert?

Doris: Ich bin Rentnerin. Ich hab mit 65 mein Geschäft zugemacht und bin nach Köln gegangen und find das ganz toll hier. Erst habe ich geweint – ich habe diese alten Hochhäuser gesehen, fünf Stockwerke, schmutzig, sind ja alles, ne, Arbeiterhäuser. Ich hab zu meinem Sohn gesagt: „Ich kann hier nicht wohnen!“ – und der hat sofort gesagt, der war in Bonn: „Mama, geh nach Köln, das ist die richtige Stadt für dich.“ Nach einem halben Jahr, ich werd es nie vergessen, ich komm über die Deutzer Brücke mit dem Zug, da hab ich gesagt: „Wir sind Zuhause.“ Heute stört mich kein altes Haus mehr, heute finde ich das toll. Ich find das toll, wenn die Leute abends draußen sitzen und sich unterhalten. Ich meckere auch nicht über die jungen Leuten, dann muss ich nach Melaten ziehen. Ich bin schlimm, ne? (alle lachen)

Photo: Frederike Wetzels

Sie haben sich in Köln kennengelernt?

Doris: Ja, wir leben in einem Haus – und dann haben wir bemerkt: das passt. Sie nimmt alle meine Fehler so auf sich.

Irmgard: Ich kann mich nicht wehren.

Wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?

Doris: Ich heiße Doris – und das ist Irmgard.

Wie alt sind Sie?

Doris: Ich werde jetzt 78.

Nicht wirklich.

Irmgard: Und ich bin 81.

Doris: Aber wir sind die flottesten Alten im Haus.

Absolut. Meine Mutter ist leider mit 76 nicht so fit.

Irmgard: Es liegt an einem, aber es gelingt einem auch nicht immer.

Doris: Es ist auch eine Lebenseinstellung. Aber ich glaub, ich käme mit meinen Kindern auch nicht gut zu recht.

Was heißt das?

Doris: Die würden mir was ganz anderes sagen. Mein Sohn, mein Jüngster, der würde mir was ganz anderes sagen, wenn ich so ne alte Hexe wäre. Das geht nicht, das finde ich ganz schlimm. Wir sitzen im Sommer auf dem Balkon, ein Fläschen Wein, und sagen: „Was geht es uns gut, was ist die Welt schön.“ Ne, wir meckern auch nicht, wenn da junge Leute sitzen. Jetzt ist ja im Belgischen Viertel der Bebauungsplan geändert, die Gaststätten sollen zu machen – können Sie mal sagen warum? Wer da nicht wohnen will, wem es zu laut ist, der soll Richtung Melaten ziehen, da haben sie ruhige Nachbarn. Ich wohne zur Straße hin, ich finde es toll, wenn die Menschen vorbeilaufen, ich find es toll, wenn da gelacht wird.

Irmgard: Man kann jung bleiben, wenn man sich bemüht.

Doris: Am Brüsseler Platz stand ein junger Mann, da habe ich gesagt: „Was riecht denn hier so komisch?“ Da sagt er, „Kennen sie kein Gras? Ne, wollen sie mal probieren?“ (beide lachen) Die haben sich so gefreut, dass ich als alte Frau …

Und wie war es?

Doris: Nix Besonderes. Aber ich muss ihnen sagen: ich hab Rückenschmerzen, es hat gut geholfen.

Das stimmt, es ist ein gutes Heilmittel.
Sie gehen immer mit den Hunden gemeinsam raus?

Doris: Ja, wir wohnen in einem Flur und dann wird geschrieben: „Hast du Lust? Wo wollen wir hin gehen?“ Die Hunde wollen ja viel raus.

Das hält auch fit.

Doris: Man muss nicht alleine laufen. Und wir haben uns immer was zu erzählen.
Irmgard: Wenn man Zuhause sitzt, wird man alt – man wird automatisch alt. Man sitzt im Sessel und grübelt und hat keine Freunde und keine Kontakte; Kontakte sind wichtig.
Doris: Wir reißen die Leute mit, die noch so einigermaßen fit sind.

Das mit den Kontakten ist jetzt ja für viele schwieriger geworden. Das ist dankbar, dass sie so nah beieinander wohnen.

Irmgard: Wir haben uns im Haus kennengelernt.

Doris: Ich bin sowieso gesprächig.

Darf ich fragen, was für einen Laden Sie früher gehabt haben?

Doris: Ein Brautmodengeschäft. Ich hab ganz viel gemacht, weil ich neugierig war. Ich hatte einen ganz großen Kiosk im Emsland. Dann hab ich ein Restaurant eröffnet, dann hab ich ein Brautmodengeschäft eröffnet. Ich fand das interessant mich da einzuarbeiten. Und ich muss sagen: Ich verkaufe auch gerne – ich kann von morgens bis abends stehen und ich kann erzählen. Ich verkauf Ihnen auch einen Wasserkessel mit Loch. (lacht)

Bei Brautmoden erlebt man bestimmt tolle Geschichten. Diese Momente kurz vor einer Hochzeit…

Doris: Das ist ja noch nicht mal das. Sie erleben ganz viel, gerade auf dem Land. Ich hab immer gesagt als ich das Geschäft hatte: „Ich glaub ich schreib ein Buch!“ – ich hab noch nie soviel erlebt wie in dem Geschäft.


