Punker im Gespräch mit der Gesellschaft

“Grundeinkommen, Mietstreik, Enteignen und so” – Das Kotzreiz-Interview

Wer seine Band Kotzreiz nennt, plant vermutlich nicht unbedingt eine Karriere als Tanzband oder einen Auftritt beim Kanzleramtsfest. Auch wenn dort Übergeben sicher auch immer mal Thema sein dürfte.
Kotzreiz sind eine jener Punkbands, die das Anderssein, das Kaputte, das Non-Konforme schon in ihren Namen eingeschrieben haben. Dass die drei Typen aus Berlin in Wahrheit natürlich “richtig gute Jungs” sind, ahnt man spätestens, wenn man ihre Musik hört. Hinter dem eingedroschenen Tätütata strahlt viel Empathie. Songs über Friends, Love und dass man seinen Hund gern hat. Kotzreiz sind überdies tätowiert wie bekloppt. Linus Volkmann hat mit ihnen über die neue Platte gesprochen – genauso wie über die Unmöglichkeit, diese wegen Corona überhaupt aufzuführen.

Eure Platte “Nüchtern Unerträglich” ist Ende März erschienen. Könnt ihr euch eigentlich einen noch ungünstigeren VÖ-Termin vorstellen – außer dem letzten Jahr des zweiten Weltkriegs vielleicht?
CHRIS KOTZE KOHL Einerseits war das natürlich ziemlich beschissen in jeglicher Hinsicht.Wir mussten die Tour zur Platte absagen bzw verschieben. Wir haben jetzt hier 300 Kotzreiz-Shirts und 200 Platten/CDs zu Hause rumliegen, die natürlich auch irgendwie mal bezahlt werden wollen und müssen. Neben der finanziellen Sache kommt ja auch noch dazu, dass wir uns alle schon total auf die Tour mit den Pestpocken und den anderen Bands gefreut hatten! Küsschen an dieser Stelle auch an The Melmacs, Bei Bedarf, FuckNullEuro und Missbrauch.
Auf Tour gehen und jeden Tag mit anderen Leuten abhängen mit den man meistens menschlich, politisch, trinkerisch oder sonst wie, auf einer Wellenlänge ist, ist mit das Coolste, was Mensch machen kann im Leben. Andererseits war und ist das Leben fast aller Menschen grade so ziemlich auf das Internet beschränkt, was der Veröffentlichung einer neuen Platte vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit einbringt, als es das unter normalen Umständen getan hätte. Was auch immer “normale Umstände” sind…

Wie geht ihr damit um? Was denkt man sich aus, wenn Bühne nicht geht – und im Netz alles sehr monothematisch hinsichtlich des Virus‘ abläuft?
Wir hatten gestern unser erstes Online-Live-Stream-Konzert. Mit Vizediktator im Cassiopeia in Berlin. Da hätten wir gestern auch normalerweise gespielt und wir gehen privat, seit wir in Berlin wohnen, in den Laden. Die von den Zuschauern gespendeten Einnahmen gingen komplett ans Cassiopeia und die Mitarbeiterinnen, die Iuventa10 (Lebensretter auf See) und die Berliner Obdachlosenhilfe e.v.!
Das Cassiopeia is nicht nur ein Punkerladen, es gibt auch Reggea und HipHop-Parties, eine Skatehalle, irgend so ein Kletterding, Biergarten, Open-Air-Kino usw. Quasi für jeden was dabei. Bunt und vielfältig. Unterstützenswert! Genau wie tausende andere Läden überall. Natürlich kann man jetzt nicht jeden Tag beim Online-Live-Stream-Konzert sein hart verdientes Taschengeld spenden… aber warum eigentlich nicht?! Ohne Orte, wo man sein Geld ausgeben, seine Freizeit oder Arbeitszeit mit Freunden verbringen kann, macht Geld besitzen auch keinen Spaß!

Findet ihr aber auch positive Aspekte in der aktuellen Situation? Ich biete mal einen an: Im Song „Nüchtern unerträglich“ geht es darum, dass man beim Gassi gehen mit dem Hund oft über die Scherben der Party People stolpert. Das dürfte dieser Tage doch sehr viel entspannter sein?
Der positive Aspekt an der ganzen Scheiße ist vielleicht, dass dieser solidarische Gedanke jetzt auch jenseits der linken Punk/hardcore/techno/subkultur Szene mal etwas mehr Gehör findet. Also Spenden und so weiter.
Nicht auf irgendeinen Staat verlassen, lieber selber drum kümmern! Mietstreik, Grundeinkommen und so weiter. Wenn Mensch den Kapitalismus vielleicht nochmal überdenken sollte, dann jetzt. Aber ich bin kein Geschichtslehrer, ich hab keine Ahnung.

Kotzreiz sind ja als Street-Punk-Band ästhetisch ein eher hermetisches Modell – wie wohl fühlt ihr euch im zehnten Jahr mit dieser selbstgewählten Limitierung?
Wir waren ja schon immer bisschen anders als die anderen, etwas älteren, kultigen, respektierten Deutschpunkbands… Nicht besser oder schlechter. Andere Frisuren, andere Zweitbands und so.
Einige fanden uns schon immer scheiße und andere finden uns ganz okay. Eine Limitierung klingt sehr negativ und mit Kotzreiz verbinden wir eigentlich nur Positives. Sonst würden wir es nicht machen.

Und wo durchbrecht ihr sie auch (bewusst) mit der neuen Platte? (ZB „Toilettenstern“)
Wir hatten auch auf den alten Platten schon immer mal irgendein elektronischen Quatsch und wollten  mal ein komplettes Lied so aufnehmen. Wir hören ja auch privat nicht NUR Ufta-ufta-Punk. So wie die neue Kotzreiz-Platte klingt, so sind wir auch im echten Leben.

Wie steht ihr zu den unweigerlichen 2:1 Streits in einer three-piece-Band? Das Cover zeigt ja genauso eine Situation. (siehe YouTube-Clip unten)
Wir können uns gut streiten, aber wir können uns auch gut unterhalten und im besten Falle vertragen!

“Punkboys don’t cry” erzählt von Ablösung. Die engsten Freunde tauschen die hysterische Clique für Job oder Familie und man bleibt allein zurück an der Bar. Wie nah ist euch dieser Song?
Kennt doch jeder Mensch, der mal jugendlich war. Menschen kommen und gehen – und nur die wenigsten bleiben für immer. Ein Lied über Freundschaft. Aber wenn jemand den Text falsch verstehen möchte, kann das Lied auch gegen Liebeskummer benutzt werden.

Und wie geht es weiter mit Kotzreiz 2020? Das hundertste Stay-at-Home-Video für die Timelines in Planung? Oder alles auf die verschobene Tour setzen?
Keine Ahnung. Wer weiß schon, wann es wieder losgehen kann mit wilder Feierei und schwitzigen Live-Konzerten mit Publikum. Und vor allem WO solche Veranstaltungen dann stattfinden… “Punk is support, not competition” hab ich letztens gelesen , und ich hoffe, dass es stimmt. Die Tour mit den Pestpocken ist jedenfalls auf Januar und Februar 2021 verlegt worden. Es bleibt spannend.

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