Was war das Verrückteste?

Doris: Dass ich geheiratet habe, war das Verrückteste.

Durch den Laden?

Doris: Ne, vorher schon – viel zu jung geheiratet.

Und verheiratet geblieben?

Doris: Ja. Ich bin jetzt Witwe.

Irmgard: Das war früher üblich. ich war 57 Jahre verheiratet. Lange ne?

Ja, sehr lange.

Irmgard: Das glaubt einem gar keiner.

Doris  (Photo: Frederike Wetzels)

Was haben Sie früher beruflich gemacht?

Irmgard: Gar nichts, ich war nur Hausfrau.

Doris: Ne, das musst du nicht sagen: „Nur Hausfrau“. ich muss sagen, wenn ich morgens arbeiten gegangen bin und abends nach Hause gekommen bin, und mein Abendessen stand auf dem Tisch, dann fand ich das ganz toll. Hausfrau, Kinder, Kochen, Weihnachten rennen, Ostern – nein, eine Hausfrau hat viel viel mehr zu tun, das ist schon ein kleines Unternehmen.

Irmgard: Das sieht man heute anders, aber ich habe es auch so gesehen. Ich habe meinem Mann den Rücken frei gehalten, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber es ging, wunderbar. Man hatte aber auch nicht die Ansprüche, die man heute hat.

Heute muss man aber auch sehr oft sehr viel mehr verdienen, heute brauchen Paare oft zwei Einkommen um sich eine Wohnung leisten zu können.

Irmgard: Das ist richtig.

Doris: Das war die FDP, die gesagt hat: „Emanzipation heißt, wenn die Frau arbeiten geht.“ Für mich heißt Emanzipation, dass ich Zuhause das Sagen habe – die Hälfte. Aber nicht, dass ich arbeiten muss. Ne, ne, ne. Das war die FDP und heute haben wir das Elend. Wir haben eine ganz schlechte Regierung.

In Köln?

Doris: Nein, allgemein, die Bundesregierung. Am schlimmsten ist eigentlich die CDU.

Weil?

Irmgard: Wenn du das alles veröffentlichst, ruft dich kein Mensch mehr an. Um Gottes Willen.

Doris: Unser Spahn ist der korrupteste Politiker, den wir haben. Der ist 40 Jahre – fragen Sie ihn mal, wo er die Millionen her hat. Ich muss sagen: wir haben eine ganz schlechte Regierung, wir haben da nur Lehrer, Rechtsanwälte – da gehören Unternehmer wie Rossmann rein, die wissen, wie es in der Wirtschaft geht. Und ein bisschen retten können wir vielleicht noch, wenn Söder Kanzler wird und Merz geht in die Wirtschaft.

Oh, Merz?

Doris: Doch, der Merz, der kann doch was. Ich will ihn doch nicht heiraten, als Wirtschaftsexperte kann der doch was.
Ein Mann ohne Herz.

Irmgard: Das ist ein Sauerländer, die Sauerländer sind anders.

Doris: Ich will ihn doch nicht heiraten. Ich weiß nicht, ob der Mann ohne Herz ist, das weiß ich nicht. Der weiß ganz genau, was er will.

Das stimmt wohl.

Doris: Und nur so einer kann Deutschland voranbringen, kein Laschet.

Ich hoffe, es gibt noch was dazwischen.

Doris: Ach, wen denn? Sagen Sie mir einen! Die FDP, da kennen sie eigentlich nur Lindner, der ist immer im Vordergrund und meckert. Vorschläge macht der nicht. Eigentlich ist es meine Partei.

Ich komme ja aus Baden-Württemberg, wo Kretschmann gestern wieder gewählt wurde.

Doris: Und was macht der Kretschmann im Umweltschutz? Das wenigste. Gucken Sie mal auf die Prozentzahlen! Das wenigste.

Da hat er sich leider das CDU Klientel mit geholt.

Doris: Der könnte besser ein CDUler sein.

Er ist nah dran.

Irmgard: Er ist schon sehr geläutert, ich finde auch, er war früher…

Doris: Und wissen Sie, was mich so stört? Früher ist man auf die Straße gegangen und hat demonstriert. Heute ist das junge Volk so satt, die werden ja alle von den Eltern unterstützt. Die müssen gar nicht mehr demonstrieren, die nehmen alles so hin. Wissen Sie, die stehen an der Post, 20 Leute vor ihnen – dann sag ich: „Hallo, ich steh hier wie für die Butter nach dem Krieg, wollen Sie nicht mal noch einen Schalter aufmachen?“ Da stehen jungen Leute, so ein langes Gesicht, treu wie in der DDR, da könnte ich wahnsinnig werden. Es ist egal, ob sie zu Rewe oder Aldi gehen, da stehen die Leute immer in der Schlange. Das kann doch nicht sein, der Aldi will doch mein Geld haben. Das kann doch nicht sein, dass ich da steh als müsste ich betteln. Ne, hier in Deutschland ist vieles vieles nicht in Ordnung.

Sie erwähnten ihre Kinder. Wieviele haben Sie denn?

Doris: Zwei Jungs.

Irmgard: Ich auch zwei, Mädchen.

Wie alt sind die jetzt?

Irmgard: Meine sind 61 und fast 55.

Leben die auch in Köln?

Irmgard: Eine lebt in Köln, die andere nicht.

Wie war das in diesem Jahr mit dem Kontakt halten?

Doris: Ich habe meinen jüngsten Sohn 16 Monate nicht gesehen. Nur von weitem. Der kommt, bringt mir was ins Treppenhaus und ist dann wieder weg. Früher haben wir zusammen einmal in der Woche gekocht und was unternommen, das ist jetzt nicht mehr. Darum bin ich auch jetzt so enttäuscht. Da kommt mir eine Lehrerin entgegen und sagt: „Ich bin 62 und geimpft“ – da sage ich, „und wo bleiben die Alten?“
Irmgard: Ich bin geimpft.

Photo: Frederike Wetzels

Sie sind geimpft?

Irmgard: Ja.

Doris: Wo bleiben die Alten? Nein! Da hat der Spahn total versagt. Der müsste schon längst zurück getreten sein.

Das stimmt.

Doris: Das hätte ich besser gemacht, das kann ich Ihnen sagen.

Irmgard: Das glaub ich sofort.

Sie sind jetzt ganz aktuell geimpft worden?

Irmgard: Ja.

Waren Sie nervös davor?

Irmgard: Gar nicht. Überhaupt nicht, man ist abgeklärt in dem Alter. Man freut sich, dass man dran ist.

Es hat alles gut geklappt?

Irmgard: Ja. Ich bin froh, dass ich meine Kinder jetzt wieder treffen kann. Wir haben uns auch nicht gesehen.

Und wo?

Irmgard: Hier in Köln, in Deutz, das hat wunderbar geklappt. Da muss ich die Stadt loben, das hat sie wirklich gut hingekriegt, zumindest bei den ersten, wie es jetzt ist…

Auch positiv mit angeschrieben werden, Termin bekommen?

Irmgard: Alles. Die bieten den alten Leuten sogar ein Taxi an. Die Organisation fand ich sehr in Ordnung. Und auch sehr höfliche Menschen. Ich lob die Stadt nicht oft, aber in dem Fall muss schon mal ein Lob kommen. Ich kann mich da nicht beklagen.

Doris: Na, diese Untätigkeit hier. Da finden Sie auf jeder Straße zehn Hundehaufen. Gehen Sie nach Spanien auf die Insel, da kostet ein Hundehaufen 1500€ – und die holen sich das. Da sehen sie keine Hundekacke auf dem Bürgersteig. Hier müssen Sie abends gucken, wo die Tretmienen liegen. Das wäre ganz schnell zu ändern. Da regt sich die Stadt auf: Umwelt! Aber wir haben überall die Plastiktüten hängen. Die gibt es auch schon kompostierbar, warum haben wir die nicht. Wir zahlen weit über 100 Euro Hundesteuern, ich glaube 160, 170. Warum haben wir Plastiktüten da hängen? Meine Hunde machen zweimal am Tag ein Geschäft, das sind vier Tüten. Am Tag! Das sind 120 Tüten im Monat. Da denkt keiner drüber nach.

Irmgard: Du wärst eine gute Politikerin geworden. Sie könnte noch immer in die Politik gehen.

Doris: Nein. Nein. Nein.

Irmgard: Den Biss, den sie hat.

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„Talking to NRW“ ist ein Projekt der Kölner Photographin Frederike Wetzels und des Autors und Kaput-Co-Verlegers Thomas Venker.
Die Intention des Projektes ist es, sich jenen Menschen zu nähern, die sonst oft nur im Augenwinkel wahrgenommen werden. Statt dem peripheren Teilen der Lebenswirklichkeit verbinden einen plötzlich echte Begegnung mit diesen Menschen, man tauscht sich aus, lernt sich richtig kennen – und wird so neugierig auf die Geschichten, die sie in sich tragen.  Bislang beschränken sich die Interviews und Shootings auf Köln und Düsseldorf, angedacht sind aber weitere Exkursionen durch NRW in Städte wie Aachen, Essen, Dortmund, Münster, Paderborn, Bielefeld, Duisburg und Solingen, um aus den Leben der Menschen dort mehr zu erfahren – und diese in einem Buch zu kompilieren.
„Talking to NRW“ ist gefördert mit einem Stipendium im Rahmen der Corona Soforthilfe des Bundes, da aber leider weitere Förderanträge bei der Kunststiftung NRW und beim Kulturamt der Stadt Köln sich bislang nicht positiv ausgingen, sind wir derzeit über jegliche Unterstützung zur Fortführung des Projekts sehr dankbar:
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